Staat und Kanon: Wie wir zu lesen haben
In Deutschland und der Türkei stehen zwei Bücher zur Diskussion, oder besser: wie wir sie lesen sollen. Dabei ist das von unserem Erlebten geprägt.
J edes Mal, wenn ich in der U-Bahn oder im Wartezimmer einer Arztpraxis jemanden in einen aufgeschlagenen Roman vertieft sehe, spüre ich ein leichtes Kribbeln und packe beschämt mein Smartphone weg. Es ist eine Art Ehrfurcht, als stünde ich vor einem Zeitreisenden, als platzte ich in dessen Tempel und entweihte ihn mit dem Vibrieren des profanen Geräts, das wie eine kantige Verlängerung aus meiner Handfläche ragt. Und es ist ein bisschen Neid auf die Konzentrationsfähigkeit der Lesenden, die nicht erst an den See fahren oder einen freien Tag haben müssen, um sich in Literatur zu versenken.
Romane können Unterhaltung sein, klar, aber sie verlangen uns eine ganz andere Verbindlichkeit ab als das, was uns heute viel eher als Unterhaltung in den Sinn käme. Romane zu lesen erfordert eine Aufmerksamkeit, die für das Bingen einer Serie völlig unnötig wäre. Spätestens am Anfang der nächsten Folge wird mir ohnehin nacherzählt, was mir beim Wäschefalten womöglich entgangen ist. Dafür geben uns Romane in gewisser Weise aber auch mehr: mehr Deutungsmöglichkeiten, mehr Verspieltheit und mehr Raum für das eigene Erlebte, das in der Begegnung mit Romanfiguren und deren Konflikten immer nachhallt.
Insofern ist die Annahme, man könne vorgeben, wie ein Roman zu lesen und verstehen sei, nicht nur falsch, sondern geradezu lächerlich. Das soll kein Affront gegen die Literaturwissenschaft sein, deren Aufgabe ja eher im Auffächern verschiedener Deutungsebenen in bestimmten kulturhistorischen und ästhetischen Kontexten besteht.
Wenn es sich jedoch nicht um Möglichkeiten, sondern um Vorgaben handelt, die auch noch von staatlicher Seite kommen, ist stets äußerste Vorsicht geboten. Denn diese übergestülpte Lesart übergeht nicht nur Gewalterfahrungen eines Teils der Leser_innenschaft, die beim Lesen ebenfalls nachhallen. Sie erzählt uns auch etwas über den Umgang eines Staats mit seinen Minderheiten, wie zwei aktuelle Fälle zeigen.
Zwei Fälle von Anmaßung
So beschloss vor wenigen Wochen ein türkisches Gericht, dass ein vor neun Jahren erschienener Roman („Rüyasi Bölünenler“) des kurdischen Schriftstellers Yavuz Ekinci nicht mehr gedruckt und verbreitet werden darf, weil er angeblich Propaganda für die PKK betreibe. Etwa zur selben Zeit entbrannte hierzulande eine Debatte um Wolfgang Koeppens Nachkriegsroman „Tauben im Gras“ von 1951, weil er trotz rassistischer Sprache und Protest von Schwarzen Lehrer_innen, Schüler_innen sowie Verbündeten in Baden-Württemberg Abi-Pflichtlektüre bleiben soll.
Zugegeben, der eine Fall lässt sich nicht direkt mit dem anderen vergleichen, wird auf der einen Seite doch das emanzipatorische Werk eines Autors von einem autoritären Staat zensiert, auf der anderen Seite die Forderung nach einem rassismuskritischen Pflichtlektüre-Kanon an Schulen abgelehnt und als „Zensur“-Versuch verteufelt.
In beiden Fällen jedoch maßt sich eine staatliche Institution an, bestimmen zu können, wie eine literarische Erzählung zu deuten sei – und in beiden Fällen will sich die Leser_innenschaft ein eigenes Bild davon machen. So verraten Suchmaschinen-Statistiken, dass seit zwei Wochen wie verrückt nach einer PDF-Version von Yavuz Ekincis verbotenem Roman gegoogelt wird. Der Klassiker „Tauben im Gras“ wiederum schoss über Nacht auf die Bestsellerliste von Amazon.
Wie aufregend, dass in einer Zeit, in der angeblich kaum mehr jemand liest, solche Debatten geführt werden. Wie richtig, dass wir anhand von Literatur diskutieren, wie wir uns eine bessere Gesellschaft vorstellen. Natürlich stimmt es, dass ein literarisches Werk immer auch ein Dokument seiner Entstehungszeit ist. Die Behauptung und Verteidigung eines Kanons gegenüber emanzipatorischer Kritik sagt jedoch genauso viel über das Selbstverständnis einer Nation zum jeweiligen Zeitpunkt aus.
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