Sprachprofiler über ihre Arbeit: „Spannend ist das Unbewusste“
Was verrät Sprache über uns? Mit dieser Frage beschäftigen sich Leo Martin und Patrick Rottler professionell – und treten damit öffentlich auf.
taz: Herr Martin, Herr Rottler, fangen wir an mit: „Servus, ihr lieben Leute, ist euch klar, wie meine psychische Konstitution ist und wann ich kriminell werden könnte?“ Was wissen Sie damit über mich?
Leo Martin: Das „Servus“ könnte das Schlüsselwort sein, das uns auf eine Fährte, vielleicht eine falsche locken soll. Aus einem Satz oder einem Wort etwas abzuleiten, funktioniert beim Sprachprofiling allerdings nicht. Wir brauchen immer eine Textmenge, um zuverlässige Aussagen zu machen. Je mehr Text, desto besser. Nur wenn Sprachspuren stimmig zueinanderpassen, dürfen wir Hypothesen bilden.
Leo Martin hat Kriminalwissenschaften studiert und war zehn Jahre lang für einen deutschen Geheimdienst tätig.
Patrick Rottlerstudierte Kommunikations- und Sprachwissenschaften, ist Sprachprofiler und Spezialist für Datenbanken beim Privat Institut für Forensische Textanalyse.
Patrick Rottler: Wir suchen nach Merkmalen, die systematisch sind, die sich durchziehen, die immer wieder vorkommen. Einzelne Merkmale sind Indiz, müssen aber überprüft werden. Das „Servus“ als Hinweis nach Bayern ist natürlich interessant, aber wenn außenrum nichts mehr vorkommt, ist es vielleicht eher die falsche Fährte. Ein anderes Beispiel, wie es einem in anonymen Briefen, vielleicht einem Drohbrief begegnen kann: ‚Du haben nur eine Chance!!‘ So was ist ein ganz klassisches Muster, entsprechend dem, was ein deutscher Muttersprachler glaubt, wie jemand, der nicht Muttersprachler ist, schreiben würde.
Leo Martin: Spannend ist: Sobald es um die Forderung geht, was ein Erpresser möchte, wird das Deutsch besser. Ein Täter, der den Ausländer nur spielt, will bei seiner Forderung dann sehr genau verstanden werden. Oder am Ende von Texten, oft bei langen Texten, fallen die Täter irgendwann aus den Mustern – was auch immer die gelegten Verstellungsspuren sind, Verb im Infinitiv oder Ähnliches.
Fehler, selbst wenn gezielt angewendet, sind also besonders vielsagend?
Leo Martin: Sie müssen ja irgendwo herkommen. Prinzipiell resultieren sie aus der Grammatik der Muttersprache. „Wenn ich ein Kind war, ',when I was a child: das wäre ein nachvollziehbarer Fehler. Wenn man bei Fehlern der Grammatik Systematik erkennen kann, ist alles fein, wenn die nicht da ist, können wir von Verstellung ausgehen.
Aufmacher bei Ihren Veranstaltungen ist: „Internet – Hate-Mail: Wenn Worte töten“. Ist das nicht ein bisschen übertrieben – tötende Worte?
Leo Martin: Einer unserer Aufhänger ist der Fall Dr. Lisa-Maria Kellermayr. Zur Coronazeit ist sie als österreichische Landärztin medial sehr sichtbar geworden. Dafür ist sie von Maßnahmengegnern angegriffen worden. Diese Angriffe haben sie in den Suizid getrieben, hier haben Worte getötet. Diese Wirkung von Worten, dass Worte und Formulierungen nicht egal sind, sondern immer einen Effekt haben aufs Gegenüber: Das wollen wir deutlich machen.
Patrick Rottler: Unabhängig von diesem Extremfall haben wir es häufiger mit Rufmord zu tun.
Was genau ist Rufmord?
Leo Martin: Wenn ein anonymer Absender über ein anonymes Profil Dinge behauptet, die nicht zutreffen. Es ist eine der Konstellationen, mit denen wir uns regelmäßig beschäftigen.
Wir?
Patrick Rottler: In den meisten Fällen sind wir Teil einer Taskforce in Unternehmen, wo dann auch ein Jurist bewertet, inwieweit es strafbar ist, was geäußert wurde, oder ob ein berechtigtes Interesse vorliegt, mit uns zusammenzuarbeiten.
Leo Martin: Um bei Hetzkampagnen oder Drohbriefen den Nachweis zu führen, erstellen wir – bei Beauftragung – Autorenprofile zu anonymen Texten. Immer im Bereich der Hypothesenbildung: Wie müsste der Autor hinter einem Text aussehen, wo können wir ihn regional vielleicht verorten? Welcher Bildungsschicht wird er angehören? Rückschlüsse oder Hinweise lassen sich manchmal auf einen Altersrang machen. Ganz oft ist es so – und das ist unsere Hauptaufgabe –, dass in anonymen Texten Informationen auftauchen, Insiderinformationen, die einfach nicht jeder wissen kann. Dadurch gibt es einen bestimmten Kreis an Verdächtigen. Wenn wir dann Vergleichstexte bekommen, können wir in vielen Fällen zuordnen, wer von den Verdächtigen auch für den anonymen Text verantwortlich ist.
Wie genau geht das vor sich?
Patrick Rottler: Im Unternehmen oder einem ähnlichen Kontext tauchen anonyme Schreiben auf, die gegen eine Führungskraft schießen. In den Raum gestellt werden vielleicht Vorwürfe wie Missmanagement, falsche Personalführung, sexuelle Übergriffe. Das sind die klassischen Vorwürfe. So ein Schreiben geht dann beispielsweise bei der Personalabteilung ein; oder es wird an die Medien durchgestochen. Unsere Aufgabenstellung ist dann herauszufinden, wer ist der anonyme Täter. Sobald wir Verdächtige haben, werden uns Vergleichstextmaterialien zur Verfügung gestellt. Die brauchen wir für den Sprachvergleich, um zu analysieren, wie der anonyme Autor mit Sprache umgeht und wie die Vergleichsperson. Entsprechend Gemeinsamkeiten oder Unterschieden fertigen wir am Ende ein Gutachten an.
Wenn jetzt also eine Firma, vielleicht ein Medium nach einem Whistleblower sucht …
Leo Martin: Unser Auftraggeber muss ein berechtigtes Interesse haben. Wird über einen Whistleblowing-Kanal über Missstände in einem Konzern berichtet, dann besteht kein berechtigtes Interesse. Dann gilt der Schutz des Whistleblowers. Das heißt: kein Fall für uns. Wenn Behauptungen, die unwahr sind – oder angreifend, beleidigend, verleumdend – auf öffentlichen Kanälen gespielt werden, wenn so was in große Verteiler hineingeht, dann sind wir im Bereich der Straftatbestände. Da hat unser Auftraggeber ein berechtigtes Interesse, und nur dann werden wir tätig.
Lässt sich das überhaupt trennen, ob ein Mensch sich inszeniert oder wirklich so ist wie seine Sprechweise?
Leo Martin: Es dreht sich im Grunde um die Frage, gibt es so etwas wie einen sprachlichen Fingerabdruck, der direkt zu einem Täter oder zu einem Autor führen kann. Die wissenschaftlich korrekte Antwort lautet: Nein, es gibt keinen sprachlichen Fingerabdruck. Denn der Fingerabdruck der Haut ist immer einmalig und unveränderbar. So einmalig ist Sprache nicht. Unser Sprachgebrauch verändert sich ständig. Der Stil färbt ab, die Ansprache passt sich an. Wenn du in einer Beziehung mit jemandem lebst, hat das Effekte, dein Umfeld hat Effekte, dein Bildungsgrad, deine Interessen. Aber wir kommunizieren in einem gewissen Korridor: Mit Mitte 20 hat sich die Sprachbildung relativ verfestigt, es haben sich Gewohnheiten unbewusst etabliert. „Unbewusst“ ist hier der spannende Faktor. Wir treffen eben nicht bei jeder grammatikalischen Konstruktion – wenn wir Sätze und Halbsätze bilden, bei jeder Wortwahl – eine bewusste Entscheidung, sondern folgen unseren Gewohnheiten. Die finden in einer gewissen Range statt. Diese Range sichtbar zu machen, ist der Job von Patrick. Und das nennt man dann Ideolekt: ein Sprachgebrauch, der für einen Autor typisch ist.
Patrick Rottler: Wenn wir analysieren, dann auf sechs Ebenen – Satzbau, Grammatik, Wortwahl, Zeichensetzung, Sprachpsychologie, Textgestaltung. Verstellungen finden in der Praxis auf einer, maximal zwei Ebenen statt. Verstellen kann ich aber nur, was mir auch bewusst ist. Und Sprache läuft eben zum großen Teil unbewusst ab.
Sprachpsychologie?
Patrick Rottler: Mal ganz grob: Da wären Täter, die sind sehr ich-bezogen und haben nur ihre eigene Perspektive. Da lesen wir viel „ich“, „mir“, „mir“, „mir“, „mein“, „mein“, „mein“. Und es gibt Täter – oder Autoren –, die mit einer Entschuldigung bereits in den anonymen Text einsteigen und sich rechtfertigen, warum sie sich anonym äußern: weil sie Bedenken haben, was ihre Karriere angeht oder ihre Reputation. Das ist ein anderer Fokus auf das Umfeld. Ein Stück weit sagt das etwas über die Persönlichkeit des Täters aus. Andere haben einen sehr taktilen, haptischen Sprachstil: „Ich habe aus der taz entnommen“; „da hat aber die Geschäftsführung ordentlich zugelangt“. Wieder andere artikulieren sich visueller: „Ich habe in der taz gesehen … es war auf den ersten Blick erkennbar.“ In manchen Fallkonstellationen sind solche – unbewusst ablaufenden – Muster extrem häufig vertreten.
Beim Smalltalk, sagen wir mal Grillen mit den neuen Nachbarn: Wenn jemand Sie fragt, „was machen Sie so beruflich“, was sagen Sie dann?
Leo Martin: Das hängt davon ab, wie groß meine Lust ist, einen beruflichen Talk zu führen. Wir machen forensische Linguistik, das heißt, wir werten für Sicherheitsbehörden, für Unternehmen Drohbriefe, Erpresserschreiben aus. Dann führst du sofort ein längeres Gespräch. Im anderen Kontext mache ich mich langweiliger, da sage ich: „Ich mache Führungskräftetrainings.“ Dann ist der Smalltalk schnell vorbei.
Aber „Ex-Agent“, so wie auf dem Buchumschlag abgedruckt: kann man doch nicht verschweigen, oder?
Leo Martin: Das erzähle ich nie, wirklich nie. Ich hasse die Frage: „Was machst du beruflich?“ Weil da immer dieses Bewerten und Taxieren losgeht. Wenn ich Lust auf ein Gespräch habe, weil mich die Person oder deren Themen interessieren, schaue ich, dass ich Fragen stelle, Wertefragen, wobei ich Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stelle. Für eine schöne schnelle Verbindung. So öffnet sich ein Gespräch relativ schnell. Dann kann man am Ende auch eine Hypothese raushauen: „Du machst was mit Menschen, irgendetwas im Bildungsbereich?“
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