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Sprachenvielfalt in EuropaWir verstehen uns

Lin Hierse
Kommentar von Lin Hierse

Über 200 Sprachen und Dialekte werden in Europa gesprochen. Diese Vielfalt muss vor der wachsenden Sehnsucht nach Einfachheit geschützt werden.

Schweigen ist keine Option, man muss nicht jede Sprache beherrschen, um miteinander zu reden Foto: Patrick LE FLOCH/GAMMA-RAPHO/laif

L aut der automatischen Vervollständigung der Google-Suche ist Europa „die antwort“, „wie ein fahrrad hält man es an fällt es um“, „für mich“, „die hauptstadt von deutschland“, „bunt“, „unsere zukunft“ und „am ende“. Und bis auf Vorschlag Nummer vier ist vermutlich alles davon ein bisschen wahr.

Mich macht Europa oft sprachlos. Wie soll man auch die richtigen Worte finden für die Gleichzeitigkeit von Frieden, Freiheit und toten Menschen im Mittelmeer? Wie der Nationalstaat ist auch der europäische Kontinent nicht wirklich greifbar. Europa muss man sich vorstellen, es ist ein Konstrukt und damit zu komplex, um es in (wenige) Worte zu fassen. Bitte füllen Sie aus: Europa ist _____. Ein Lückentext mit viel zu kurzem Strich, über den man eine Lösung quetschen soll.

Aber jede Metapher für Europa ist gefunden, jeder Wahl­slogan verbraucht. Allein die deutsche Sprache besteht laut Duden aus knapp 23 Millionen Wörtern. Das sind 23 Millionen Wörter und noch viel mehr Kombinationen, die zur Verfügung stehen, um Europa zu beschreiben. Wir brauchen sie alle und sie sind trotzdem nie genug. Was also tun? Sollten wir lieber gar nichts sagen als nie so ganz das Richtige?

Komplexitätsreduzierung ist ein sperriges deutsches Wort, das den Zeitgeist zu treffen scheint. Wir können alles wissen, aber nichts mehr aufnehmen. Wir sehnen uns nach Filtern, nach personalisierten Angeboten, nach Selektion. Das Bedürfnis nach weniger hat längst die vollgestopften Schubladen derer ­erreicht, die sich fast alles leisten können. Was keinen Joy sparkt, muss gehen: weiße Wände und leere Räume als klosterhafter Rückzugsort vor der nicht enden wollenden Flut äußerer Eindrücke. Das Kondo-Prinzip funktioniert auch prima für zwischenmenschliche Beziehungen: Wer uns nicht glücklich macht, wird freundlich, aber bestimmt verabschiedet. Ähnliches passiert in der Politik. Das süßeste Versprechen lautet längst: Die Welt ist viel zu komplex, aber wir geben euch einfache Antworten und eindeutige Etiketten.

Hier wird Sprache zu Erzählung und zum Instrument für Macht. Nenne einen Menschen Flüchtling, und du kannst ihn zuallererst als Flüchtling be­handeln und nicht mehr als Menschen. Das funktioniert auch mit Worten wie Migrant:in, Lügner:in, Nazi. Es ist stumpf und gefährlich, aber eben endlich nicht mehr kompliziert.

Europa braucht kein Esperanto

Die EU einfacher zu machen steht seit Jahren auf der politischen Agenda. Dieser Verbund aus 28 Mitgliedsstaaten mit 24 gleichberechtigten Amtssprachen ist allerdings gerade deshalb so zugänglich, weil er sich seine sprachliche Vielfalt erhält, weil er sie nicht eindampft. Vielsprachigkeit gehört zur EU, besonders deutlich wird das im Europäischen Parlament. Weil alle EU-Bürger:innen sich dort hineinwählen lassen dürfen und ihre Teilhabe auch ohne Fremdsprachenkenntnisse gewährleistet sein muss, wird im Akkord gedolmetscht und übersetzt. Hier ist Sprache Schlüssel, Mittel zum gemeinsamen Zweck.

Die Frage nach dem Umgang mit vielen verschiedenen Sprachen ist nicht neu für Europa. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte der Augenarzt Ludwik Leijzer Zamenhof „Esperanto“, eine konstruierte Sprache, die sich an Latein und romanischen Sprachen, aber auch an germanischen, slawischen und griechischen Wörtern orientiert. Zamenhof erhoffte sich einfachere Kommunikation und glaubte daran, dass eine „neutrale“ Sprache Rassismus verhindern und Weltfrieden schaffen könnte. Eine konstruierte Sprache müsste von allen gleichsam neu erlernt werden. Und anders als Englisch, Französisch oder Deutsch trägt Esperanto keine kolonialen Altlasten mit sich herum. Vor dieser Sprache wären, so die Idee, alle gleich. Alle müssten die gleichen Mühen und Ressourcen aufwenden, um Esperanto zu erlernen.

taz am wochenende

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Zamenhof wäre heute gewiss enttäuscht: Laut Schätzungen sprechen etwa 2 Millionen Menschen Esperanto. In Europa leben fast 750 Millionen Menschen. Seine Vision einer neuen europäischen Sprache ist somit gescheitert – doch dieses Scheitern macht Sinn.

Europa braucht kein Esperanto, jedenfalls nicht um der Verständigung willen. Wir verständigen uns längst, mit Händen und Füßen, mit Kreativität und Anstrengung. Dabei spricht Europa Gebärdensprache, Dia­lekte und Programmiersprachen. Wir reden im Slang und Fachjargon und erfinden ständig neue Wörter, die noch in keinen Büchern stehen. Sprachen, die außerhalb Europas entstanden sind, prägen für viele Euro­päer:innen Alltag und Identität. Sprache entwickelt sich weiter und fordert uns heraus. Trotz vieler Widerstände wird sie sensibler, präziser, inklusiver. Und nicht zuletzt spricht Europa in Bildern, in Kunst und Musik, oder mit seinen Körpern.

Gar nichts zu verstehen tut weh, tut aber auch gut

Das komplizierte Europa ist multilingual – und wie schön ist die Vorstellung, dass es in dieser Menge für jedes noch so ungleiche Paar eine gemeinsame Sprache gibt? Wir müssen also nicht jede Sprache beherrschen, um miteinander zu reden.

Ich glaube sogar, manchmal gar nichts zu verstehen tut weh, tut aber auch gut. Aus Missverständnissen entstehen die besten Anekdoten. Sie lehren uns viel über unser Gegenüber und uns selbst, sobald wir sie als solche erkennen. „Wie meinst du das?“ ist nicht ohne Grund eine der spannendsten Fragen. Vieles ist oft so anders gemeint, als es im ersten Versuch dahingesagt wird. Verständigung lebt von Irritationen und Mehrdeutigkeiten. Und von dem Interesse der Ge­sprächspartner:innen aneinander. Mit Europa ist es ganz ähnlich.

Deswegen fülle ich den Lückentext heute gern so aus: ­Europa ist 复杂. Falls Sie kein Chinesisch verstehen, wissen Sie gewiss, was zu tun ist.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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5 Kommentare

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  • Esperanto verbreitet sich in mehr und mehr Ländern. In China gibt es seit 2001 tägliche Nachrichten auf Esperanto, esperanto.china.org.cn/ . Bei Duolingo fangen jährlich 800.000 Lerner mit Esperanto an, z.B. 200.000 alleine auf Portugiesisch, www.duolingo.com/courses/pt . Die Esperanto-Wikipedia hat 250.000 Artikel, ähnlich viele wie die dänische oder slowakische Wikipedia-Version.

    Das Schöne an Esperanto ist, dass man in über hundert Ländern Leute findet, die sich darauf freuen, Besucher aus dem Ausland kennenzulernen. Um dieses Netz zu nutzen sind etwa 30 Stunden Esperanto-Lernen als erster Einstieg kein großer Aufwand. Mein Vorschlag: Einfach mal eine einzige Stunde Esperanto lernen und schauen, wie sich das anfühlt. :)

    Die Menschheit ist mit neuen Dingen oft recht langsam. Das sieht man bei der Reaktion auf den Klimawandel. Auch für die breitere Einführung der Demokratie hat die Menschheit über 2000 Jahre gebraucht. Es gibt halt oft viele Gegner von Neuerungen, die dann falsche Gerüchte verbreiten.

    Im Fall des Esperanto sind es vor allem Sprachwissenschaftler (besonders Anglisten), die Englisch aus naheliegenden Gründen lieber mögen als Esperanto. Erst kommt das Fressen, dann kommt die Moral, wie Brecht so treffend feststellte.

    Hier ist eine Reihe von Falschinformation, die von Linguisten über Esperanto verbreitet werden. www.interlinguisti...JGI2018-Wunsch.pdf . Sehr wohl hat Esperanto eine Literatur, Lieder, eine eigene Kultur, Wortspiele, Muttersprachler, Sprachentwicklung... Im Elfenbeinturm weiß man das noch nicht. Weil ProfessorInnen der Linguistik (fälschlich) als Fachleute angesehen werden, verbreitet sich der Unsinn in der ganzen Öffentlichkeit. Manchmal kann man es sogar in Zeitungen lesen.

    Ob man etwas "braucht", das ist keine leichte Frage. Fest steht: Mit Esperanto geht Kommunikation deutlich leichter. Wenn ich Englisch schreibe, mache ich reichlich Fehler, in Esperanto praktisch nicht.

  • 8G
    80851 (Profil gelöscht)

    Der Artikel ist kindisch und realitätsfern! Die Gebildeten sprechen (auch in Europa) untereinander englisch und machen sich dabei über koloniale Altlasten nicht den Hauch einer Sorge. Die Ungebildeten sind irrelevant.

    • @80851 (Profil gelöscht):

      Die "Ungebildeten", die nicht Englisch sprechen, sind nicht so irrelevant, wie man denken könnte. In Polen sprechen nur etwa 33 % Englisch, in Ungarn sind es nur etwa 20 % (Eurobarometer Nr. 386, Sprachen, 2012, S. 24 ec.europa.eu/commf...ebs/ebs_386_de.pdf ; zum Vergleich: In den Niederlanden sprechen 90 % Englisch, in Deutschland 56 %.) In Polen und Ungarn sind Parteien an der Macht, die der weiteren europäischen Integration recht skeptisch gegenüberstehen. Parteien, die ihre Stimmen offensichtlich auch von jenen 67 bzw. 80 % erhalten, die von der europäischen Kommunikation auf Englisch ausgeschlossen sind. Sollte das nicht zu denken geben?

      Es hat natürlich seine Gründe, warum in Polen und Ungarn Englisch weniger gelernt wird. Einer davon ist: Englisch ist vom Polnischen oder Ungarischen aus viel schwerer zu erlernen als etwa vom Deutschen aus. Eine Deutsche erreicht mit z.B. 1000 Stunden ein gewisses Niveau im Englischen, für das eine Polin vielleicht 1500 Stunden braucht, eine Ungarin vielleicht 2000 Stunden. Das bedeutet eine erhebliche Ungleichheit innerhalb der EU und leider wohl auch eine gewisse Spaltung.

      (Wer mag, darf gegen Esperanto schreiben, wie die Autorin, ohne je mit einer Esperanto-Sprecherin gesprochen zu haben. Mit Esperanto sieht es allerdings deutlich anders aus: Eine Deutsche braucht nur etwa 250 Stunden für dasselbe Niveau, für das man im Englischen 1000 Stunden braucht. Eine Polin braucht auch nur etwa ein Viertel, also vielleicht 400 Stunden, eine Ungarin erreicht dasselbe Sprachniveau in Esperanto mit etwa 500 Stunden. Mit Esperanto ist die Ungleichheit zwar noch vorhanden, aber deutlich abgeschwächt. - Im übrigen lernt wohl niemand so viele Stunden Esperanto. Man lernt 20 bis 50 oder 100 Stunden, dann fährt man zu Esperanto-Treffen oder liest Texte im Internet und lernt in der Praxis weiter.)

    • @80851 (Profil gelöscht):

      Die Gebildeten sprechen seit jeher mehr als eine Sprache!

      Preisfrage - das folgende Sprichwort ist in welcher Sprache zuhause:

      Eine Sprache, ein Mensch – zwei Sprachen, zwei Menschen.

      • @Rosmarin:

        Sorry - etwas spät dran.

        Hab herzhaft gelacht.



        &



        Über obiges gedacht:



        “Herr Lehrer - Sie ham da'n Tropfen an der Nase.



        Einfälltich gleich runter.

        unterm—-Zer‘schuldigung -



        Während meiner 3 1/2jährchen Volksschule. Mit Verlaub. Newahr.



        Wurde anfangs mehrheitlich polnisch russisch & lettisch gesprochen.



        Was sich - ollen Reichwald sei Dank -



        Bis mei Penne - doch ~~~gut änderte 😈



        Bitte aber um Nachsicht - kerr!

        kurz - Herr - wirf Hirn 🧠 vom Himmel



        “Jebildet?“ Wat issen nu wieder ditte - wa! & Däh! Bitte?

        Ja - gern. Bitte der Herr - (Auszug!;) “…G



        »Was hast du zu deinem Freund gesagt, als Onkel Erich ins Zimmer gekommen ist?« – Theochen bockte. – »Na?« sagte ich. »Wirds bald?« – »Soll ichs sagen?« fragte er. »Natürlich sollst dus sagen!« Und da sprach Theochen und wechselte dabei vierzehnmal die Stimme:



        »Ick ha jesacht: Aus det Jeklöhne von den Olln mach ick mia jahnischt – det is ja nich jefehrlich! Jestern jabs Jans, und den Onkel nehm ick noch alle Tahre uff de Jabel! Det will 'n jebillter Mann sein? Un wenn ick auch jefeffat den Hintern vollkrieje: der Mann spricht ja Dialekt!«

        Und da nahm der Onkel seine Koffer und riß die Korridortür auf und stieß mich und meine Frau fort und nahm sich einen Wagen und fuhr zurück nach Hannover, wo sie das reine Deutsch sprechen. Und das Ratschen eines entzweigerissenen Testaments zerriß mir das Herz.

        Theochen geht es soweit ganz gut. Er hat nur zwei Tage lang einige Schwierigkeiten gehabt – des Sitzens wegen.“







        Peter Panter



        Vossische Zeitung, 02.11.1930, Nr. 518.

        www.textlog.de/tuc...y-buchstabe-g.html “Der Buchstabe G“