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Sport und RassismusBlinde Flecken auf der Landkarte

Etwas hat sich geändert zwischen der WM 2006 und der EM 2024. Was damals mögliche No-Go-Areas für schwarze Fans waren, sind heute Hochburgen der AfD.

Die Kampagne gegen Rassismus, die der DFB anlässlich der EM initiiert hat Foto: Soeren Stache/dpa

Was Yonas Endrias sagt, ist bitter: Es geht darum, weshalb vor der Fußball-Weltmeisterschaft 2006 in Deutschland über rassistische Gewalt und No-Go-Areas für schwarze WM-Fans diskutiert wurde, und das jetzt vor der EM 2024 keine große Rolle spielt.

„Es ist nicht mehr so interessant, weil rassistische Gewalt Alltag geworden ist“, sagt Endrias. Er ist Mitglied beim Afrika-Rat, einem Dachverband afrikanischer Vereine und Initiativen in Berlin und Brandenburg. Neuer dagegen sei, dass nun auch Politiker wie Matthias Ecke (SPD) in Dresden solche rechte Gewalterfahrungen machen würden. Dieses Thema beschäftige die Menschen.

Zum alltäglichen Rassismus hat der Verband der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitscher Gewalt (VBRG) gerade im Mai „eine alarmierende Jahresbilanz“ vorgelegt. Zahlen aus elf Bundesländern zeigen, dass allein die Anzahl rassistischer Angriffe binnen eines Jahres um 33 Prozent gestiegen ist (2023: 1.446 / 2022: 1.088). Um mehr als 20 Prozent nahmen die rassistisch motivierten Körperverletzungsdelikte zu (2023: 894 / 2022: 643). Aus den Statistiken der Polizeibehörden lässt sich 2023 etwa bei den Straftaten gegen Asyl­be­wer­be­r*in­nen im Vorjahresvergleich ein Anstieg um 75 Prozent feststellen.

„Eigentlich“, sagt Endrias, „wäre es eine gute Idee, die Debatte neu zu entfachen.“ Er stellt zwar fest, dass sich die Sprache der Politikerinnen und Politiker in Regierungsverantwortung geändert habe. „Sie tun so, als ob sie Rassismus verstehen, aber auf operativer Ebene passiert immer noch viel zu wenig.“

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Endrias kann sich gut erinnern, welche Empörung im April 2006 die Initiative des Afrika-Rates und der Internationalen Liga für Menschenrechte, deren Vizepräsident er war, auslöste. Um schwarze WM-Besucher*innen vor rassischer Gewalt hierzulande zu warnen, wollten die Organisationen vor No-Go-Areas insbesondere im Osten Deutschlands warnen und den Tou­ris­t*in­nen allgemeine Handlungsempfehlungen geben.

„Von grobem Unfug und Panikmache“ sprach damals der Berliner CDU-Politiker Frank Henkel. Die Vorstellung, dass es solche Gebiete in Brandenburg gebe, sei absurd, sagte Winfriede Schreiber, die Leiterin der dortigen Verfassungsschutzabteilung. Die Debatte nahm Fahrt auf, als Uwe-Karsten Heye, der in der Ära von Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) Regierungssprecher war, Mitte Mai in einem Interview mit dem Deutschlandradio den Warnern recht gab: „Es gibt kleine und mittlere Gegenden in Brandenburg und anderswo, wo ich keinem, der eine andere Hautfarbe hat, raten würde, hinzugehen.“ Diese Orte würden „Dunkelhäutige möglicherweise lebend nicht mehr verlassen“.

Die Warnungen wurden skandalisiert, weil sie quer zu dem damaligen WM-Motto „Die Welt zu Gast bei Freunden“ stand. Dabei, wendet Yonas Endrias ein, habe man sich damals doch nur aus den frei zugänglichen Zahlen der Verfassungsschutzberichte bedient, aus denen sich ableiten ließ, wo das Risiko für rassistische Angriffe besonders hoch war.

Die Sorgen gingen parteiübergreifend damals in eine andere Richtung. Der damalige Unionsfraktionsvize Wolfgang Bosbach sagte: „Es wäre fatal, wenn sich aufgrund solcher Äußerungen Menschen dazu entschließen würden, nicht zur Fußball-Weltmeisterschaft zu kommen.“ Und der SPD-Fraktionschef Peter Struck erklärte die Äußerungen von Heye seien „überhaupt nicht hilfreich“.

Im Rückblick auf das Jahr 2006 erinnert Heike Kleffner, die Geschäftsführerin des Verbands der Beratungsstellen für Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt, an den gesellschaftspolitischen Kontext damals. Die Zahlen ihres Verbandes zeigen auch zu jener Zeit einen deutlichen Anstieg rassistischer Gewalt. Die NPD zog in jenem Jahr in den Landtag von Mecklenburg-Vorpommern (7,3 Prozent) ein. Und wie der NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestages Jahre später herausfinden sollte, scheuten die Ermittler bei der Aufklärung der Mordserie des sogenannten Nationalsozialistischen Untergrunds die Öffentlichkeit, als es 2006 Hinweise auf rechtsextremistische Motive gab.

Die Vermutung stand im Raum, dass dies auch wegen der WM unterblieb. Ein Ermittler räumte damals ein, man habe in Abstimmung mit dem bayerischen Ministerium überlegt, was es auslösen würde, wenn man mit der Überlegung an die Öffentlichkeit ginge, es gäbe Rechtsradikale, die durch Deutschland fahren und Ausländer abknallen. „Das war der Grund im Rahmen der Medienstrategie, dass wir gesagt haben: Wir machen die Ermittlungen intern; aber wir tragen sie nicht nach außen.“

Auch Heike Heffner glaubt, es habe mit einer flächendeckenden Normalisierung rassistischer Gewalt zu tun, dass heute nicht von No-Go-Areas gesprochen wird. „Wo damals Angstzonen waren, sind heute Hochburgen der AfD.“ Den Begriff No-Go-Areas hält sie für unglücklich. Er sei schon damals umstritten gewesen, weil er suggeriere, man könne rassistischer Gewalt ausweichen.

Die Zahlen, die ihrem Verband vorliegen, seien höher als 2006. Das liege aber unter anderem am besseren Monitoring von rassistischer Gewalt und dem höheren Bekannheitsgrad der Beratungsstellen.

Eine Debatte über rassistische Gewalt hält Kleffner vor dieser Europameisterschaft schon deshalb für geboten, weil „Rassismus, Homophobie und Antisemitismus Begleiterscheinungen von sportlichen Großveranstalungen sind, insbesondere von denen des Fußballs.“ Auch während der so gern als „Sommermärchen“ etikettierten WM 2006 sei es am Rande von Public-Viewing-Veranstaltungen zu rassistischen Übergriffen gekommen.

Märchenhafte Slogans

Die Organisatoren der EM 2024 haben sich für das anstehende Turnier wieder einen märchenhaften Slogan ausgedacht, nämlich „United by Football“. Wie wenig dieser mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit in Deutschland zusammenpasst, wurde während der U17-Weltmeisterschaft im Dezember 2023 spürbar, als deutsche Spieler im Internet unter Jubelfotos vielfach rassistische angefeindet und beleidigt wurden. Der DFB kam auf seinen Social-Media-Kanäle kaum hinterher, die Hasskommentare zu löschen und deaktivierte die Kommentarfunktion. Das Team, das vielen nicht blond und weiß genug, wurde dann Weltmeister.

Bei der Verfolgung der Straftaten nahm der DFB eine aktive Rolle ein und gab Informationen an die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt a.M. weiter. 14 Fälle erfüllten den Tatbestand der Volksverhetzung. Überhaupt enstehen im Kampf gegen den Rassismus rund um den Fußball neuerdings Systeme des Sich-Kümmerns.

Für die EM unterzeichneten die Uefa, der DFB und die Bundesregierung in einem großspurigen Akt eine Menschenrechtserklärung, die auch einen reichhaltigen Maßnahmenkatalog zur Verhinderung und Abschwächung von Diskriminierungsvorfälle enthält. Ein Awareness-Konzept, Meldestrukturen im Stadion, geschultes Personal, Rückzugs- und Ruheräume, Mobile Opferberatungsangebote und vieles mehr soll es geben.

Hilfe für Opfer von Rassismus

Umgesetzt wird dies von den Austragungsorten bei der EM auch für die entsprechenden Public-Viewing-Veranstaltungen. Das bestätigen etwa die Stadtbehörden von Hamburg und Leipzig. Von einem Hilfesystem für alle, „die Übergriffe (auch verbaler Art) oder eine psychisch belastende Situation bei der Uefa Euro 2024 erleben“, spricht etwa die Stadt Leipzig. Vergleichbares hätte es bei der WM 2006, als Leipzig ebenfalls Austragungsort war, nicht gegeben.

Mit Systemen des Sich-Kümmerns wie etwa dieser Menschenrechtserklärung versuchen die Vertreter des Fußballs in einem schwiergier werdenden Umfeld, den Eindruck zu vermitteln, zumindest für die Zeitspanne von großen Turnieren das Auseinanderdriften von Gesellschaften mildern beziehungsweise überdecken zu können.

„Fußballzeit ist die beste Zeit gegen Rassismus“, so heißt eine Kampagne, die der DFB anlässlich der EM initiiert hat. Es ist ein Satz, der nur Wunschdenken umschreiben kann.

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