Spielfilm „Nostalgia“ über Heimkehr: Sehnsucht nach dem alten Neapel

Der italienische Regisseur Mario Martone erzählt im Spielfilm „Nostalgia“ intim von einer Heimkehr. Dort ist alles gleich und nichts, wie es war.

Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) wartet mit Pater Luigi Rega (Francesco Di Leva) vor einer Haustür.

Späte Heimkehr: Felice Lasco (Pierfrancesco Favino) mit Pater Luigi Rega (Francesco Di Leva) Foto: MFA

Was steht einem Mann vor Augen, der nach vierzig Jahren zum ersten Mal wieder in die Stadt zurückkehrt, in der er aufgewachsen ist? Vom leeren, anonymen Balkon eines Neubauhotels wirft Felice (Pierfrancesco Favino) den ersten Blick über Neapel, nachdem er aus Kairo hierher geflogen ist. Seine goldene Armbanduhr verstaut er im Hotelsafe, bevor er zu Fuß losgeht. Auch an seinem sicheren Schritt erkennt man, dass er hier kein Fremder ist, obwohl man ihn bislang nur hat Arabisch sprechen hören.

Das Neapel, durch das Regisseur Mario Martone seinen Helden schreiten lässt, ist nicht das der Postkarten. Hektische Straßen mit viel Autoverkehr münden auf Billigmärkte für Haushaltswaren, wo markante, von einem harten Arbeitsleben gezeichnete Gesichter und Frauen mit Kopftuchbedeckung zum Alltag gehören. In den stilleren Altstadtgassen bröckelt der Putz über verrammelten Läden.

Felice geht Pizza essen an diesem ersten Abend in der einstigen Heimat, wie man es so macht in Neapel. Man behandelt ihn wie einen Touristen, auch weil ihm das Neapolitanische nicht mehr flüssig über die Lippen kommt. Bier oder Wein lehnt er ab und bestellt Wasser.

Über seinen Lebensweg vom Teenager, der im Altstadtviertel Sanità die Gassen unsicher machte, bis zum wohlhabenden, in Kairo ansässigen und zum Islam übergetretenen Bauunternehmer erzählt der Film erst nach und nach. Aber was diesen Mann und seine Entfremdung von der eigenen Herkunft ausmacht, ist alles schon in diesen ersten Szenen vorhanden.

Vom engen Lokalkolorit entrückt

Sehnsucht nach dem, was vergangen ist, lautet die schnelle Erklärung für Nostalgie. Mario Martone aber blättert in „Nostalgia“ das vertraute Gefühl in verschiedene, widersprüchliche Regungen auf. Da ist die pure Freude an der Erinnerung an das eigene, jugendliche Ich, wenn Felice sich ein Motorrad besorgt und damit die Wege entlang kurvt, die er als Teenager mit dem besten Freund Oreste genommen hat. Da ist aber auch das Erschrecken über die Motorradgang der Gegenwart, die nächtens mit Schüssen das Viertel terrorisiert. Nicht alles, was noch genauso wie früher ist, ist deshalb gut.

Felices Erinnerungen an damals inszeniert Martone mit der Körnigkeit alter Super-8-Filme und verkleinerter Kadrierung: Zwei junge Männer, die über Altstadtstraßen Rennen fahren, sich mit rivalisierenden Gangs prügeln, am Strand einer ungewissen Zukunft entgegenschauen und schließlich einen Überfall mit schicksalhaftem Ende begehen. Songs wie „Lady Greengrass“ von The Ones und Musik von Tangerine Dream, die aus der ersteren Band hervorgingen, entrücken vom engen Lokalkolorit und weiten atmosphärisch den Sehnsuchtshorizont.

Nostalgisch im widersprüchlichen Sinn ist auch Felices Abschied von der alten Mutter, dem das erste Drittel des Films gewidmet ist. Nachdem er sie in einer dunklen Erdgeschosswohnung wiederfindet, wohin ein dubioser Deal sie gebracht hatte, sucht er eine neue, lichte Wohnung für sie beide, kauft ihr, was ihr fehlt, und will so ihre letzten Tage verschönern.

In der vielleicht berührendsten Szene des ganzen Films nimmt der erwachsene Mann wie in einer rollenverkehrten Pietà die kleine, nackte, alte Frau auf seine Arme, um sie ins Wasserbad zu hieven. Zuerst hatte sie sich nicht ausziehen wollen vor ihrem Sohn, aber dieser hatte sie wunderbar sanft dazu überredet, mit der Anregung zu einem Gedankenspiel: „Denk dich zurück an früher, als du mich nackt gebadet hast …“. Die Scham der alten Frau darüber, wie ein kleines Kind geseift zu werden, äußert sich in einem klagendem Schluchzen, das umso erschütternder wirkt, weil zugleich Erleichterung herauszuhören ist.

Es ist diese grandiose Mischung aus sehr intimen, unmittelbaren Momenten und dem sezierenden, dokumentarischen Blick auf die Stadt Neapel von heute, die den Reiz dieses merkwürdig sperrigen Films ausmachen. Er gleicht einem Mosaik von Reflexionen, dessen Details sich erst mit Distanz zu einem Gesamtbild fügen.

Ein Verbrecherboss als Autorität des Viertels

Felice ist ein wortkarger, stoischer Held, der zugleich als wunderbar beredter Spiegel für seine Umgebung fungiert. Die Zufallsbegegnung mit einem alten Verehrer der Mutter wird zur Freundschaft, gerade weil er den Alten zuerst nicht wiedererkennt. Das Nichterinnern macht ihre Annäherung um so interessanter. Der engagierte Priester des Viertels, Don Luigi (Francesco Di Leva), zieht mit Felice durch die Haushalte der Gemeinde und stellt ihn als „Person, die mir am Herzen liegt“, vor.

Es ist eine Art Schutzformel, denn Don Luigi weiß, dass Felices Jugendfreund ­Oreste (Tommaso Ragno), der als Verbrecherboss die eigentliche Autorität des Viertels darstellt, auf seine Anwesenheit reagieren wird. Er rät ihm zu gehen, provoziert ihn aber gleichzeitig dazu, für seine, Don Luigis, Initiativen zu spenden oder seine Arabischkenntnisse bei der Einbindung eines tunesischen Flüchtlings gewinnbringend einzusetzen.

Felice bleibt länger, als er es müsste nach dem Tod der Mutter. Immer mehr eignet er sich die Stadt wieder an. Es habe sich sicher vieles sehr verändert, will die Ehefrau in Kairo im Telefongespräch mit seiner Melancholie sympathisieren. „Nein! Es ist alles dasselbe!“, antwortet Felice, und wieder ist da die Ambivalenz von Freude und Erschrecken.

Auch deshalb, weil es nicht nur für die alten Gemäuer der Stadt gilt, sondern mehr noch für den Zwiespalt, in dem sich ihre Bewohner seit jeher befinden: Sollen sie sich den kriminellen Strukturen unterordnen, der Herrschaft der Gewalt, oder das Bessere versuchen, den Ausweg durch Bildung, durch Pflege der städtischen Umgebung und ihrer Geschichte? Ein Besuch in den Katakomben Neapels, von denen ­Felice erzählt, dass sie in seiner Jugend noch verschlossen waren, steht als symbolhafte Handlung dafür.

Neueroberung der Stadt

Für kurze Zeit sieht es so aus, als könnte Felice die Zusammenführung seiner Welten gelingen. Bei einem Sommerfest bringt er die Jugendlichen von Don Luigis Gemeinde dazu, zu einem Hit der ägyptischen Rockband Cairokee zu tanzen und lässt per Smartphone seine Frau daran teilhaben; die Entscheidung, dass auch sie nach Neapel ziehen wird, ist gefallen.

Aber je erfolgreicher seine Neueroberung der Stadt, desto größer auch die Konkurrenz zu seinem ehemaligen besten Freund, dem Verbrecherboss, der als ominöse Bedrohung im Hintergrund agiert und vielleicht sogar weniger eine reale Gestalt als vielmehr ein Alter Ego ist.

Sich prozesshaft entwickelnde Geschichte

Mario Martone, selbst in Neapel geboren, entwickelt sich zu einer Art „Heimatfilmer“. Dass er mit „L’amore molesto“ 1995 die erste Adaption eines Elena-Ferrante-Romans realisierte, belegt, dass er mit der berühmten Autorin die Sensibilität teilt, ein starkes Identitätsgefühl nicht mit volkstümelnder Glorifizierung zu verwechseln und weder Klassenverhältnisse noch den Einfluss des organisierten Verbrechens auszublenden.

„Nostalgia“. Regie: Mario Martone. Mit Pierfrancesco Favino, Francesco Di Leva u. a. Italien/Frankreich 2022, 118 Min.

Seine zwei letzten Filme, „Il sindaco del Rione Sanità“ und „Qui rido io“ waren als Auseinandersetzungen mit ureigener neapolitanischer Kulturgeschichte zu speziell und theaterhaft-akademisch geraten – Martone arbeitet viel für die Bühne –, um ein internationales Publikum zu finden.

„Nostalgia“ aber ist ein echtes Stück Kino, mit atmosphärischen Bildern und einer sich prozesshaft entwickelnden Geschichte, die fast ohne Plot auskommt. Es reicht völlig, das Gesicht von Pierfrancesco Favino zu betrachten, einem der besten „face actors“ der europäischen Filmlandschaft der Gegenwart.

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