Speedjazz bei der Fête de la Musique: Überdosis im Mauerpark

Der Körper kommt kaum mit: Der HipHop-Erneuerer Flying Lotus spielte ein seltenes Konzert bei der Fête de la Musique in Berlin.

Musikfans stehen vor einer Bühne

Fête de la Musique im Mauerpark: „Gekommen ist vor allem das junge, internationale Berlin“ Foto: imago/Seeliger

Wie es aussieht, wenn man völlig geflasht ist? Ganz unterschiedlich: Einige machen wilde Armbewegungen und fuchteln herum, andere pressen die Hände auf die Brust, als könnten sie so den wummernden Bass-Druckwellen besser standhalten, die von vorne kommen; wieder andere im Publikum haben die Augen weit aufgerissen und den Mund leicht geöffnet. Ihr paralysierter Blick scheint zu fragen: „Was geht da?“

Die Frage ist berechtigt. Denn man kann all die akustischen und visuellen Signale, die im Berliner Mauerpark von der Bühne kommen, kaum ordnen und orten: eine Flut futuristisch anmutender Visuals auf zwei Leinwänden, ein für ein Open Air unglaublich fetter und durchdringender Clubsound, Versatzstücke aus HipHop- und Jazz-Stücken. Ständig ändern sich Rhythmus und Tempo, der Körper kommt kaum mit.

Für all das verantwortlich ist Flying Lotus alias Steven Ellison, einer der bedeutendsten Produzenten des zeitgenössischen elektronischen Pop aus Los Angeles, der am Mittwochabend sein erstes Konzert seit drei Jahren in Deutschland spielt. Anlass ist die Fête de la Musique, das jährliche Umsonst-und-draußen-Festival zum Sommeranfang, bei dem Straßenmusik an jeder Ecke zu hören ist. In diesem Rahmen gibt es nahe dem ehemaligen Mauerstreifen immer eine große, von der Red Bull Music Academy gesponserte Bühne, um die großen Namen nach Berlin zu lotsen.

Und das hat in diesem Jahr sehr gut geklappt: Mit den befreundeten Künstlern Thundercat, der am frühen Abend spielt, und Headliner Flying Lotus ist so etwas wie die Masterclass des afroamerikanisch geprägten Broken-Beat-/NuJazz-/Fusion-Zirkels am Start.

Der eine, Thundercat alias Stephen Bruner, hat erst kürzlich das gefeierte Album „Drunk“ veröffentlicht. Der andere, Flying Lotus, schuf mit dem Album „You’re Dead“ (2014) ein 19 Stücke umfassendes Wahnsinnswerk, bestehend aus HipHop-Samples, Jazz-Krächzen und Loops. Beide Künstler zusammen haben den Sound Kendrick Lamars mitgeprägt, auch dekorierte Musikerinnen wie Nite Jewel bewegen sich in dieser Szene.

Monster und Totenköpfe

Flying Lotus selbst – ein großer, kräftiger Mann in schwarzen Klamotten und mit aufragender Afrofrisur – sagt kaum etwas während des Auftritts und ist im Übrigen auch kaum zu sehen: Nur seine Silhouette erkennt man. Sein MC-Pult steht zwischen einer transparenten LED-Leinwand vor und einer Videoleinwand hinter ihm. Während der Schatten des Afro auf- und abwiegt, drückt er Knöpfe am Laptop und verschiebt ein paar Regler, dazu flimmern hippelige Visuals: Animationsfilmchen wechseln sich ab mit Space-Ästhetik, Monstern und Totenköpfen.

„Insgesamt sind rund 20.000 ­Besucher im Park in Prenzlauer Berg unterwegs“

Und die Musik dazu? Sie knarzt. Und knallt. Als die Bässe in „Never Catch Me“, seinem mit Kendrick Lamar geschriebenen Stück einsetzen, scheinen sie direkt in die Herzkammer vorzudringen, dann wieder machen einen die flirrende Elektronik und das vertrackte Schlagzeug etwas wuschelig, bis einen der weiche Piano-Lauf wieder runterholt. Zwischendurch streut der 33-jährige Musiker Samples in sein Set ein, die genauso schnell kommen wie sie wieder verschwinden. „XO TOUR Llif3“ vom US-Rapper Lil Uzi Verts zum Beispiel („All my friends are dead / Push me to the edge“), Travis Scotts „Antidote“ – und auch Queen meint man zu vernehmen.

Wunderbar auch sein knapp dreiminütiger, verstolperter Remix des „Twin Peaks“-Titeltracks – besser kann man die einbrechende Dämmerung im Mauerpark nicht untermalen. Dazu riecht es zum Teil so stark nach Gras, dass man vom Passivrauchen fast breit wird. Wie passend.

Lasst die Afros wachsen

Gekommen ist vor allem das junge, internationale Berlin. Insgesamt sind laut Veranstalter rund 20.000 Besucher im Park in Prenzlauer Berg unterwegs, darunter auffallend viele Schülerinnen und Schüler. Insbesondere die afroamerikanische Community hat sich rausgeputzt wie für einen Feiertag: Die Frauen sind in supereleganten Kleidern gekommen, die Zöpfe wirken auf den staunenden Betrachter wie Meisterwerke der Haarflechtkunst. Die schwarzen Männer tragen meist Wildwuchsfrisuren, was Flying Lotus zu einer seiner wenigen Ansagen veranlasst: „I see a lot of Afros, let them grow!“.

Etwas unverständlich ist, warum der Sound zuvor bei Thundercat, dessen „Drunk“ auch eines der Highlights des bisherigen Popjahres ist, so dünn erscheint. Wie großartig seine Songs sind, das kam gerade noch rüber – der Mann mit den pinken Rastas spielte Hits wie den weltbesten Katzensong „A Fan’s Mail (Tron Song Suite II)“ und konnte selbst Katzenhasser wie den Autor dieser Zeilen damit überzeugen. Dass Thundercat, der virtuos auf seinem 6-Saiten-Bass auf- und abgleitet, das Zeug dazu hat, den Soul und Funk im 21. Jahrhundert mitzuprägen, konnte man aber nur erahnen.

Am liebsten würde Alina Lanisch ihre Mutter niemals wiedersehen, zu oft wurde sie verletzt. Ihre Mutter ist manisch-depressiv. In der taz.am wochenende vom 24./25. Juni schreibt sie über die Hilflosigkeit einer Tochter, die nie eine Tochter sein konnte. Außerdem: Ein Ex-SED-Funktionär gibt sich als jordanischer Honorarkonsul aus und lebt viele Jahre in einem Schloss. Und: Neil Harbisson ist der erste anerkannte Cyborg der Welt. Im Gespräch erzählt der Brite, wie der Himmel klingt. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.

Bei Flying Lotus hingegen ist mit jeder der knapp 60 Bühnenminuten klar: Dieser Typ ist in Sachen Jazz-HipHop-Fusion aktuell einer der wichtigsten Musiker der Welt. Sein Sound ist unruhig, nervös, zuweilen anstrengend, von ständiger Fluktuation geprägt. Seine Ästhetik ist nicht mehr nur die einer Überforderung, eher die einer kompletten Überdosis. Nach fünf Alben und einem Videospiel-Soundtrack („Grand Theft Auto V“) ist von Flying Lotus, der der Großneffe der Jazz-Musikerin Alice Coltrane ist, als Nächstes übrigens im Sommer sein Debütfilm („Kuso“) zu sehen.

Seine Musik ist in Simon Reynolds’ Buch „Retromania“ mal als „durch und durch Netzmusik“ und „Hip-Hop-Jazz für die ADHS-Generation“ bezeichnet worden. Flying Lotus selbst fragte dagegen einmal rhetorisch in einem Interview: „Warum soll man nicht alle Sachen aus der Vergangenheit mit der neuesten Technologie vermischen und so mit dem Abgefahrensten aufwarten, das man sich vorstellen kann?“

Ja, warum eigentlich nicht?

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