Spaziergang mit Autor Mischa Mangel: Ein Puzzle mit Leerstellen
Was kann man erinnern und was nicht? In seinem Roman „Ein Spalt Luft“ arbeitet Mischa Mangel an der Rekonstruktion einer Kindheit.
Die Mutter eines namenlosen Protagonisten bekommt nach der Geburt eine endogene Psychose und zieht sich in ihre eigene Welt zurück. Der Junge ist als Säugling 21 Monate lang mit seiner kranken Mutter isoliert. Als Erwachsener versucht er zu rekonstruieren, was in dieser Zeit geschah. Und warum der Kontakt zur Mutter später ganz abbrach. Dabei ist er auf die Zeugnisse anderer angewiesen. Die Perspektive der Mutter fehlt.
Das ist die Geschichte in Mischa Mangels bei Suhrkamp erschienenem Debütroman „Ein Spalt Luft“. In Form einer Collage von verschiedenen Erzählstimmen, Gerichts- wie Jugendamtsakten, dystopischen Märchenpassagen und surrealen Sequenzen erzählt Mischa Mangel von der Spurensuche des mittlerweile erwachsenen Jungen. Dazu gehören auch wissenschaftliche Exkurse zu Orna Dornaths Studie „Regretting Motherhood“ sowie der Wirkung des Neuroleptikum Haldol.
Die Geschichte, so legen die Auszüge aus Gerichts- und Jugendamtsakten nahe, ist real, hat sich tatsächlich so zugetragen. Wie nähert man sich so einem Thema literarisch? Der Autor willigt ein, bei einem Spaziergang Einblicke in den Entstehungsprozess des Romans zu geben.
Als Treffpunkt schlägt der 36-Jährige, der zunächst ein Jahr lang Psychologie auf Lehramt und später in Hildesheim Literarisches Schreiben studierte, den Märchenbrunnen im Volkspark Friedrichshain in Berlin vor. Der ausgetrocknete Brunnen, dessen Märchenfiguren, sonst von Kindern bespielt, an diesem stürmischen Tag verwaist sind, könnte nicht besser zu seinem Roman passen. Schließlich spielen in der Erzählwelt von „Ein Spalt Luft“ auch Märchensequenzen eine Rolle.
Mit all dem nicht gerechnet
Mischa Mangel kommt auf die Minute pünktlich zum Eingang des Parks. Er wirkt aufgeregt. Das Interesse an seinem Roman, seiner Person, ist für ihn noch neu. Er erzählt mit leiser Stimme, dass die Veröffentlichung noch immer surreal auf ihn wirke, weil er mit all dem nicht gerechnet habe: Er habe das Schreiben eigentlich gerade aufgeben wollen, als er sich an die Geschichte gesetzt habe: „Ich habe noch mal studiert und dachte, ich werde Lehrer.“ Das Schreibstudium, erklärt er, hatte ihn eher verschreckt: „Ich habe danach verkrampfte Lyrik geschrieben.“ Als er keinen Ehrgeiz mehr bezüglich seines Schreibens hatte, habe er gedacht: „Ich schreibe noch diese Geschichte.“
Mischa Mangel: „Ein Spalt Luft“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 270 Seiten, 22 Euro
Wie kam er zu dem Thema? Auf die Frage nach dem Realitätsgehalt des Romans antwortet er ausweichend, der Fall sei real, die Geschichte, einschließlich der Akten, jedoch stark bearbeitet.
Im Grunde ist die Frage auch egal: Der Roman funktioniert nicht, weil die Geschichte, die in ihm verhandelt wird, eine reale Grundlage hat, sondern weil es Mischa Mangel gelungen ist, eine literarische Übersetzung für ein Thema zu finden, das kein wissenschaftlicher Artikel begreifbar machen könnte: Was die psychische Erkrankung eines Menschen für seine Familie bedeutet. Und was die Abwesenheit eines Elternteils, das Nichtwissen um sein Leben und den Grund für das Nichteinnehmen der Elternrolle mit einem Kind macht.
Genau das, was Literatur Mischa Mangels Meinung nach sollte. „Wenn Literatur einen Sinn hat, dann den, dass man darüber Sachen zeigen kann, die in anderen Sprachen nicht zugänglich sind“, meint er nachdenklich. „Ich habe lange an L’art pour l’art geglaubt. Jetzt spricht mich das nicht mehr an.“ Wie aber ist es ihm gelungen, einem so komplexen Thema literarisch gerecht zu werden? Wie schreibt man eine glaubwürdige psychotische Sicht?
Das Seltsame zulassen
Mischa Mangel meint lapidar: „Übermüdet.“ Er sei sonst dagegen, literarische Prozesse zu überhöhen: „Aber das Schreiben an sich war intuitiv.“ Auch beim Verfassen der Mutter-Stimme, der Sie-Stimme, die auf eine psychotische Wahrnehmung von Welt begrenzt ist, habe er nicht an eine Psychose gedacht: „Ich habe schon davor so ähnlich geschrieben und musste im Schreibstudium oft hören, dass das, was ich schreibe, seltsam sei, unverständlich.“ Er lacht. Und fügt hinzu, dass er natürlich auch recherchiert habe, um endogene Psychosen und Schizophrenie einordnen zu können.
Was es mit einem Kind macht, wenn die eigene Mutter, die Person, die einem Kind sonst die Welt erklärt, die Person, in der sich das Kind spiegelt, diese Welt verzerrt wahrnimmt, wird in Mischa Mangels Darstellung durch das Erleben des Ich-Erzählers eindringlich. Eine Schlüsselszene ist die Analyse der Therapeutin des Ich-Erzählers: „Sehen Sie, dieses Haus brennt nicht. Wenn Sie aber ein kleines Kind sind und Ihnen jemand immer wieder sagt, das Haus dort drüben würde brennen, dann werden Sie irgendwann Ihren Augen nicht mehr trauen und denken, dass das Haus dort in Flammen steht …“
Der Roman, meint Mischa Mangel beim Flanieren, sei letztlich wie ein Puzzle geworden, bei dem die einzelnen Teile nicht unbedingt ineinanderpassen. Ein Puzzle, das kein Gesamtbild ergebe, weil eine Leerstelle bleibe, die durch verschiedene Stimmen und Zugriffe umkreist und dadurch deutlich werde.
Mischa Mangels Stimme ist so sanft und leise, dass sie immer wieder vom Wind und den Gesprächsfetzen Entgegenkommender verschluckt wird. Als sich auf dem Weg eine Gruppe Kindergartenkinder in gelben Warnwesten nähert, bricht das Gespräch ab. Ihr Lachen übertönt alles. Bis ein augenscheinlich alkoholisierter Radfahrer an den Kindern vorbeifährt und grölt: „Dingdangdong! Dingdangdong!“ Mischa Mangel lächelt.
Eine tragische Situation
Auf die Form der Collagierung vieler verschiedener Stimmen, erzählt er, sei er in einem anderen Buch gestoßen, in Olivia Rosenthals Roman „Wir sind nicht da, um zu verschwinden“. Der handele von einem Alzheimer-Patienten, der versucht, seine Frau zu erstechen. „Olivia Rosenthal hat diese Nachricht genommen und darum eine Collage gebaut.“
Bei Mangel ist das ganz ähnlich geschehen. Seine Geschichte sei nach und nach durch Hinzufügen von immer mehr Stimmen entstanden, sagt er. Nach dem Schreiben der literarischen Er- und Sie-Stimmen habe er dem Ganzen eine nüchterne Außensicht entgegensetzen wollen und Auszüge der Gerichtsakten mit reingenommen: „Das hat alles verändert. Es war klar, es muss weitere Stimmen geben.“
Es sei ihm wichtig gewesen, dass sein Roman nicht als Dämonisierungsgeschichte gelesen werde. „Erzählt wird ja aus der Sicht des Kindes. Und das hat, finde ich, ein Recht darauf, wütend zu sein.“ Aber nur diese eingeschränkte Perspektive zu zeigen, meint er, wäre der Komplexität des Falles nicht gerecht geworden: „Es handelt sich schließlich um ein Dilemma, um eine tragische Situation, an der niemand schuld ist.“
Risiken und Nebenwirkungen
Durch die verschiedenen Stimmen und Zugriffe sind im Roman tatsächlich alle Beteiligten zu verstehen. Der Diskurs zu Risiken und Nebenwirkungen des Neuroleptikums Haldol macht auch die Ausweglosigkeit der Situation deutlich: Endogene Psychosen sind nicht heilbar, Neuroleptika können nur die Symptome mildern. Die Nebenwirkungen von Haldol, die im Roman durch bearbeitete Sprache und Zeilenbrüche zu moderner Lyrik werden, sind nicht harmlos. Zu ihnen gehören Psychosen, Depressionen und Bewegungsstörungen.
Psychische Krankheiten, meint Mischa Mangel am Ende des Spaziergangs, seien nach wie vor ein gesellschaftliches Tabu. Körperliche Beschwerden würden eher mechanisch gesehen. „Da geht man halt zur Reparatur und bekommt es gerichtet. Während psychische Leiden weniger nachvollziehbar sind, weil man sie nicht sehen oder nachfühlen kann.“ Psychische Probleme würden daher schnell abgetan. So nach dem Motto: Reiß dich zusammen! Stell dich nicht so an! „Aber wenn du eine Disposition hast, stellst du dich nicht an, dann kannst du da ja nichts für, dann kannst du nicht anders. Die Trennung ist Quatsch.“
„Ein Spalt Luft“ wirft viele Fragen auf. Unter anderem die, ob man bei der Mutter des Erzählers, die bereits vor seiner Geburt wegen psychischen Problemen in Behandlung war, von Reue in Bezug auf die Mutterschaft reden kann, wie der Diskurs zu „Regretting Motherhood“ nahelegt. Oder ob sie nicht schlicht aufgrund ihrer psychischen Disposition mit den Anforderungen der Mutterrolle überfordert war. Nicht zuletzt stellt sich die Frage, ob die Entscheidung des Vaters, den Sohn auch in späteren Jahren zu seinem Schutz von der Mutter fernzuhalten, die richtige war. Das Ende des Romans lässt keine eindeutige Leseweise zu. Mischa Mangel meint: „Das bleibt bewusst offen.“
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