Spaniens Gesellschaft in der Coronakrise: Das Virus, die Stille, der Lärm
Spanier und andere Südeuropäer kollektivieren die Pandemie. Sie zeigen sich der Welt mit Optimismus und Humor über die Balkone hinweg.
Die Straßen sind leer, Kneipen und Geschäfte geschlossen. Kein Hupen, kein lautes Quietschen beim Herunterlassen der Rollläden der Geschäfte. Keine lauten Gespräche an der Straßenecke, keine Schritte, einfach nichts … Doch wer genau hinhört, macht Ungewohntes aus.
Von irgendwoher kommt leises Vogelgezwitscher, entferntes Hundegebell, Läuten von Kirchenglocken. Das Rauschen sich bewegender Bäume, ein Glockenspiel im Wind … Ab und an Wortfetzen aus irgendeinem Fenster. Das Weinen eines Babys in einer Wohnung, etwas Musik, das Klappern von Geschirr … das Leben hat sich hinter die Mauern zurückgezogen.
„Es ist schon eigenartig. Jetzt, wo Madrid schweigt, höre ich die Stadt mehr denn je. Vielleicht weil ich aufmerksamer bin oder weil ich Dinge vermisse, die ich vorher als selbstverständlich angesehen habe“, beschreibt Elvira Sastre in der Tageszeitung El País die von der Krankheit eingenommene Stadt. Die junge Lyrikerin ist nicht die Einzige, die dieser Tage versucht, in das vermeintliche Nichts hineinzuhören.
Die Stille ist in Spanien etwas Unbequemes
Luis Luna, ebenfalls Dichter, wagt den Blick nach innen in einem Land, das sonst so sehr von der Darstellung nach außen geprägt ist. Die akustische Leere habe dieser Tage „einen ungewohnten Stellenwert“ im nach Japan zweitlautesten Land der Welt. „Die Stille ist in Spanien etwas Unbequemes und lässt sich, wenn überhaupt, nur in Begleitung enger Vertrauter herstellen“, sagt er. Und er beobachtet all die Initiativen, mit denen seine Mitmenschen versuchen, die plötzliche Dominanz der Stille zu brechen, ihrer Herr zu werden.
Nachbarn, die sich sonst nur im Vorübergehen auf der Treppe oder im Parkhaus grüßen, spielen stundenlang laut rufend über die Innenhöfe hinweg Bingo-Lotterie oder „Ich sehe was, was du nicht siehst“. Sie treffen sich zum Kaffee von Balkon zu Balkon, machen gemeinsam Yoga und Frühgymnastik. Der Applaus am Abend schließt den Tag ab. „Die Menschen gehen wie hungrige Vögel ans Fenster, bettelnd um Worte, Gesten und Emotionen“, resümiert Luna den neuen Alltag.
„Es ist die Angst vor dem Alleinsein, die Angst vor sich selbst, davor, in sich hineinzuschauen, Angst vor dem Bewusstsein, vor dem Denken“, sagt die Komponistin und Dichterin Lourdes de Abajo. Die Balkoninitiativen würden „die Pandemie verkollektivieren“. Sie machten aus ihr „einen täglichen Ritus“. Das biete „die Möglichkeit, sich der Welt als Subjekt darzustellen, das die Tragödie mit Optimismus und Humor bekämpft“, überlegt de Abajo. „Vielleicht verpassen wir die Chance für inneres Wachstum“, fügt sie hinzu.
Jorge Lago, Verleger und Professor für politische Theorie an der Madrider Universität Carlos III., fragt nach dem Warum dieser andauernden Flucht vor der Stille. „Die Logik der Stille hat viel mit der religiösen Tradition zu tun“, ist er sich sicher. Er verweist darauf, dass die Reformation im Süden Europas nie stattgefunden hat. „Die Gesellschaften im Norden ertragen die Stille leichter“, analysiert er.
Sich mit den eigenen Gespenstern auseinandersetzen
Die Reformation ersetzte die Logik der kirchlichen Gemeinschaft – der Messe – durch eine persönliche Beziehung zu den religiösen Texten. Das gebe dem Selbst, dem Denken und Zweifeln einen neuen Stellenwert. „Die Stille ist der Moment, in dem sich jeder mit seinen eigenen Gespenstern auseinandersetzen und sie akzeptieren muss“, erklärt Lago. Deshalb sei die Leere so unbequem.
Während sich Mittel- und Nordeuropa reformierten, entstand in der katholischen Welt das Barock, geprägt vom „Horror Vacui“, von der Angst vor der Leere und damit auch vor der Stille. Alles muss gefüllt werden. Wohl nirgendwo in Europa seien die barocke Kirchenkunst und Malerei so überladen wie in Spanien, in der Folge auch in Lateinamerika.
Dazu komme, „dass die Gesellschaften im Süden mehr auf Gemeinschaft aufgebaut sind als die im Norden“. Im Norden sei der Staat stärker, sorge mehr für die Bedürfnisse der Bürger als im Süden, wo vieles nur dank gegenseitiger Hilfe funktioniere. Das wiederum schaffe den sozialen Zwang zur Anpassung.
Von der Vertreibung der Juden und Muslime über die Inquisition bis hin zu Bürgerkrieg und Franco-Diktatur – die spanische Geschichte ist voll von Epochen, in denen, wer die dominierenden Parolen nicht nachbetete, in ständigem Verdacht stand. Die Kollektivität sei vor allem eine der Anpassung. In der Öffentlichkeit werde viel fingiert. Es sei oft ein Schauspiel, ja eine Farce, meint Lago deshalb. „Um 20 Uhr zu applaudieren ist letztendlich nichts anderes als eine weitere soziale Norm“, gibt er zu bedenken.
Großer Lärm verdeckt große Stille
Stille kann so vielschichtig sein wie auch Lärm. „Wir sind ein Land, in dem großer Lärm eine große Stille verdeckt“, sagt Isabel Cadenas, Doktorin der Kulturgeschichte und Chefin des Podcasts „De eso no se habla“ – „Darüber spricht man nicht.“ „Wenn du die Aufnahme eines stillen Moments mit der eines anderen stillen Moments überlagerst und dann einem dritten und so weiter, ist das Ergebnis nicht Stille, sondern ein unangenehmes Rauschen. Das ist wohl die beste Metapher für die spanische Realität“, sagt Cadenas.
Sie beschäftigt sich vor allem mit der Vergangenheitsbewältigung oder besser gesagt der mangelhaften Aufarbeitung der Franco-Diktatur. Wie viele ist sie mit dem verängstigten elterlichen Rat „No te signifiques“ – „Tu dich nicht hervor“ – aufgewachsen.
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„In der Franco-Diktatur lernten unsere Eltern und Großeltern ‚weißes Rauschen‘ zu sein“, benutzt Cadenas einen Begriff aus der Physik, der ein aleatorisches Signal bezeichnet, bei dem alle Frequenzen gleich stark sind und sich mischen. „Es war gefährlich, sich hervorzutun. Die anderen konnten wissen, was du denkst, konnten dich deshalb denunzieren. Die Folgen: der Verlust des Zuhauses, die Gefahr, eingesperrt oder gar getötet werden“, so Cadenas.
Die elterliche Empfehlung, sich nicht in Politik einzumischen, zu schweigen, geschehen zu lassen, prägte ihre ganze Jugend, sagt sie – und das, obwohl sie 1984, sieben Jahre nach Ende der Franco-Diktatur, zur Welt kam.
Aussöhnung ohne Blick zurück
„Auch meine Generation hat noch gelernt, zu reden, ohne etwas zu sagen“, meint Cadenas. Hinzu komme die Neutralität, eine vermeintliche Aussöhnung ohne Blick zurück, die in der Zeit des Übergangs zur Demokratie gepredigt wurde. „Als wenn man angesichts dessen, was geschehen ist, neutral sein könnte“, sagt Cadenas.
Erst 25 Jahre nach dem Tod des Diktators öffneten Angehörige der Opfer von Bürgerkrieg und Diktatur die ersten anonymen Massengräber. Und es sollte weitere 11 Jahre dauern, bis der Schrei „Wir haben keine Angst“ überall in Spanien erklang. Es war der 15. Mai 2011. Die sogenannten Empörten hatten überall im Land Plätze besetzt und Protestcamps errichtet, um ihre Wut über die mangelhafte Demokratie, die Korruption und die Bewältigung der Finanzkrise auf Kosten der einfachen Leute zu artikulieren.
Die meist jungen Menschen schüttelten nicht nur die Angst ab, mit der Generationen vor ihnen aufgewachsen waren, sie erfanden etwas, was auf den ersten Blick ein Paradoxon zu sein scheint. „El grito silencioso“ – den „stillen Schrei“. Er bestand darin, eine Minute schweigend dazustehen, die offenen Handflächen in den Abendhimmel gestreckt. Wer dabei war, wird das nie vergessen. Es war ein beeindruckender historischer Moment – in einem Land, das so sehr an den Lärm und so wenig an die Stille gewöhnt ist.
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