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Verschwundene in Franco-Diktatur„Die Diktatur ist noch immer im Alltag“

Lange nach Francos Tod liegen noch 100.000 unidentifizierte Verschwundene in Massengräbern. Die Spuren der Diktatur bleiben sichtbar, sagt der Journalist Emilio Silva.

Emilio Silva bei einer Ausgrabung der ARMH in einem ehemaligen Massengrab 2007 Foto: Mario Fourmy/Rea/laif
Reiner Wandler

Interview von

Reiner Wandler

taz: Herr Silva, am Donnerstag jährt sich zum 50. Mal der Todestag des Diktators Francisco Franco. Vor etwas mehr als 25 Jahren öffneten Sie das Massengrab, in dem Ihr Großvater zusammen mit anderen Opfern der Faschisten verscharrt waren. Was hat sich seitdem verändert?

Emilio Silva: Heute gibt es eine öffentliche Debatte über die Vergangenheit, die es so vor 25 Jahren nicht gab. Bis zum Jahr 2000 waren die Verschwundenen aus den Jahren des Bürgerkrieges und der Diktatur niemals Thema im Parlament. Gleichzeitig gab es Kommissionen, die sich mit den Diktaturen Lateinamerikas und den dort verschwundenen Spaniern beschäftigten. Das Land und seine Politiker schauten nach draußen. Unsere Ausgrabung und alle, die folgten, erreichten, dass Spanien auch nach innen, auf sich selbst schaute.

taz: Es geht um mehr als 100.000 Opfer der Repression, die nach der Ausgrabung von 17.000 Menschen größtenteils noch immer irgendwo in Massengräbern liegen. Dank der Debatte ist es heute üblich, von ihnen als den Verschwundenen zu reden.

Silva: Zu Anfang erschien das vielen Journalisten und Kolumnisten unangebracht. Für sie war das auf Lateinamerika anwendbar, aber nicht auf Spanien. Als wären die Faschisten in Europa, die entführten, folterten und mordeten und dann die Leichen verschwinden ließen, etwas anderes. Als würden solche Barbareien nur die Ex-Kolonien begehen, aber nicht wir hier. Heute bestreitet niemand mehr den Ausdruck „Verschwundene“ für die hiesigen Opfer.

Bild: privat
Im Interview: Emilio Silva

(60) ist Soziologe, Journalist und einer der Gründer der Vereinigung zur Wiedererlangung des Historischen Gedächtnisses. Die Organisation sucht seit 25 Jahren nach den Gräbern der Opfer des Spanischen Bürgerkriegs und der Franco-Diktatur

taz: Es war Ihr Artikel mit dem Titel „Mein Großvater ist auch ein Verschwundener“, der dies vor 25 Jahren bewirkte.

Silva: Es störte viele, dass ich ihn geschrieben hatte. Wenn jemand nicht über das reden will, was geschehen ist, dann ist es oft so, dass er sich an den Worten stört. Im November 2000, einen Monat nachdem ich meinen Großvater ausgegraben hatte, erschien eine Beilage in der größten spanischen Tageszeitung, El País, zum 25. Todestag Francos mit dem Titel „Jene weit zurückliegende Diktatur“. Das sagt viel darüber, wie damals die Stimmung war.

Franco-Diktatur

Die Franco-Diktatur kontrollierte Spanien vom Ende des Spanischen Bürgerkriegs 1939 bis zu den ersten freien Wahlen 1977. Das System war ganz auf die Person des Diktators Francisco Franco ausgerichtet, der bis zu seinem Tod 1975 an der Macht blieb. Franco besetzte alle wichtigen politischen Ämter mit Vertrauten und erließ eigenständig Gesetze, eine Verfassung gab es zu der Zeit in Spanien nicht. Die katholische Kirche arbeitete im Rahmen des „Nationalkatholizismus“ eng mit dem Staat zusammen.

Mit dem Spanischen Bürgerkrieg von 1936 bis 1939 begann Francos Herrschaft in den von der nationalspanischen Koalition beherrschten Teilen Spaniens. Francos faschistische Truppen kämpften drei Jahre lang gegen die Zweite Spanische Republik, unterstützt vom faschistischen Italien und dem nationalsozialistischen Deutschland. Jüngere Forschungsergebnisse gehen von 200.000 bis 500.000 Toten aus.

Rachefeldzüge und politische Säuberungen gingen nach dem Bürgerkrieg weiter. Aktuelle Forschungen gehen davon aus, dass über 143.000 Menschen der Repressionspraktik des „Verschwindenlassens“ zum Opfer fielen. Ein bis heute gültiges Amnestiegesetz verhindert die vollständige Aufklärung.

Die Vereinigung zum Wiedererlangen des historischen Gedächtnisses sucht nach den verschwundenen Opfern der franquistischen Repressionen. Anlass zur Gründung war die erste Ausgrabung eines Massengrabes im Dezember 2000. Sie fand auf Wunsch der Familie von Emilio Silva statt, die ihren Angehörigen finden und bestatten wollte. Bei den Ausgrabungen werden die Toten nach Möglichkeit mit archäologischen und forensischen Methoden identifiziert, um sie ihren Familien übergeben zu können.

taz: Damals vielleicht nicht, aber inzwischen ist es doch eine weit zurückliegende Diktatur. Oder?

Silva: Ganz und gar nicht. Wer zur Universität geht, kommt immer noch an einem riesigen Triumphbogen vorbei, der den Sieg der Franco-Truppen im Bürgerkrieg feiert. Es gibt immer noch Straßen, die nach Faschisten benannt sind, und noch immer über 100.000 Verschwundene, deren sterbliche Überreste nicht geborgen wurden.

Die Diktatur ist immer noch im Alltag. Ein Beispiel: Ich war in einem Städtchen, Manzanares, Ciudad Real, das stolz ein Museum eröffnet, das dem historischen Erinnern gewidmet ist. Zu meiner Überraschung stellte ich fest: Es gibt dort nach wie vor franquistische Tafeln an Gebäuden und faschistische Straßennamen.

taz: Verstößt das nicht gegen das Gesetz?

Silva: Ja, solche Symbole und Straßennamen sind laut Gesetz des Demokratischen Erinnerns von 2022 verboten und müssen entfernt werden. In diesem Fall sind die kommunalen als auch die regionalen Verantwortlichen von der Sozialistischen Partei zuständig. Sie müssten über das Gesetz wachen und nicht wir, die Angehörigenorganisationen.

taz: Und das an einem Ort, der künftig eines der wenigen Museen der Erinnerung haben wird?

Silva: Wir leben in einer Zeit, in der die Regierung die Opfer der Diktatur ehrt und gleichzeitig faschistische Denkmäler stehen lässt. Das sind Denkmäler, die den Schmerz der Opfer feiern. Der Triumphbogen in Madrid feiert den Verlust von Familien wie die meinige als Sieg, der für Spanien notwendig war. Dieses Monument stand dort die letzten 16 Jahre der Diktatur und mittlerweile 50 Jahre in Demokratie, wenige hundert Meter vom Sitz aller Regierungschefs von 1977 bis heute. Alle Minister und Ministerinnen kommen mehrmals in der Woche daran vorbei. Und keiner hat was unternommen.

taz: Wie ist das zu erklären?

Silva: Mit einer politischen Kultur, die noch immer nicht wahrhaben will, dass der Antifaschismus Teil der demokratischen Kultur ist.

taz: Warum?

Silva: Antifaschismus wird als radikale, gefährliche Ideologie gesehen. Diese politische Kultur kommt nicht von ungefähr und es gibt Kräfte, die ein Interesse daran haben, dass sie so bleibt. In Spanien waren es die Eliten, die den Übergang zur Demokratie bestimmten. Dabei bedeutet Demokrat zu sein, Antifaschist zu sein.

taz: Hat dieses Schweigen, dieses Vergessen, dieses Wegschauen dafür gesorgt, dass der Franquismus in der Gesellschaft weiterlebt?

Silva: Wir alle in diesem Land sind soziologisch ein wenig franquistisch. Sonst würden wir es nicht ertragen, mit Denkmälern wie jenem Triumphbogen zu leben, oder mit Tausenden von Straßen, die faschistische Namen tragen. Wir alle tragen den Schaden in uns, den 40 Jahre Diktatur hinterlassen haben. Und den Schaden eines Übergangs zur Demokratie, der die Möglichkeit zugelassen hat, mit öffentlichen Geldern die Franco-Stiftung zu subventionieren und sich gleichzeitig als demokratisch zu bezeichnen.

taz: Wen meinen Sie damit?

Silva: Nicht nur die spanische Rechte, wie viele jetzt antworten würden, sondern auch ihre Weggefährten im Parlament, die das toleriert haben. Diese Kultur war dort über Jahrzehnte präsent. Als das Bildungsministerium des konservativen Ministerpräsidenten von der Partido Popular, José María Aznar, Gelder an die Franco-Stiftung vergab, hätte es einen Aufschrei im Parlament geben müssen. Doch der blieb aus.

taz: Aber jetzt gibt es bereits das zweite Gesetz des Erinnerns und die Franco-Stiftung könnte bald verboten werden.

Silva: Ja, doch bis heute gab es keine einzige Parlamentsdebatte über die Verschwundenen. Unter den permanenten Parlamentskommissionen gibt es keine für Menschenrechte, die einzige Regierungsinstitution für Menschenrechte untersteht dem Außenministerium. Als gäbe es in unserem Land keine Probleme. Und in keinem der beiden Gesetze des Erinnerns von 2007 oder 2022 wird die katholische Kirche und ihre Unterstützung des Franquismus erwähnt. Diese politische Architektur hat jahrzehntelang ein Modell geschaffen, das die Konsequenzen der Diktatur toleriert.

taz: Was mich immer wieder überrascht, sind die Ausgrabungen von Massengräbern. Wie kann es sein, dass sterbliche, menschliche Überreste gefunden werden und kein Richter auftaucht, die Polizei nicht tätig wird?

Silva: Vor Jahren legten wir eine Beschwerde bei der Gerichtsverwaltung ein, mit 45 Anzeigen, die wir bei Polizei und Gericht eingereicht hatten. Darin informierten wir die Behörden über das Auffinden sterblicher menschlicher Überreste mit klaren Spuren von Gewalt. Als kein Richter auftauchte, sagte der Vorsitzende des spanischen Obersten Gerichtsrates: Sie kamen nicht, weil sie die Gesetze so interpretiert haben.

taz: Aber verpflichten die Gesetze die Richter nicht, vor Ort zu sein und Tatbestände aufzunehmen?

Silva: Eigentlich schon, sie müssten dort auftauchen. Anschließend können sie interpretieren, wie sie mit den Informationen umgehen. Immer wieder stoßen wir auch auf Richter, die versuchen, die Ausgrabungen zu verhindern.

taz: Es geht um weit über 100.000 Verschwundene, das scheint ganz klar ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu sein. Fand eine gerichtliche Aufarbeitung der Diktatur statt?

Silva: In den 50 Jahre, die seit der Diktatur vergangen sind, wurde kein einziger der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen vor Gericht gestellt. Unmittelbar nach den ersten Wahlen nach dem Tod des Diktators erließ das Parlament eine Amnestie, sowohl für die Verfolgten der Diktatur als auch für die Täter. Es war also eine Selbstamnestierung derer, die Verbrechen gegen die Menschenrechte begangen hatten.

Keine Regierung hat dieses Amnestiegesetz annulliert. Wir haben immer wieder Anzeige erstattet, wenn wir ein Massengrab fanden, vergebens. Die Opfer, die wir ausgegraben haben, sind alle Zivilisten, die abgeführt und hingerichtet wurden, weil sie Demokraten, Linke, Gewerkschafter waren.

taz: Dürften solche Verbrechen überhaupt verjähren oder amnestiert werden?

Silva: Nein, eigentlich nicht. Im Jahr 2010 suchten deshalb 16 Familien ein Gericht außerhalb Spaniens, in Buenos Aires in Argentinien. Sie beriefen sich auf das universelle internationale Recht. Das Verfahren ist noch nicht abgeschlossen, aber es ist das Einzige, das es jemals gegen den Franquismus gab. Die argentinische Justiz beruft sich auf die gleichen Rechtsgrundlagen, mit denen spanische Gerichte den chilenischen Diktator Augusto Pinochet verfolgten und von London die Auslieferung forderten. Spanien tut alles, damit dieses Verfahren behindert wird. Die gleiche spanische Justiz, die gegen Pinochet vorging, hat in den letzten 15 Jahren kein einziges Mal mit den argentinischen Ermittlungen kooperiert.

taz: Was ist das Beste, das in den 25 Jahren seit der ersten Ausgrabung passiert ist?

Silva: All die Familien, denen wir helfen konnten, die Ihrigen zu finden und zu identifizieren. Und endgültig Sicherheit darüber zu haben, was mit ihnen geschehen war.

taz: Und das Schlechteste?

Silva: Nicht die gesellschaftliche Kraft gehabt zu haben – und ich glaube, dass das viel mit Angst zu tun hat –, um genügend politischen Druck aufzubauen für eine wirkliche Wiedergutmachung für die Opfer, und Gerechtigkeit für sie zu erreichen – und dass der Gesellschaft die Wahrheit darüber erzählt wird, was den Opfern widerfuhr und was die Henker anrichteten.

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