Spahns Intensivpflege-Stärkungsgesetz: Die Teilhabe darf nicht zerbröseln
Dass Schwerstkranke rund um die Uhr intensivmedizinisch zu Hause versorgt werden können, ist eine Errungenschaft. Wir können stolz darauf sein.
W er wissen will, wie man als Politiker Menschen viel Angst machen kann, der muss sich nur Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) und seinen Referentenentwurf zum Reha- und Intensivpflege-Stärkungsgesetz anschauen.
Das Gesetz betrifft Menschen, die 24 Stunden lang intensivmedizinischer Pflege durch Fachkräfte bedürfen wie etwa Dauerbeatmung mit Gerätehilfe und Absaugung der Atemwege. Diese Personen sollen künftig „regelhaft“ nur noch in Heimen oder Pflege-WGs betreut werden. Nur wenn dies „nicht zumutbar“ sei, so der Entwurf, könne diese Intensivpflege künftig durch Fachkräfte auch im Haushalt oder in der Familie erbracht und finanziert werden.
Ein Proteststurm von Schwerstbehinderten und deren Angehörigen folgte. Spahn ruderte in einem Interview zurück: Es seien ja nur diejenigen betroffen, die in der Regel „nicht selbst entscheiden“ könnten, die sich „nicht artikulieren“ könnten, wo sie gepflegt werden wollten. Umgehend meldeten sich entsetzte Angehörige zu Wort, die um die häusliche Pflege ihrer Lieben bangten.
Man muss sich mal die Gefühlslage der Leute und ihrer Familien vorstellen: Hier geht es um Menschen, die nicht nur Hilfe beim Anziehen, Waschen, Essen brauchen, sondern die ununterbrochene Hilfe zum Erhalt der Vitalfunktionen benötigen. Ist der Computer eines Patienten mit fortgeschrittener amyotropher Lateralsklerose (ALS) nicht richtig eingestellt oder wird er nicht ständig abgelesen von einer Pflegekraft, ist der oder die Betroffene stumm und hilflos eingeschlossen in den Körper, denn die Kommunikation über ein mit den Augen gesteuertes Tablet ist die einzige Möglichkeit, sich überhaupt noch zu äußern.
20.000 Euro Kosten im Monat
Es ist völlig klar, dass es diese PatientInnen und deren Angehörige in Panik versetzt, wenn ein Minister droht, per Gesetz die Finanzierung der häuslichen 1:1-Intensivpflege zu kippen. Für diese PatientInnen macht es einen Riesenunterschied, ob sie zu Hause in einer 1:1-Betreuung fachmedizinisch rund um die Uhr versorgt werden oder in einer Pflege-WG leben müssen, wo bestenfalls nur eine Fachkraft zwischen drei PatientInnen hin und her hetzt und Angehörige nur zu Besuch kommen.
Der Anspruch auf außerklinische intensivmedizinische Pflege zu Hause ist erst 1999 durch ein Urteil des Bundessozialgerichts gefestigt worden. Eine Fachkraft für IntensivpatientInnen kostet laut dem Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa) mit allen Sozialbeiträgen etwa 4.000 Euro im Monat, bei einer Betreuung rund um die Uhr, inklusive Urlaub, Krankheitsausfällen et cetera rechnet der Verband mit fünf Fachkräften, also mit 20.000 Euro an Kosten im Monat.
Davon unterscheiden muss man die häusliche Rund-um-die-Uhr-Pflege Schwerstbehinderter im Rollstuhl durch AssistentInnen, wenn die PatientInnen aber nicht der intensivmedizinischen Betreuung bedürfen und vor allem unter das Bundesteilhabegesetz fallen. Sozialgerichte errechneten hier Kosten von 12.000 Euro im Monat für mehrere AssistentInnen im Vollschichtbetrieb.
Unter das Teilhabegesetz fallen Menschen mit Behinderungen, deren Beeinträchtigung laut Sozialgesetzbuch „von dem für das Lebensalter typischen Zustand abweicht“, die also jünger sind. Wer im Alter pflegebedürftig wird oder etwa eine Demenz entwickelt, für den ist wiederum die Pflegekasse zuständig mit maximalen Leistungen von nur 2.000 Euro im Monat für ambulante Pflegekräfte.
An der Ethik der Teilhabe sollte niemand rütteln
In den Kommentarspalten der Onlinemedien gibt es „Gerechtigkeitsdiskussionen“ über diese Unterschiede. Doch es verbietet sich, Schwache gegen Schwache auszuspielen und womöglich die Bedingungen für eine Gruppe zu verschlechtern, um angeblich für mehr „Gerechtigkeit“ zu sorgen.
Zu den traurigen Konsequenzen der Staffelungen gehört allerdings der Missbrauch der teuren häuslichen Intensivpflege. Der dauerhaft über einen Luftröhrenschnitt beatmete Patient ist profitabel für die Pflegedienste. Die Deutsche Interdisziplinäre Gesellschaft für außerklinische Beatmung (Digab) beklagt, dass viele PatientInnen mit Luftröhrenschnitten dauerhaft ans Beatmungsgerät gefesselt bleiben, weil die Pflegedienste damit viel Geld verdienen, obwohl beispielsweise auch eine weniger invasive Beatmung über eine Maske, unterstützt von PflegeassistentInnen, ausreichend wäre. Es ist richtig, hier mehr fachliche Kontrolle einzuführen, wie es auch der Gesetzentwurf von Spahn vorsieht.
Eine ganz andere Sache aber ist es, per Gesetz die außerklinische Intensivpflege 1:1 in häuslicher Umgebung kurzerhand zu kippen beziehungsweise zur Ausnahme zu machen, weil es dabei so viel Missbrauch gibt. Im übertragenen Sinne käme dies der Maßnahme gleich, Autos abzuschaffen, nur weil einige Fahrer in unverantwortlicher Art und Weise damit umgehen, heißt es in der Digab-Erklärung.
Spahn versucht zu beruhigen, es werde ja noch lange über den Referentenentwurf diskutiert, sagt er. Wahrscheinlich wird es keine „Zwangseinweisungen“ ins Heim durch die Krankenkassen geben, die von den Sozialgerichten ohnehin kassiert würden. Aber im Gesetzentwurf sollte der Anspruch auf häusliche Versorgung in der außerklinischen Intensivpflege grundsätzlich festgeschrieben werden, nur das würde vielen Betroffenen ihre Ängste nehmen.
Dass Schwerst-Eingeschränkte heute mit ihren klobigen Rollstühlen, Sprachcomputern, brummenden Beatmungsgeräten, ihren muskelbepackten HelferInnen in Ministerien demonstrieren, dass sie nicht mehr in irgendwelchen Heimen verschwinden, das ist ein Fortschritt, auf den wir stolz sein können. An der Ethik der Teilhabe sollte niemand rütteln, auch wenn die Kosten im Einzelfall hoch sein mögen. Wenn Werte erst mal zerbröseln, ist es kaum möglich, sie wieder aufzubauen.
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