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Späte ErmittlungenFragwürdige Todesfälle

Mehr als 100 Patienten könnte ein Krankenpfleger des Klinikums Delmenhorst bis 2005 getötet haben. Erst jetzt wird der Fall untersucht.

Im Fokus der Kameras: Nils H. und seine Anwältin beim Prozessauftakt am 11. September in Oldenburg. Bild: dpa

HANNOVER taz | Die Staatsanwaltschaft Oldenburg weitet ihre Ermittlungen gegen den wegen versuchten Mordes inhaftierten ehemaligen Krankenpfleger Niels H. massiv aus. Ab sofort würden erstmals sämtliche Todesfälle, die sich während seiner Dienstzeit auf der Intensivstation des Klinikums Delmenhorst ereignet hätten, untersucht, so Staatsanwalt Martin Rüppell zur taz. Deren Zahl läge bei „über 100“.

Der Krankenpfleger war 2008 zu siebeneinhalb Jahren Gefängnisstrafe verurteilt worden. Das Landgericht Oldenburg sah es als erwiesen an, dass er 2005 einem Patienten eine Überdosis des Medikaments Gilurytmal gespritzt hat, die zu lebensbedrohlichen Herzrhythmusstörungen führen kann – der Mann überlebte nur knapp. Aktuell läuft ein weiteres Verfahren gegen Niels H.: Ihm werden drei zusätzliche Morde und zwei Mordversuche zur Last gelegt, ebenfalls begangen auf der Intensivstation des Klinikums Delmenhorst.

Nach Aussagen „von Seiten des Krankenhauspersonals und von Angehörigen Verstorbener“ habe sich die Staatsanwaltschaft nun zu noch weitergehenden Ermittlungen entschlossen, so deren Sprecher Rüppell – schließlich soll sich der heute 37-jährige Krankenpfleger vor Mithäftlingen selbst als „den größten Serienmörder der Nachkriegsgeschichte“ bezeichnet haben.

Als Motiv könnte Geltungssucht in Frage kommen: Niels H. habe nach Verabreichung der Überdosen seine guten Kenntnisse im Bereich der Reanimation darstellen wollen, vermuten die Ermittler. „Er war ein begeisterter Retter“, hatte ein früherer Oberarzt des Klinikums im laufenden Prozess ausgesagt. Allerdings könnte auch Langeweile Auslöser der Taten gewesen sein.

Fatales Vertrauen

Schon am 22. Juni 2005 wurde Niels H. in einem Krankenzimmer beobachtet, in dem er nichts zu suchen hatte. Der Alarm zur Überwachung des Patienten war ausgeschaltet. In seinem Pflegerkittel wurde ein Gegenmittel für das in Überdosen gespritzte Gilurytmal gefunden.

Weiterarbeiten durfte H. trotzdem noch fast eine Woche - verhaftet wurde er erst am 8. Juli.

Aufgefallen war der vervierfachte Verbrauch von Gilurytmal bis dahin nicht: Bestellt wurde vom wechselnden Nachtdienst, jede Statistik fehlte.

Mediziner sollen jetzt die Todesursachen aller Patienten, die während der Dienstzeit des Krankenpflegers von Dezember 2002 bis Juni 2005 verstarben, „auf Plausibilität“ prüfen. Bei Unregelmäßigkeiten will die Staatsanwaltschaft dann Obduktionen anordnen – allerdings nur bei Toten, die nicht feuerbestattet wurden. In diesen Fällen sei der Gilurytmal-Wirkstoff Ajmalin noch immer nachweisbar, hofft Staatsanwalt Rüppell.

Für Vertreter der Nebenklage kommt die plötzliche Betriebsamkeit der Ankläger dagegen viel zu spät. Von einem „neun Jahre dauernden Ermittlungsboykott“ spricht etwa die Delmenhorster Anwältin Gaby Lübben, die die Angehörigen von drei verstorbenen PatientInnen vertritt.

Schon 2005 sei klar gewesen, dass sich die Todesfälle auf der Intensivstation während der Dienstzeit von Niels H. verdoppelt hatten – der Verbrauch des Medikaments Gilurytmal vervierfachte sich sogar. Und die H. belastenden Aussagen der Mitgefangenen lägen auch bereits seit Ende 2012 vor. Die Juristin denkt deshalb darüber nach, ob aus politischen Gründen zunächst zögerlich ermittelt wurde: „Ich frage mich, ob Schadenersatzansprüche vom Klinikum abgewendet werden sollten.“

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1 Kommentar

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  • Die Frage, die sich mir stellt, ist die nach den Kontrollmechanismen in den Kliniken. Es gibt sicher einen gewissen Prozentsatz vom Personal aller Kliniken, die zu solchem Handeln neigen - aus den unterschiedlichsten Motiven heraus. Vermutlich bleibt das auch nie unbemerkt, aber bis offen darüber geredet wird, können bereits mehrere Patienten zu Opfern geworden sein. Eine sorgfältige Statistik kann helfen, solche Dinge nachträglich aufzuklären, aber nur zu oft ist die wohl gar nicht im Interesse der Klinikleitungen. Schwieriges Gelände für alle Beteiligten.