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Soziologin über Antisemitismusresolution„Repression ist nicht der richtige Weg“

Die Bundestagsresolution zum Schutz jüdischen Lebens verenge das Problem Antisemitismus zu sehr, kritisiert die Soziologin Paula-Irene Villa Braslavsky.

Free-Palestine-Demo an der Universität der Künste in Berlin im Dezember 2023 Foto: Piotr Pietrus
Frederik Eikmanns
Interview von Frederik Eikmanns

taz: Frau Villa Braslavsky, am Donnerstag wollen die Ampel-Fraktionen und die Union im Bundestag eine Resolution gegen Antisemitismus verabschieden. Was stört Sie am Inhalt?

Paula-Irene Villa Braslavsky: Das Kernproblem ist die Verengung des Antisemitismusbegriffs auf die sogenannte IHRA-Definition und deren Kopplung mit Förderfragen. Die IHRA soll „maßgeblich“ dafür sein, welche Organisationen und Projekte staatliches Geld bekommen – oder eben nicht mehr. In einer früheren Version war die Formulierung sogar noch schärfer.

taz: Manche finden, die IHRA-Definition stufe auch Positionen als antisemitisch ein, die eigentlich bloß legitime Kritik an der israelischen Politik sind.

Villa Braslavsky: Ich lehne die IHRA-Definition nicht grundlegend ab und es gibt tatsächlich Antisemitismus, der sich als Kritik an Israel tarnt. Aber aus gutem Grund ist in der Wissenschaft und auch zivilgesellschaftlich umstritten, wo genau Antisemitismus anfängt. Da will die Politik nun hineinreden und eine bestimmte Version festschreiben. Das ist hochproblematisch. Und dafür ist das IHRA-Dokument auch gar nicht gedacht. Das Dokument gibt entlang von Beispielen eher einen Überblick darüber, wo sich Antisemitismus verbergen kann.

Im Interview: Paula-Irene Villa Braslavsky

Paula-Irene Villa Braslavsky ist Professorin für Soziologie und Gender Studies an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

taz: Sie haben zusammen mit anderen Intellektuellen in der FAZ Alternativvorschläge für die Resolution gemacht.

Villa Braslavsky: Uns hat auch irritiert, dass aus dem Inhalt der Resolution so lange ein Geheimnis gemacht wurde, genauso wie aus dem Zeitplan und dem Stand der Verhandlungen. Wir haben das zum Anlass genommen, um unsere Alternative zu formulieren.

taz: Was schlagen Sie vor?

Villa Braslavsky: Wir fordern zunächst die systematische Anerkennung und aktive Berücksichtigung von jüdischem Leben in seiner Vielfalt. Wir schlagen zudem vor, nicht eine einzelne Definition von Antisemitismus absolut zu setzen und keine Eindeutigkeit zu suggerieren, wo keine ist. Stattdessen können mehrere Definitionen nebeneinander stehen. Dafür muss man anerkennen, dass Antisemitismus nicht im luftleeren Raum für alle Situationen und Konstellationen definierbar ist.

taz: Wie soll dann verhindert werden, dass staatliches Geld an antisemitische Organisationen und Projekte fließt?

Villa Braslavsky: Bundestagsresolutionen verhindern das eh nicht, sie sind ja rechtlich unverbindlich. Daher muss diese Frage immer im Einzelnen und je nach Förderform spezifisch abgewogen werden, auch abhängig von dem entsprechenden Feld, etwa Wissenschaft oder Kultur. Und es müssen Kriterien entwickelt werden, die die Autonomie von Wissenschaft, Kultur, Medien respektieren. Ansonsten gilt, zu Recht, das Recht.

taz: Auch an anderen Stellen sind Ihre Forderungen deutlich vorsichtiger und flexibler als die Bundestagsresolution, die ja nicht nur mehr Kontrolle bei der Auszahlungen staatlicher Gelder fordert, sondern auch Verschärfungen im Straf- und Aufenthaltsrecht.

Villa Braslavsky: Wir wollen Antisemitismus nicht verharmlosen und unterschätzen. Wir setzen auf gesellschaftliche Selbstaufklärung statt auf Repression. Es braucht die öffentliche Auseinandersetzung, wie etwa den Streit um die Documenta 2022 oder um die Pro-Palästina-Camps an den deutschen Unis.

taz: Halten Sie die Diskussion um Antisemitismus, wie wir sie in den letzten Jahren erlebt haben, wirklich für erstrebenswert?

Villa Braslavsky: Die Diskussionen waren und bleiben wichtig, auch wenn das Niveau teils unterirdisch und toxisch ist. Aber da müssen wir durch, da sind wir alle gefordert. Diskussionen sind immer individuelle, organisationale und gesellschaftliche Lernchancen. Die Alternative ist Autoritarismus.

taz: Ist das nicht etwas naiv?

Villa Braslavsky: Das ist keine triviale Frage für mich, ich bin ja selbst jüdisch. Es kann immer sein, dass man falsch liegt; es mag also naiv sein, ja. Ich glaube aber, dass der repressive Ansatz der Bundestagsresolution nicht der richtige Weg ist. Vielleicht muss man manchmal ein Stück Naivität wagen und uns allen zutrauen, dass wir an Konflikten und Auseinandersetzungen lernen.

taz: Der Resolutionstext des Bundestags widmet sich sehr ausführlich Antisemitismus an Universitäten. Erleben Sie als Professorin das auch als ein großes Problem?

Villa Braslavsky: So wie es in der Gesamtgesellschaft Antisemitismus gibt, findet er sich auch an den Unis. Da muss man hinschauen. Eine Studie im Auftrag des Bildungsministeriums hat vor kurzem aber auch gezeigt, dass Studierende im Schnitt weniger antisemitisch sind, als Durchschnittsbürger*innen.

taz: Der Resolutionstext suggeriert etwas anderes.

Villa Braslavsky: In der Resolution steckt auch Ideologie und Populismus. Da wird die Wissenschaft als dubioser Gegner suggeriert. Das Muster ließ sich ja dieses Jahr auch schon beobachten, als das Bundesbildungsministerium Listen mit politisch nicht opportunen Wis­sen­schaft­le­r*in­nen erstellt hat, denen die Förderung entzogen werden sollte. Das ist sehr dubios, bis heute ist das nicht angemessen aufgeklärt. So oder anders, man will in Deutschland Antisemitismus immer gern bei spezifischen gesellschaftlichen Gruppen identifizieren – nie in der Mehrheitsgesellschaft, nie bei sich.

taz: Gilt das auch für den starken Fokus der Bundestagsresolution auf Antisemitismus unter Mus­li­m*in­nen und Migrant*innen?

Villa Braslavsky: Es gibt zweifellos Antisemitismus in diesen Bevölkerungsgruppen, und den muss man bekämpfen. Aber hinter Begriffen wie „importiertem Antisemitismus“ verbirgt sich ja die Vorstellung, der Judenhass komme nur von außen. Dabei zieht sich der Antisemitismus nicht nur durch die Geschichte der Bundesrepublik, er ist für den Wohlstand und das politische System der Nachkriegs-BRD wesentlich. Arisierung und andere Verbrechen aus dem Nationalsozialismus wirken fort, kulturell, politisch und ökonomisch, bis in die einzelnen Familien und Menschen hinein. Wir wissen zudem aus wissenschaftlichen Befragungen, dass auch heute viele Menschen in der Mehrheitsbevölkerung antisemitischen Aussagen zustimmen. Es ist pervers, das einfach beiseite zu wischen und bloß über Mi­gran­t*in­nen reden zu wollen. Und nur nebenbei: Ich bin ja auch Migrantin, so wie übrigens die meisten Jü­d*in­nen in Deutschland heute.

taz: Anders als die Bundestagsresolution betonen Sie und ihre Kol­le­g*in­nen besonders die Vielschichtigkeit jüdischen Lebens in Deutschland.

Villa Braslavsky: Pluralismus ist ein essenzieller Teil der jüdischen Community. Der Zentralrat erhebt zwar den Anspruch, die Ju­den*­Jü­din­nen in Deutschland zu vertreten. Aber es gibt auch sehr viele jüdische Menschen, die nicht in Gemeinden organisiert sind. Das wirft Fragen auf, die es auch in vielen anderen gesellschaftlichen Gruppen gibt. Wer spricht etwa für „die“ LGBTQI-Community? Der Queer-Beauftragte in Berlin? Spricht die Frauenbeauftragte an einer Uni für „die“ Wissenschaftlerinnen oder Studentinnen? Ich glaube, die Antwort ist immer, dass keine einzelne Person oder Organisation für alle spricht. Die Vielstimmigkeit muss gehört werden und alle aktiv beteiligt werden.

taz: Und damit tut die deutsche Politik sich schwer?

Villa Braslavsky: Nicht nur die Politik. Jüdischer Pluralismus gehört nicht zur Vorstellungswelt der Deutschen. Es gab hier eine Massenvernichtung alles Jüdischen. Die Pluralität wurde vergast und dieses Land will sich daran lieber nicht zu genau erinnern.

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8 Kommentare

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  • Warum wiegeln eigentlich so viele Leute den panarabischen, muslimischen Antisemitismus derart ab?

    Explizit kritisiert wird dieser Antisemitismus, der btw von NS-Ideologen und dem unsäglichen Verschwörungsmythos der sog. "Weisen von Zion" befeuert wurde, es gibt einen Haufen deutsche Muslime, die ihn kritisieren, und aus der Warte arabischer und persischer Menschenrechtsaktivisten passiert das auch durchaus. Leider gibt es aber inzwischen in allen Islam-geprägten Staaten einen Antisemtismus, der sich nur teils als westlich andockbarer Antizionismus gibt.

    Hier wird gern so getan, als wäre man antimuslimisch oder rechtsextrem, wenn man den Antisemitismus islamischer Prägung kritisiert. Nein, möchte ich sagen, es ist ja auch nicht jeder Antisemit, der die Regierung Israels kritisiert, gell?

  • Ich finde Frau Villa-Braslavskys Plädoyer für eine gewisse Naivität gelinde gesagt heikel. Letztlich läuft diese Haltung darauf hinaus, dass man möglichst nachsichtig mit Antisemitismus verfahren sollte. Und leider ist es genau das, was man gegenwärtig in Wissenschaft, Kultur und Medien praktiziert.



    Gerade den muslimischen Antisemitismus hat man im Diskurs jahrelang verharmlost oder sogar ignoriert, für den linken Antisemitismus gilt das gleiche. Dass sich das gegenwärtig auch durch Druck aus der Politik ändert, ist zu begrüßen, auch wenn es leider mal wieder typisch ist, dass die CDU ihre völlig hysterischen Abschiebeforderungen mit der Antisemitismusdebatte verknüpfen möchte.



    Davon abgesehen stelle ich mir die Frage, ob bei Frau Villa-Braslavsky wirklich ein Interesse daran besteht sich mit dem Problem zu befassen, wenn sie auf die vor Fehlern nur so strotzende Mannheim-Studie rekurriert. Das Forschungsdesign dieser Studie ist gelinde gesagt schludrig konzipiert und eine Soziologin sollte das erkennen.



    Eine kurze Kritik findet sich hier:

    kritischebildung.d...raege/policyreport

  • "Daher muss diese Frage immer im Einzelnen und je nach Förderform spezifisch abgewogen werden, auch abhängig von dem entsprechenden Feld, etwa Wissenschaft oder Kultur. Und es müssen Kriterien entwickelt werden, die die Autonomie von Wissenschaft, Kultur, Medien respektieren."

    Mit anderen Worten: In Bereichen, wo Antisemitismus kein Problem ist, wie in den harten Naturwissenschaften, da kann man gerne klare Kante bei den Förderrichtlinien zeigen. Aber in anderen Gebieten, wo ein antisemitischer Unterton eine wichtige Strömung ist, da soll das von den Förderinstitutionen gefälligst respektiert werden - das gehört einfach zur gewachsenen Kultur dieser Felder!

  • Das ist ein sehr kluges Interview mit einer sehr genau differenzierenden Gesprächspartnerin. Vielen Dank und mehr davon!

  • "Wir wollen Antisemitismus nicht verharmlosen und unterschätzen."

    -->Mag sein, dass es Frau Villa Braslavsky persönlich nicht darum geht, quasi allen anderen Akteuren der "Kritik" an der Resulotion geht es aber genau darum: Verharmlosung von Antisemitismus als "Israelkritik".

    "Es braucht die öffentliche Auseinandersetzung, wie etwa den Streit um die Documenta 2022 oder um die Pro-Palästina-Camps an den deutschen Unis."

    -->Genau diese Beispiele zeigen doch, dass es Repression braucht. Was ist denn mit den Antisemiten der Documenta im Nachgang passiert? Richtig, die sitzen zur Belohnung für die "gesellschaftliche Debatte" auf gut dotierten Versorgungspöstchen.

    Und die Palästina-"Proteste" an den Unis? Die Videos aus der HU zeigen deutlich, wohin das Appeasement geführt hat: Vandalismus, Feindmarkierung und lupenreiner Antisemitismus.

    Nein, bezüglich Antisemitismus braucht es klare Kante. Mit rechtsextremen Antisemiten würde Frau Professorin doch auch kein Propädeutikum über die Vorzüge und Nachteile des 3. Reichs abhalten.

    Jeder Antisemitismus verdient nichts anderes als Repression. Jeder. Ausnahmslos.

  • Gutes und wichtiges Interview. Perspektiven auf jüdisches Leben, insbesondere aus der Community sind für unseren gesellschaftlichen Umgang mit dem Thema Antisemitismus essentiell. Wie sie auch sagt: Es wäre Eitel sich anzumaßen als Regierung, Organisation, Verein oder religiöse Einrichtung im Namen aller Jüdinnen und Juden zu sprechen. Insbesondere Deutsche Politiker*innen sollten derzeit lieber zuhören als reden.

  • Ich würde Frau Villa-Braslavsky an einigen Stellen widersprechen: "importierter Antisemitismus" bezieht sich sicher nicht auf den Antisemitismus weißer Eliten aus Argentinien (wie die Interviewte), sondern natürlich auf Teile der Migranten aus der islamischen Welt, die (leider!) mit antisemitischen Stereotypen aufwachsen. Es bringt überhaupt nichts, dieses Problem herunterzuspielen, dieser Antisemitismus existiert genauso wie der unter Deutschen verbreitete Antisemitismus. Der Debatte hilft es auch nicht, die sog. Mannheimer Studie zu zitieren, die mit äußerst fragwürdigen Methoden herausgefunden haben will, dass das akademische Milieu weniger antisemitisch sei als der Rest - als Soziologin weiß die Interviewte um die problematischen Methoden der Studie und bedient sich, indem sie die Studie trotzdem anführt, selbst einer populistischen Strategie. Ich fürchte, so kommen wir alle nicht weiter.

  • Wissenschaft, Abwägung, Differenzierung, Kontextualisierung, Vorsicht, Ambiguitätstoleranz, Bereitschaft zu Debatte und Austausch. All das fehlt Frau Braslavsky in der Diskussion. Zu Recht! Ich meine, wer würde das bestreiten?



    Ich vermute, dass es den meisten Bundestagsabgeordneten um das Abhaken einer Pflicht geht: Der Bundestag muss zum 07.10. 23 und den Folgen in Deutschland etwas sagen, das eindeutig daherkommt und keine negative Presse vonseiten der Empörungsorgane auf sich zieht. Das kann man am besten sicherstellen, indem man die Hauptschuld Migrant*innen, am besten noch den falschen, also Muslimen zuschiebt. Wie bei der BDS-Resolution werden sich von der Frage "antisemitisch oder nicht?" überforderte Verwaltungen, die mit der Förderung von Kultur/Wissenschaft/Zivilgesellschaft befasst sind, auf die intellektuell bequeme und gut in Ja/Nein-Entscheidungen umsetzbare Eindeutigkeit des Textes zurückziehen.