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Soziologe über ostdeutsche Identität„Das begann erst nach der Wende“

Kann jemand, der nicht in der DDR geboren wurde, eine Ost-Identität haben? Geht schon, sagt der Soziologe Raj Kollmorgen.

Keine Angst: Auch mit Ostidentität können Sie role model und Vorbild sein Foto: dpa
Daniel Schulz
Interview von Daniel Schulz

Taz: Herr Kollmorgen, wir haben gerade eine Debatte um die Frage, wieviel Ostdeutsche und Migranten gemeinsam haben. Eine Frage wird dabei von jungen Menschen aus Ostdeutschland immer wieder gestellt: „Bin ich eigentlich Ostdeutsche, obwohl ich nicht in der DDR geboren bin? Gehöre ich dazu?“ Wie würden Sie das beantworten?

Raj Kollmorgen: Eine Ost-Identität ist nicht zwangsläufig daran geknüpft, in der DDR geboren zu sein. Die Fremd- und die Selbstwahrnehmung als Ostdeutsche hat sich erst nach 1990 herausgebildet. Als klar wurde, dass die Wiedervereinigung schwieriger werden würde als gedacht. Als Menschen aus Ostdeutschland massenhaft ihre Arbeit verloren haben oder ihnen westdeutsche Chefs vorgesetzt wurden, als sie in Medien als faul und vormodern beschrieben wurden. Identitäten formieren sich immer dann besonders intensiv und werden wirkmächtig, wenn sie bedroht erscheinen und soziale Desintegration herrscht.

Kann man die Ost-Identität von der DDR abkoppeln?

Nein, natürlich wird beim Entwickeln einer Ost-Identität auf die DDR-Geschichte und die damaligen Erfahrungen zurückgegriffen. Oder auf Geschichten und Geschichte, von denen Menschen gehört haben.

Welche Rolle spielt diese Ost-Identität heute?

Erst einmal ist sie für viele Menschen eine Identität unter vielen, neben anderen sozialen Identitäten wie beruflichen, also etwa als Maurer oder Forscher, der regionalen Identität als Leipziger oder Rügener, der Identität als Vater oder Mutter. Insgesamt hat die Bedeutung der Ost-Identität in den vergangenen Jahren eher abgenommen. Zugleich unterliegt die Stärke, mit der eine ostdeutsche Identität empfunden wird, bestimmten Wellen.

Was heißt das?

Debatte Ostdeutsche und Migranten

Die einen haben ihr Land verlassen, die anderen wurden von ihrem Land verlassen. Migranten und Ostdeutsche haben viel gemeinsam, sagt die Soziologin und Integrationsforscherin Naika Foroutan. Heimatverlust, Diskriminierungen, Suche nach Identität. Seit ihrem Interview mit der taz am 12. Mai debattiert die Republik ihre Thesen, die Veranstaltungen zum Thema beim taz.lab im April und am 26. Juni im taz-Café waren voll. Es gibt eine Debattenreihe in der Zeitung und auf taz.de. Und wir werden die Diskussion weiterführen.

Im Trend nimmt die Bedeutung der ostdeutschen Identität eher ab, gerade bei den Jüngeren. Heute begreifen sich bei den über 60-Jährigen etwa ein Viertel als vollwertige Bundesbürger, aber bei den unter 40-Jährigen sind das 40 Prozent. Die Werte für eine Selbstidentifikation als Ostdeutsche und Ostdeutscher stellen sich entsprechend umgekehrt dar.

Die Ost-Identität stirbt also einen biologischen Tod?

Nein, denn Identitätsbildung hat immer damit zu tun, wie andere über mich oder uns als soziale Gruppe reden, mit Machtkämpfen in einer Gesellschaft, damit, ob mich andere einer Gemeinschaft zuordnen.

Die eigene Identität wird von anderen gemacht?

Bevor in den 90er Jahren die westdeutsche Mehrheitsgesellschaft nicht nur kollektivierend, sondern im Regelfall auch abwertend über Ostdeutsche gesprochen hat, haben sich viele Ostdeutsche gar nicht so sehr als Gemeinschaft gesehen. Sie sind gleichsam von außen, durch Dritte vereinheitlicht worden und dazu mussten sie sich verhalten. Teils haben sie diese Zuschreibung angenommen, teils haben sie sich aktiv gegen die Stigmatisierung als Looser und Zurückgebliebene gewehrt.

Und könnte es einen ähnlichen Effekt haben, wenn Ostdeutsche in der Debatte um Pegida und die AfD verallgemeinernd als Rassisten dargestellt werden?

Ich bin da mit Urteilen vorsichtig. Es gibt nun einmal ein größeres Problem mit Rechtsextremismus in Ostdeutschland. Klar ist aber, dass die AfD in Ostdeutschland als neue ostdeutsche Regionalpartei auftritt und diese identitäre Ressource exzessiv nutzt. Es ist in Sachsen zu beobachten, dass als Reaktion auf die Anschuldigung, dort wären alle Rassisten, so eine Art sächsische Volksidentität beschworen wird. Es wird betont, wie leistungsbereit, strebsam und fleißig man sei und wie unabhängig im Denken.

Hat die Herausbildung einer Ost-Identität auch etwas mit sozialem Status zu tun?

Eindeutig. Je höher gebildet jemand ist, je höher sein Einkommen ist und je erfolgreicher jemand erwerbstätig ist, desto mehr fühlt sich die- oder derjenige als Teil der Bundesrepublik. Und umgekehrt.

Bild: Hochschule Zittau/Görlitz
Im Interview: Raj Kollmorgen

wurde 1963 in Leipzig geboren und promovierte 1999 in Jena in Soziologie. Er arbeitete neben Deutschland auch in Kanada und Rumänien. Seit März 2013 ist er Professor für Management sozialen Wandels an der Hochschule Zittau/Görlitz.

Identitäten sind, Sie sagen das selbst, etwas Künstliches. Warum schenken wir ihnen so viel Aufmerksamkeit?

Dieses Argument, Identitäten seien konstruiert und deshalb weniger relevant, ist wenig sinnvoll. In unseren komplexen Gesellschaften ist alles sozial konstruiert. Nation ist eine Konstruktion, Geld ist eine Konstruktion. Aber daraus zu schließen, dass diese Gebilde nicht oder kaum wirkmächtig wären, ist offenkundig falsch.

Lässt sich daraus schlussfolgern, dass junge Menschen, die sich die Frage stellen, ob sie noch eine Ost-Identität haben, schon dabei sind, eine solche aufzubauen?

Nein, die Frage zustellen, heißt nicht gleich auch die Antwort zu geben. Junge Menschen stellen solche Fragen, wenn sich die bisherigen Gewissheiten ihrer Welt auflösen. Durch das Abnabeln vom Elternhaus, sexuelles Erwachen, die neuen Herausforderungen und Menschen, auf die sie in Ausbildung oder Studium treffen. Sie suchen nach Ressourcen, um mit diesen Situationen umzugehen, und Herkunft oder Identitäten können solche Ressourcen repräsentieren, um sich zum Beispiel zu erklären, warum einem gerade etwas genau so oder so widerfährt. Und: Wie ich darauf angemessen reagieren kann. Deswegen muss man noch nicht zum Ostalgiker werden.

Ostalgikerin ist nun nicht die einzig mögliche Ost-Identität, oder?

Nein, man kann das sehr selbstbewusst und innovativ vortragen. Das haben Initiativen wie zum Beispiel die „3. Generation Ost“ auch gemacht. Die haben sich mit ihrer Elterngeneration auseinandergesetzt. Nicht ganz so konfliktreich wie die 68er mit ihren Eltern vielleicht, aber doch inhaltlich hart. Sie haben Fragen gestellt, wie: Wie konntet ihr damals so leben? Wie habt ihr das balanciert zwischen persönlichen Freiheiten in der Lebenswelt und Unfreiheiten in den Systemen? Warum redet Ihr so wenig darüber? Und wie konnte das Regime eigentlich zum Sturz gebracht werden?

Wenn ich in Ostdeutschland unterwegs bin, begegnen mir des Öfteren junge Leute, die die DDR verklären. Sind die eine statistisch relevante Größe?

Derzeit nicht. Viele Menschen aus Ostdeutschland sind bekanntlich nach 1989 migriert, nämlich nach Westdeutschland. Vor allem mobile Menschen, junge Frauen, Gebildete. Wer heute gerade in den ländlichen Räumen mit vielen alten Menschen aufwächst, der ist natürlich anfälliger für die Erzählungen von der tollen DDR. Einfach weil sie solche Erzählungen öfter hören und weil viele der dort Lebenden nach 1990 Verlusterfahrungen gemacht haben. Aber prozentual bewegt sich das im einstelligen Bereich.

Zählen eigentlich die Weggezogenen als Ostdeutsche?

In vielen Statistiken kurioserweise nicht. Da wird nach dem Wohnort gefragt und nicht nach den Eltern oder der eigenen Herkunft.

Dabei bilden vielleicht gerade die, die sich in Westdeutschland durchsetzen müssen besonders starke ostdeutsche Identitäten aus.

Das wäre zumindest möglich.

Naika Foroutan hat die These aufgestellt, die Ost-Identität würde für junge Menschen in Ostdeutschland wieder wichtiger werden. Ist das plausibel?

Absolut. Schauen Sie in die USA. Als die weiße Mehrheitsgesellschaft bemerkte, dass sie bald nicht mehr die Mehrheit stellt, sondern die Latinos und die Afroamerikaner, da ging eine neue Debatte los, was es eigentlich bedeutet, ein echter Amerikaner oder eine Amerikanerin zu sein. Die bundesdeutsche Gesellschaft merkt auch, dass sie nicht mehr das relativ homogene Gebilde ist, das sie oft noch vorgibt zu sein. Dabei spielen die Ostdeutschen und gerade auch die neuen Generationen eine wichtige Rolle. Aber stärker noch die Gruppen der Migrantinnen und Migranten. Die Debatten werden heftiger werden. Wobei heftiger nicht unbedingt schlechter heißt, sondern hoffentlich offener und ehrlicher.

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