Soziologe über die UNO: „Eine jämmerliche Weltmacht“
Die UN verabschieden ihre neuen Entwicklungsziele. Jean Ziegler, Mitglied im UN-Menschenrechtsrat, findet, die Agenda verschweige die Lösungen.
taz.am wochenende: Herr Ziegler, die UNO beschließt gerade in einem feierlichen Akt ihre „Ziele für nachhaltige Entwicklung“. Eines der Ziele ist sichere Migration, und, so steht es in der Charta, sie soll möglich gemacht werden durch gut organisierte Migrationspolitik. Gleichzeitig ertrinken im Mittelmeer Flüchtlinge. Wie passt das zusammen?
Jean Ziegler: Da muss man unterscheiden. Hier geht es um Flucht, nicht um Migration. Migration ist ein Menschenrecht, das in der allgemeinen Deklaration der Menschenrechte garantiert wird. Jeder darf sein Land verlassen und zurückkehren. Das Asylrecht der UN-Flüchtlingskonvention von 1951 dagegen besagt, dass jeder, der aus rassistischen, politischen oder religiösen Gründen verfolgt wird, Grenzen überschreiten und Schutz suchen darf. Diese Rechte werden derzeit auch in Europa massiv verletzt. Und die EU reagiert nicht.
In den Zielen für nachhaltige Entwicklung stehen lauter gute Absichten: Demokratie, Wohlstand, Umweltschutz. Sie arbeiten selbst seit Langem in UN-Gremien. Was nützen diese Ziele, wenn sie in der Realität so wenig gelten?
Wenn die Ziele realisiert würden, wären sie eine unglaubliche Hilfe. Wenn Syrien oder Afghanistan Rechtsstaaten wären, dann würden die Leute auch nicht ihr Heil in der Flucht suchen. Aber das Problem bei den Entwicklungszielen ist – wie immer bei der UNO –, dass sie nichts über die Ursachen sagen. Ziel Nummer zwei heißt: den Hunger beenden. Kein Wort darüber, warum es Hunger gibt, das fürchterliche tägliche Massaker. Laut FAO, der Ernährungsorganisation der UNO, verhungert alle fünf Sekunden ein Kind unter zehn Jahren. Das Ziel sagt nicht, was getan werden muss, um das zu beenden: Börsenspekulation auf Grundnahrungsmittel verbieten, die Überschuldung der ärmsten 50 Länder streichen, Landraub stoppen. Das Recht auf Saatgut, auf Dünger, auf Bewässerung, auf den Boden, auf dem die Familie lebt – das alles muss in einer Konvention für die Rechte der Bauern festgelegt werden. Aber diese Konvention kommt in der UNO nicht durch. Dann gibt es das Problem der Wirtschaftsflüchtlinge, die in der Flüchtlingskonvention von 1951 nicht vorgesehen sind. Um sie aufzunehmen, müssen wir die Konvention neu verhandeln.
Ist das realistisch? Außer Ihnen redet davon niemand.
Weil alle Angst haben, dass dann die gesamte Konvention zerstört würde. Es gibt inzwischen auch in Europa so viele fremdenfeindliche Kräfte, die am liebsten die Flüchtlingskonvention abschaffen würden.
81, Schweizer, ist Mitglied im Beratenden Ausschusses des UN-Menschenrechtsrats. 2000 bis 2008 war er UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Sein aktuelles Buch heißt „Ändere die Welt!“ und ist im Bertelsmann Verlag erschienen.
Das klingt so, als ob Sie die Entwicklungsziele für sinnlos halten.
Überhaupt nicht! Sie sind eine gute Sache. Sie sind ein neuer Anlauf, um die Tragödien detailliert darzustellen, die die Welt verwüsten. Dass in New York 160 Staatschefs den Text absegnen, finde ich gut, das gibt ihm politische Verbindlichkeit. Und die Ziele sind ja zwischen den Staaten verhandelt worden. Das ist anders und besser als bei den Millenniumszielen von 2000, die von Experten erstellt wurden. Und die waren ja auch ein totaler Misserfolg. Statt die Zahl der Hungernden zu halbieren, haben wir heute fast 900 Millionen permanent schwerst unterernährte Menschen.
Und trotzdem finden Sie die Ziele eine gute Idee?
Die UNO ist siebzig Jahre nach ihrem Entstehen eine jämmerliche Weltmacht. Aber die Ziele für nachhaltige Entwicklung sagen wenigstens, welche Welt die UNO erschaffen sollte. Sie zeigen Gegenentwürfe zu denen, die sagen, dass die Marktkräfte wie Naturgesetze herrschen.
Heute: An diesem Wochenende beschließt die UNO die „Ziele für nachhaltige Entwicklung“, die bis 2030 umgesetzt werden sollen. Die Agenda umfasst 17 grundlegende Entwicklungsziele, die in 169 Unterpunkten ausgeführt werden. Darunter sind zum Beispiel: Armut und Hunger beenden, ein gesundes Leben für alle Menschen gewährleisten, Geschlechtergerechtigkeit herstellen, Ungleichheit in und zwischen Staaten verringern und den Klimawandel bekämpfen.
Gestern: Im Unterschied zu den Millenniumszielen, die 2000 verabschiedet wurden, gelten die Ziele für nachhaltige Entwicklung nicht nur für Entwicklungsländer, sondern für alle Staaten.
Die UNO ist nur so stark, wie die Mitglieder es erlauben.
Nein, nein, das sagt die UNO immer, aber das ist ganz falsch. Die Vereinten Nationen wurden als autonome Weltmacht konzipiert. Natürlich ist das ein Konglomerat von 193 Mitgliedstaaten, aber die Charta ist ein normatives Gebilde.
Was bräuchte es denn, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung robuster zu machen?
Nirgendwo in den Entwicklungsziele gibt es einen Hinweis, wo die Fronten verlaufen, wer die Gegner sind, wo gekämpft werden muss und mit welchen Waffen: Totalentschuldung der Ärmsten, die Rechte der Bauern gegen die Hedgefonds absichern, einen Gerichtsstand im Land der Hedgefonds festlegen. All diese Werkzeuge, die es bräuchte, um die Ziele für nachhaltige Entwicklung durchzusetzen, werden nicht benannt. Weil die großen kapitalistischen Interessen dagegenstehen. Nehmen Sie die Wasserversorgung. Da müsste einfach stehen: Die Privatisierung muss verboten werden. Punkt! Dann müsste klar gesagt werden: Das Recht auf Wasser und das Recht auf Nahrung sind universelle Menschenrechte.
Willkürliche Wahlen, Bomben in den kurdischen Gebieten, Präsident Erdogan, der um die Macht kämpft. Wohin führt der Weg der Türkei? Rückt sie näher an den Nahen Osten? Was geschieht mit den Kurden? Fragen, die sechs Kulturschaffende aus der Türkei in der taz.am Wochenende vom 26./27. September diskutieren – bei einer Flasche Schnaps. Außerdem: Das Massaker an den Studenten in Mexiko jährt sich am 26. September. Und: Allergien, die Plagegeister der modernen Industrienation. Warum das so ist und was wir über sie wissen. Das alles – am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Ein solches Recht wäre einklagbar. Deshalb wollen es die Regierungen nicht.
Es gibt Initiativen, die gerade das Recht auf Nahrung einklagen. Beispiel Landraub: Der Chef des Konzerns Addax, Jean-Claude Gandur, sitzt hier in Genf. Derzeit bereiten Bauern, die durch seine Firma in Sierra Leone vertrieben wurden, hier eine Klage vor. Es ist entscheidend, dass das zuständige Gericht in einem Rechtsstaat sitzt, wo die meisten Konzerne ihren Hauptsitz haben, und nicht in einem korrupten Land wie Sierra Leone.
Wo sind die Ziele denn auf einem guten Weg?
(langes Schweigen) Das ist fast nicht zu beantworten. Die Ziele für nachhaltige Entwicklung zeigen ja gerade keinen Weg. Es leben 1,1 Milliarden Menschen von weniger als 1,25 Dollar am Tag, so wie extreme Armut von der Weltbank definiert wird. Die Mittel, um sie zu beenden, wären zum Beispiel Mindestlöhne und massive Investitionen in Krankenhäuser und Schulen.
Die Hilfsorganisation Oxfam sagt, der Weg zur Armutsbekämpfung hieße: Umverteilung.
Da hat Oxfam recht. Ein Prozent der Weltbevölkerung besitzt so viel Vermögen wie die anderen 99 Prozent. Und die 500 größten multinationalen Konzerne kontrollieren 52,8 Prozent des Weltbruttosozialprodukts. Um die UN-Ziele zu erreichen, müssten sie mit der Umverteilung Ernst machen: das Finanzsystem bändigen, Steuerparadiese schließen, damit die Konzerne Steuern zahlen und sich an der Umverteilung beteiligen. Das ist alles machbar. Es gibt in der Demokratie keine Ohnmacht.
Wie meinen Sie das?
Es gibt nur ein historisches Subjekt, das ist der Mensch. Es gibt keine autonom agierenden Marktkräfte, keine Naturgesetze, die die Kapitalflüsse bestimmen. Die menschliche Macht kann von Menschen gebrochen werden, durch den Aufstand des Gewissens, durch die Zivilgesellschaft. Und die ist ja weiß Gott lebendig in Deutschland. Ich war beim G-7-Gipfel in München und habe da vor 45.000 Menschen geredet. Ich war tief beeindruckt. Die da oben in Elmau, das waren und sind nur die Befehlsempfänger der Konzerne.
Das sind gewählte Volksvertreter, und sie machen die Regeln.
Herr Schäuble ist nicht vom Himmel gefallen. Der ist, wo er ist, durch Delegation des souveränen Volkes. Dem können wir sagen: Im November, bei der nächsten Generalversammlung des Weltwährungsfonds in Washington, stimmst du nicht mehr für die Gläubigerbanken in Frankfurt und anderswo, sondern für die Totalentschuldung der ärmsten Nationen, damit sie Schulen und Krankenhäuser bauen können.
Viele Ihrer Forderungen werden sich nicht erfüllen. Was gibt Ihnen trotzdem Hoffnung?
Meine Erfahrung mit der Widerstandskraft der Menschen, die man zum Beispiel auf dem Weltsozialforum trifft: Bauerngewerkschaften in Afrika, die gegen Landraub kämpfen. Gruppen, die ihr Trinkwasser schützen. Fünf Jahre nach dem Wasseraufstand in Bolivien 2000 wurde dort Evo Morales gewählt, der erste indianische Präsident, von einem Volk, das jahrhundertelang als lethargisch bezeichnet wurde. Er hat 221 Minen, Öl- und Gasfirmen verstaatlicht und jetzt leben die Bolivianer wie Menschen. Auch die deutsche Zivilgesellschaft hat mich beeindruckt, die Proteste in München und in Heiligendamm, Greenpeace, Attac, IG Metall und so weiter. Deutschland ist die viertgrößte Wirtschaftsmacht der Welt und hat gleichzeitig die lebendigste Demokratie Europas. Dieser weltweite Widerstand gegen die Oligarchen des globalisierten Finanzkapitals, das ist eine großartige Erfahrung.
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