Soziologe über Heimat und Demokratie : Stärken revitalisieren!
Die liberale Demokratie steckt in einer Legitimationskrise. Ob linker Populismus oder eine Stärkung der sogenannten Mitte sinnvolle Lösungsstrategien sind, daran zweifelt Aladin El-Mafaalani.
taz FUTURZWEI | „Beheimatet sein“ könnte man als Gefühl von Orientierung und Sinn, von Bindung und Zugehörigkeit verstehen. Ein Ort oder Kontext, an dem es passt. Heimatlos zu sein, wird in der Regel als Problem wahrgenommen. Zwar wird Heimatlosigkeit manchmal auch als Triebkraft gesehen, etwa bei Künstlern. Aber auch ein Künstler findet dann doch seine Heimat in der Kunst, in der Leidenschaft, zum Beispiel in der leidvollen Suche nach Heimat.
Liberale Demokratien haben genau hier ihre wahrscheinlich größte Schwäche: Sie können nicht die sozialen Bindungen und kollektiven Zugehörigkeiten selbst schaffen, auf die sie angewiesen sind. Man könnte zugespitzt formulieren: Sie leben von etwas, an dem sie Raubbau betreiben.
Aladin El-Mafaalani ist Professor für Soziologie an der TU Dortmund.
Bücher: „Das Integrationsparadox“ (2018), „Mythos Bildung“ (2020) sowie „Kinder - Minderheit ohne Schutz“ (2025). Sein neues Buch „Misstrauensgemeinschaften: Zur Anziehungskraft von Populismus und Verschwörungsideologien“, ist kürzlich bei Kiepenheuer & Witsch erschienen.
Aus ganz unterschiedlichen Stoßrichtungen haben Soziologen dieses Problem beschrieben. Ralf Dahrendorf hat hierfür den Begriff „Ligaturen“ reserviert und bereits früh die These vertreten, dass wenn in einer modernen Gesellschaft alles möglich und damit gleich gültig wird, am Ende nichts mehr geht, weil alles gleichgültig wird. Aus einer ganz anderen Perspektive hat dies Pierre Bourdieu mit dem Begriff „Doxa“ bezeichnet: Er versteht darunter die Selbstverständlichkeiten, die die soziale Ordnung stabilisieren – und damit auch die Herrschaftsverhältnisse.
Verlust des Zusammenhalts
Sobald die Doxa, also das Selbstverständliche, neu ausgehandelt wird, entstehen Konflikte.
Wenn man diese beiden Perspektiven nimmt, hat man das Spannungsfeld aufgespannt und erkennt ein Muster: Sinnstiftendes und Herrschaftsverhältnisse sind derart ineinander verschränkt, dass man mit jeder emanzipatorischen Errungenschaft, also mit jeder gelungenen Bekämpfung von Ungerechtigkeit, immer auch Orientierung verliert.
Man stelle sich einen großen schmutzigen Schneeball vor. Viele versuchen gleichzeitig, den Dreck rauszukratzen und dabei geht immer auch weißer Schnee verloren; eine ganze Weile geht das gut, aber irgendwann droht das, was man eigentlich bewahren wollte, instabil zu werden. Der Zusammenhalt geht verloren.
taz FUTURZWEI, das Magazin für Zukunft – Ausgabe N°35: Wohnzimmer der Gesellschaft
Demokratie braucht Orte des Gemeinsamen, Wohnzimmer der Gesellschaft. Die damit verbundenen positiven Gefühle konstituieren Heimat. Mit jeder geschlossenen Kneipe, leerstehenden Schule, verödenden Ortsmitte geht das Gefühl des Gemeinsamen, geht Heimat verloren. Das ist ein zentraler Zusammenhang mit dem Aufstieg des Rechtspopulismus.
Mit: Aladin El-Mafaalani, Melika Foroutan, Arno Frank, Ruth Fuentes, Maja Göpel, Stephan Grünewald, Wolf Lotter, Luisa Neubauer, Jana Sophia Nolle, Paulina Unfried, Nora Zabel und Harald Welzer.
In der Vergangenheit haben eine gemeinsame ethnische Herkunft, das gleiche religiöse Bekenntnis und/oder die geteilten nationalen Traditionen soziale Kohäsion und Orientierung gegeben.
Das waren kulturelle Grundlagen für Heimatgefühle jenseits des Eigenheims und der Familie. In den fortgeschrittenen liberalen Demokratien stellen genau diese historisch gewachsenen Grundlagen eher die Triebfeder für soziale Konflikte dar – und sind die zentralen Themen von antidemokratischen Strömungen, die, seitdem sie wachsen, auch das Heimatgefühl der liberalen Demokraten stört.
Mobilisierungsstrategien statt Lösungsansätze
Ein Zurück in die „gute alte Zeit“, als Ethnie, Religion und Tradition noch für Ordnung und Stabilität sorgten, wäre eine Lösung gegen die liberale Demokratie – es ist die Lösung der Populisten. Ob die liberale Demokratie durch einen linken Populismus verteidigt werden sollte, was die Schlussfolgerung etwa von Chantal Mouffe ist, oder besser durch eine Stärkung der politischen Mitte, eine Strategie, die Robert Habeck regelrecht verkörpert, scheint mir gar nicht der richtige Streitpunkt zu sein. Das sind eher Wahlkampf- oder zumindest Mobilisierungsstrategien, nicht Lösungsansätze für das eigentliche Problem. Es geht um etwas anderes.
Das Gefühl der Entfremdung – so sollte man den Verlust von Heimatgefühlen bezeichnen – ist kein neues Phänomen. Es begleitet gesellschaftlichen Wandel und Fortschritt seit jeher. Damit wird man leben müssen. Und das wäre auch nicht schlimm, wenn der Alltag einigermaßen gelingt und der allgemeine Glauben daran vorherrscht, dass Dinge besser werden können.
Der Staat in einer Legitimationskrise
Ein Staat, der alles komplizierter macht als nötig und gleichzeitig sein Kerngeschäft vernachlässigt, verliert Vertrauen. Wenn äußere Sicherheit, Bildung und Mobilität zunehmend weniger gewährleistet sind und auch wenig darauf hindeutet, dass es morgen besser aussieht als heute, dann sind Staat (und mit ihm dann immer auch die) Demokratie zu Recht in einer Legitimationskrise.
Die Ideen der Libertären (Kettensäge – alles auf Neuanfang) und der Populisten (Vergangenheit als bessere Zukunft) erscheinen dann für viele Menschen verheißungsvoller als eine zunehmend dysfunktionale Gegenwart, in der die Zukunftsziele nur noch darin zu bestehen scheinen, so wenig wie möglich zu verlieren.
Das eigentliche Problem liegt also darin, dass die Schwächen der liberalen Demokratie immer intensiver erlebt werden und viele Stärken kaum mehr wahrnehmbar sind. Die eigentliche Strategie müsste sein, die Stärken zu revitalisieren. Dann lässt es sich mit den Schwächen, die sich wahrscheinlich nicht auflösen lassen, auch besser leben.
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