Soziologe über Corona-Maßnahmen: „Es geht immer um die Balance“
Jahrzehntelang war Risikomanagement individuelle Angelegenheit. Jetzt im Kollektiv zu denken, fällt manchen schwer, sagt Andreas Reckwitz.
taz: Herr Reckwitz, der Shutdown ist ein soziales Großexperiment. Was erkennen wir da?
Andreas Reckwitz: Wir erleben staatliches Katastrophenmanagement, ohne dass die Katastrophe bereits vollständig eingetreten ist. Man versucht vielmehr, mit Präventionsmaßnahmen Risiken zu minimieren. Wir bewegen uns im Stadium staatlichen Risikomanagements, allerdings in einer Totalität, die wir bislang nicht kannten.
In dieser Krise sind, was vor zwei Wochen noch unvorstellbar war, Grundrechte leichthändig und fast widerstandslos aufgehoben worden. Wie bedenklich ist das?
Bedenklich ist eine Einschränkung von Grundrechten immer. Als kurzfristige Maßnahme ist sie in diesem Fall wohl gut zu rechtfertigen. Bedenklich wäre es, wenn das politische Risikomanagement suggerieren würde, Maßnahmen seien alternativlos, weil von der Wissenschaft vorgegeben. Es gibt natürlich wissenschaftliche Argumente der Virologen, aber es handelt sich immer um politische Entscheidungen, die kontingent sind. Das macht ja das Politische aus.
geb. 1970 in Witten. Soziologe und Kulturwissenschaftler. Professor für Vergleichende Kultursoziologie an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder. Veröffentlichte zuletzt: „Die Gesellschaft der Singularitäten. Zum Strukturwandel der Moderne. (Suhrkamp, 2017); „Das Ende der Illusionen. Politik, Ökonomie und Kultur in der Spätmoderne“, (Suhrkamp, 2019).
Es ist charakteristisch für jedes Risikomanagement, dass das eine Risiko, das man minimieren will – eine hohe Infektionsrate in kurzer Zeit –, andere Risiken hervorbringt – die Einschränkung der Persönlichkeitsrechte, ökonomische Risiken, psychische Risiken langer Ausgangssperren. Beim Risikomanagement geht es immer um eine Balance zwischen Vor- und Nachteilen, nie um das einzig Richtige.
Einige Jüngere haben unverdrossen Corona-Partys gefeiert. Was bedeutet das?
In den letzten Jahrzehnten war Risikomanagement fast ausschließlich eine individuelle Angelegenheit. Der Einzelne sollte für sich selbst vorsorgen und sich schützen, alles ist eine Frage der Eigenverantwortung. Die nun geforderte Denkweise, die Risiken der anderen zu minimieren, also im Kollektiv zu denken, scheint manchen schwerzufallen.
Ist die individualisierte Gesellschaft, die um Selbstverwirklichung kreist, zu der Solidarität fähig, die nun nötig ist?
Zunächst scheint es tatsächlich, dass die spätmoderne Gesellschaft auf die Anforderungen eines kollektiven Risikoregimes nicht gut vorbereitet ist. Der Wandel von den Pflicht- zu den Selbstverwirklichungswerten ist tiefgreifend. Dass eigene Wünsche und Bedürfnisse beschnitten werden, ist ungewohnt. Es gibt aber auch eine andere Seite.
In den spätmodernen Alltagspraktiken existiert eine erhebliche Experimentierfreude und Flexibilität, gerade in der urbanen, jüngeren Mittelklasse. Man kann sich gut auf ungewohnte Situationen einstellen. Das sehen wir jetzt ja auch. Von der spontanen Nachbarschaftshilfe bis zur Intensivierung der digitalen Kommunikation werden in der Krise neue Möglichkeiten ausprobiert.
Welche klassenspezifische Auswirkungen hat Corona?
Das ist ein entscheidender Punkt. Einerseits kann man natürlich sagen: Die Corona-Krise betrifft alle. Aber die Art der Betroffenheit unterscheidet die Klassen und Milieus deutlich. Es ist ein entscheidender Unterschied, ob Homeoffice möglich ist – wie teilweise in der Wissensarbeit – und Gehälter weitergezahlt werden oder angesichts des Einbruchs der Nachfrage die Existenz in Gefahr ist. Das gilt für einfache Serviceberufe ebenso wie für Kulturschaffende oder Unternehmer im Einzelhandel.
Nichts wird mehr so sein wie zuvor, heißt es überall. Aber was genau? Kann man erkennen, was die Corona-Krise politisch und ökonomisch verändern wird?
Mit solchen Dramatisierungen bin ich erst einmal vorsichtig. Für Soziologen geht es ja immer um die Longue durée des Strukturwandels. Es ist die Frage, welchen Einfluss einzelne, auch sehr einschneidende Ereignisse haben. Die große Unbekannte ist hier sicher, wie tiefgreifend die ökonomische Krise sein wird. Davon abgesehen vermute ich, dass sich nach der Corona-Krise Wandlungsprozesse, die bereits vorher begonnen haben, verstärken.
Zum Beispiel?
Erstens wird diese Krise die Digitalisierung der Gesellschaft vermutlich forcieren. Denn im Zuge der Krise greift man auf digitale Instrumente zurück: Homeoffice, Digital Learning, digitale Beratung und Betreuung, Onlinekonsum. Das soziale Leben setzt in der Welt des Digitalen keine körperliche Anwesenheit voraus, was nun ein Vorteil ist. Es ist wahrscheinlich, dass man danach auf diesen Erfahrungen aufbaut. Zweitens ist zu vermuten, dass die Krise das Bewusstsein dafür fördert, dass Globalisierungsprozesse mehr Regeln benötigen.
Also, der Nationalstaat wird als zentraler, stärkerer Akteur wiederkehren?
Ja, das ist der dritte Bereich, unabhängig von der Frage, ob die staatlichen Instanzen eher national oder supranational organisiert sind. Man muss da etwas ausholen. Von 1945 bis in die 1970er dominierte in den westlichen Gesellschaften von politisch links bis rechts ein Regulierungsparadigma. Ein ökonomisch und sozial aktiver Staat ging Hand in Hand mit politischen Gemeinschaftsvorstellungen.
In den 70ern geriet es in eine Krise, es folgte ein liberales Dynamisierungsparadigma, in dem Deregulierung und Entgrenzung im Mittelpunkt standen. Im ökonomischen Neoliberalismus einerseits, im kulturellen Linksliberalismus andererseits. Seit 2010 ist dieses Modell in die Defensive geraten. Die Finanzkrise war hier sicher ein Einschnitt, und der Aufstieg des Populismus ist ein Symptom. Wir befinden uns seit etwa 2010 in einer Phase des politischen Paradigmenwechsels. Die Corona-Krise könnte dies noch anheizen.
Markiert Corona das Ende des Neoliberalismus?
Das wäre zu einfach. Man erkennt jetzt aber, dass die Gesellschaft auf staatliche Regulierungsfähigkeit angewiesen ist, die man in den letzten Jahrzehnten vernachlässigt hat, etwa ein funktionierendes öffentliches Gesundheitssystem. Ob in Reaktion auf die Corona-Krise auch gesellschaftliche Solidaritätsbeziehungen, ein neuer Gemeinsinn gefördert wird – das wird man abwarten müssen.
Die Frage ist, wie das neue Paradigma aussehen kann. Vieles spricht dafür, dass es stärker die gesellschaftliche Dynamik reguliert, ohne nostalgisch in die „formierte Gesellschaft“ der Nachkriegszeit zurückzuwollen. Die Alternative zum Populismus wäre also eine Art einbettender Liberalismus.
Die Folgen der neoliberalen Wende sind aber immer noch da. Ungleichheit nimmt in vielen OECD-Staaten weiter zu. Die Nationalstaaten sind unfähig, die globale Steuerflucht zu beenden. Ist der einbettende Liberalismus, von dem Sie sprechen, eine Beschreibung struktureller Verschiebungen? Oder eine Forderung?
Mir scheint, dass wir uns gegenwärtig in einer Situation des politischen Paradigmenwechsels ähnlich wie in den 1970er Jahren befinden. Man erkennt in manchen Bereichen einen politischen Bewusstseinswandel, etwa wenn es in den USA um die Krankenversicherung oder in Deutschland um die Stärkung der Pflegeberufe oder die Mietpreisbremse geht. Oder international in der Fridays-for-Future-Bewegung. Zu einem kompletten neuen Paradigma verdichtet hat sich das gegenwärtig noch nicht.
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