Sozialleistungssystem in Großbritannien: Ein Angriff auf die Armen
Alle Sozialleistungen sollen im „Universal Credit“ vereint werden. So saniert Großbritannien den Sozialstaat. Aber das neue System steigert die Not.
Als die Mahnbriefe kamen, musste sie Freunde und Familie um Hilfe bitten. Als dann endlich gezahlt wurde, stand sie schlechter da als zuvor – und muss von dem Geld auch noch das staatliche Notdarlehen abstottern, das die Übergangszeit erleichtern sollte.
„Ich schäme mich“, sagt Tamara. „Und trotzdem muss ich mich glücklich schätzen, dass ich Menschen habe, die mir helfen konnten.“
Tamara ist nicht ihr wirklicher Name, die Londonerin bittet um Anonymität. Bis zum Sommer arbeitete sie als Kunstlehrerin für Kinder, auf Teilzeit, aufgestockt vom Staat. Grund dafür ist ihr Gesundheitszustand: Sie leidet unter schweren Asthmaattacken, mit unerwarteten und teilweise längeren Krankenhausaufenthalten, seit einem guten Jahr auch akuter Immunschwäche. Arbeit mit Kindern wurde da zu riskant, sie sprach mit ihrer Sozialbehörde über einen Arbeitsplatzwechsel. Dort empfahl man ihr, sich kurz arbeitsunfähig schreiben zu lassen, „was mir dann mehrere Monate Zeit gäbe, eine neue Anstellung zu finden.“
Als Wundermittel des Wohlfahrtssystems geplant
Erst als es zu spät war, erfuhr Tamara, dass die Behörde sie falsch beraten hatte. In ihrer Gegend war nämlich das neue Sozialprogramm „Universal Credit“ (UC) angelaufen. Wer in einem solchen Testgebiet Sozialleistungen bezieht, fällt bei jeder Statusänderung aus dem alten System heraus und ins neue UC-System hinein.
Tamara musste einen völlig neuen Antrag stellen. Bisher ist unklar, ob ihre Gesundheit berücksichtigt wird. Erst mal erhält Tamara monatlich jetzt an Sozialleistungen einschließlich Wohngeld 1.284 Pfund (rund 1.460 Euro), von denen auch die Raten für ihren Übergangskredit abgezogen werden; ausgezahlt werden 1.160 Pfund. Ihre Monatsmiete: 1.470 Pfund (1.675 Euro). Wenn ihre Tochter, die bei ihr lebt, ihr nicht helfen würde, säße sie auf der Straße.
Michael Athienites
„Universal Credit“ war eigentlich als Wundermittel zur Sanierung des britischen Wohlfahrtssystems gedacht. Es war die Regierung des konservativen Premierministers David Cameron, deren Arbeitsminister Iain Duncan Smith das alte System mit seinen sechs verschiedenen Sozialleistungen von unterschiedlichen Behörden durch eine einzige Zahlung aus dem Arbeitsministerium ersetzen wollte. Neben 8 Milliarden Pfund (€9 Mrd) Einsparungen sollte UC die Empfänger*Innen eigenverantwortlicher machen und 300.000 Arbeitslose in Arbeit bringen. UC sollte langsam anlaufen, erst mal in einigen Testgebieten im Norden Englands, und ab 2017 landesweit.
Doch dazu kam es nie. Bereits von Anfang an, im Jahr 2013, tauchten technologische und administrative Schwierigkeiten auf. Es blieb bei den Testphasen für wenige zehntausend Menschen, und im März 2016 trat der für die Reform verantwortliche Minister Ian Duncan Smith spektakulär zurück. Der Grund: Finanzminister George Osborne hatte ihm 2 Milliarden Pfund aus dem UC-Budget für Aufstockungen der Einkünfte von Geringverdienern gestrichen und auch die Zuwendungen für Behinderte gekürzt. Gesamtkürzung: 5 Milliarden. Das akzeptierte Smith nicht.
Lücken von sechs Wochen
UC wurde ohne seinen Erfinder weiterverbreitet, und es folgten zahlreiche äußerst kritische Berichte über das nicht funktionierende System. Bisher hat seine Einführung 1,3 Milliarden Pfund verschlungen – von 2 Milliarden, die insgesamt eigentlich bis 2025 reichen sollten.
Das größte Problem: Zwischen dem Auslaufen der alten Zahlungen und der Auszahlung von UC-Hilfen klafft eine Lücke von sechs Wochen, in der die Bedürftigen gar nichts erhalten. Das bedeutet, dass Empfänger*Innen in schwere Not geraten. Im März 2018 erhielten 21 Prozent aller neuen Antragsteller*Innen nicht einmal alle ihnen zustehenden Zahlungen, bei 13 Prozent kamen die ersten Zahlungen noch später als sechs Wochen.
Nach heftiger Kritik bewilligte das Arbeitsministerium zinsfreie Notdarlehen zur Überbrückung. Sie müssen jedoch, sobald die UC-Zahlungen einsetzen, in streng vorgegebenen Zeiträumen zurückgezahlt werden. Das wird direkt von der Auszahlung abgezogen – wie bei Tamara. Sie glaubt außerdem, dass sie weniger Geld bekommt, als ihr zusteht, weil sie beim Ausfüllen ihres Antrages, der online gestellt werden muss, Fehler gemacht habe. Einem Viertel aller Antragsteller*Innen geht es ebenso, berichtet das Arbeitsministerium selber.
Manchen fehlt in der Übergangszeit sogar das Geld zum Essen. Bei einer Tafel in der 30.000-Einwohner-Stadt Stroud im Westen Englands stehen Regale voller Lebensmittel in einer alten Werkhalle. Managerin Sue Beattie, 49, spricht von der Zunahme der Zahl lokaler Bedürftiger, die hier umsonst Lebensmittel ausgehändigt bekommen. Die Trussel-Stiftung, welche diese und viele andere Tafeln in Großbritannien unterstützt, behauptet, dass sie in Gegenden, wo UC eingeführt worden ist, einen Anstieg des Bedarfs an Essen um 52 Prozent in den vergangenen zwölf Monaten verzeichnet. Wo noch das alte System läuft, wuchs der Bedarf nur um 13 Prozent.
Zur Mehrarbeit gedrängt
In Stroud, wie in vielen englischen Städten, steigt auch die Zahl der Obdachlosen. „Vielleicht hat das auch mit UC zu tun, beispielsweise wenn Leute wegen nicht bezahlter Miete ihre Wohnung verlieren“, glaubt ein Taxifahrer, der von dem Phänomen erzählt.
Michael Athienites versteht nicht, warum die Regierung es nicht schafft, Universal Credit adäquat einzurichten. Der 58-Jährige berät in Stroud die Marah-Stiftung, die sich um besonders gefährdete Menschen mit psychischen Problem, Obdachlose und Drogenabhängige kümmert. „Viele, die klar hilfsbedürftig sind, erhalten häufig eine zu niedrige Einstufung ihrer Bedürfnisse, oder sie werden, selbst wenn sie bereits arbeiten, zu Mehrarbeit gedrängt,“ berichtet er.
Immer wieder erlebt Athienites, dass Menschen nicht mit den UC-Summen zurechtkommen. Wenn es dann Probleme gibt, fangen Organisationen wie seine diese Menschen auf. „Das kostet Unmengen von Ressourcen, ganz davon abgesehen, dass es bereits gefährdeten Menschen weiter schadet.“
Auch zwei andere Beraterinnen in unterschiedlichen Teilen Englands – beide wollten ungenannt bleiben – erzählen von zunehmender Arbeit. „Früher hatte ich 35 Fälle pro Jahr, heute sind es 200“, erzählte die eine, während die andere von einer Frau mit Hirntumor berichtet, deren Gesundheitszustand und die dafür notwendige Extrahilfe vollkommen ignoriert wurde. „Nachdem ich Einspruch erhob, bekam sie einen höheren Satz zugesprochen.“ 60 bis 70 Prozent solcher Klagen seien erfolgreich. Für die Betroffenen sei es aber immer unnötiger Stress, sagen die beiden und befürchten, dass dieses Anwachsen von Fällen erst „die Ruhe vor dem Sturm“ sei.
Die Regierung muss für UC mehr Geld ausgeben
Denn bisher sind nur etwa 12 Prozent aller britischen Empfänger von Sozialleistungen UC-Bezieher. Das Arbeitsministerium wollte diesen Dezember beginnen, die restlichen der 8,6 Millionen Betroffenen auf das neue System umzustellen. Aber der Termin wurde wegen starker Proteste auch aus den Rängen der konservativen Partei erneut verschoben, auf Juli 2019 – das achte Mal. Frühestens im Jahr 2023 soll es dann landesweit gelten. Universal Credit entwickelt sich ähnlich wie der Brexit zu einer Dauerbaustelle.
Der parlamentarische Rechnungsprüfungsausschuss wirft dem Ministerium eine „Festungsmentalität“ vor, eine „systematische Kultur des Bestreitens von Befunden anderer“. Nachfragen der taz beim Arbeitsministerium blieben unbeantwortet, trotz mehrmaligen Kontakts und Versprechungen.
Der politische Knackpunkt ist derzeit, ob die Kürzungen aus dem Jahr 2015 rückgängig gemacht werden. Der damalige Finanzminister Osborne, ein führender Brexit-Gegner, ist inzwischen Chefredakteur des Londoner Abendblatts Evening Standard, während sein damaliger Widersacher Iain Duncan Smith, Brexit-Befürworter, weiter im Parlament sitzt. Kurz bevor der neue Finanzminister Philip Hammonds am Montag vergangener Woche den Haushaltsentwurf 2019 im Parlament vorstellte, herrschte breite Einigkeit: Die Regierung muss für UC mehr Geld ausgeben, denn mit Osbornes Zahlen hat das System zu viele Verlierer. 3,2 Millionen erwerbstätige Familien könnten bis zu 2.500 Pfund pro Jahr einbüßen – UC verrechnet Sozialleistungen mit Lohnaufstockungen und Steuergutschriften für Geringverdiener.
Die Kritiker hatten Glück. Hammond verkündete in seiner Haushaltsrede eine Finanzspritze von 1,7 Milliarden Pfund für das UC-Budget. Das Geld soll Geringverdienern helfen, im Rahmen eines 4,5-Milliarden-Hilfspakets für Menschen im Transfer zwischen den Sozialsystemen.
„Es sollte abgeschafft werden“
Kritiker des Systems halten das für nicht ausreichend. „Die Hälfte der bereits beschlossenen Kürzungen von Sozialleistungen für Familien ist gerade erst im Begriff, eingeführt zu werden“, mahnte die Stiftung Resolute Foundation.
Emma Revie, Geschäftsführerin der Trussel-Stiftung, welche die Tafeln unterstützt, sprach hingegen von einer signifikanten Verbesserung. Sie warnte aber, dass Menschen überall in Großbritannien es immer schwerer hätten, über die Runden zu kommen.
David Drew, Labour-Abgeordneter für Stroud, erklärte der taz: „UC bleibt, was es immer war: ein Angriff auf die Armen. Es sollte abgeschafft werden.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Landesparteitag
Grünen-Spitze will „Vermieterführerschein“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Die Wahrheit
Herbst des Gerichtsvollziehers