Soziale Ungerechtigkeit in Deutschland: Hört auf zu klatschen!
Die einen spenden in der Corona-Krise vom schicken Altbaubalkon aus Applaus, die Beklatschten selbst haben keine Zeit dafür – und keine Balkone.

Mein Home-Office aus der fünften Etage, die Nachbarschaft überschauend, mit neuestem Laptop und Premium-Videokonferenz-Account ausgestattet, lässt fast nichts zu wünschen übrig. Abends wird gekocht: frisches Gemüse vom Bio-Bauern aus dem Alten Land, häufiger ein Glas südfranzösischer Rotwein. Und um 21 Uhr wird geklatscht, sehr laut, oft mit Gejohle, viele junge Familien stehen auf den hell erleuchteten Balkonen rundum. Ich sehe Bärte, manchmal Weingläser; es menschelt.
Seit ein paar Tagen gehe ich jetzt immer um kurz vor 21 Uhr raus. Geht man nach Norden, drängen Hamburgs rote Backsteinviertel die hohen, weißen Altbauwohnungen rasch beiseite. Die Wohnungen werden kleiner, die Decken niedriger. Nur fünf Minuten von meiner Wohnung entfernt klatscht niemand mehr. Niemand steht auf dem Balkon. Es gibt auch keine Balkone mehr.
Dort, wo niemand mehr klatscht, spür’ ich die Krise wie ein Brennglas. Sie verschärft und vergrößert die Ungerechtigkeiten, die seit vielen Jahren das Zusammen- und Auseinanderleben in diesem, unserem Land bestimmen. Sie beißt die Zähne in unsere alltägliche Gleichgültigkeit. Sie reißt die Menschen auseinander – jetzt auch sehr sichtbar in der Schlange vorm Bäcker. So gesehen, ist sie die logische Fortsetzung der bestimmenden Marktlogik, die zu ökonomischen Abständen, zu Oben, Mitte-Oben und zunehmend viel Unten führt. Die Krise entblößt und klärt auf.
Es kann nicht so weitergehen
Denn spätestens jetzt wissen wir, wer die „Systemrelevanten“ sind. Es sind die ausländischen Erntehelfer, die Sanitäter, die Kassierer, die Putzkräfte, die Busfahrerinnen, die Systemadministratoren, die Verwaltungsangestellten, die Krankenschwestern und Altenpfleger. Es sind all jene, die jetzt nicht klatschen.
Spätestens jetzt wissen wir auch, dass es falsch war, Sozialeinrichtungen, Renten und Krankenhäuser zu privatisieren, dass es ein Menetekel war als die Kommunen Bibliotheken und Schwimmbäder dichtmachten, dass Menschen eben keine Ich-AGs sind, dass Gesellschaften mehr als nur Investitionsmasse sind, dass globale Lieferketten neben globaler Abhängigkeit vor allem auch viele regionale Verlierer und wenige global agierende Gewinner generieren.
Und schließlich wissen wir jetzt, dass es so nicht weitergehen kann, dass es mehr als nur ein paar Schüler braucht, die sich am Freitag Sorgen um ihre Zukunft machen und dass es mehr als ein paar linke Ökonomen braucht, die das Ende der Wachstumsgesellschaft herbeireden.
Jetzt wäre es an der Zeit rauszugehen und miteinander ins Gespräch zu kommen – mit jenen, die uns täglich zur Arbeit bringen, die die Straße aufräumen, die unseren Alten das Essen bringen, die das Obst im Laden auslegen, die den Kranken im Bett wenden, die uns Paket und Pizza zustellen, die abends auf keinem Balkon stehen. Aber nur Reden und Beifall wird nicht reichen.
Vielleicht sollten wir zunächst aufhören zu klatschen und stattdessen eine ehrliche Diskussion darüber beginnen, wie die „Systemrelevanten“ auch systematisch gerecht bezahlt und respektiert werden.
Vorschläge dazu gibt es eine ganze Reihe. So könnte beispielsweise die flächendeckende Einführung von Tarifverträgen für alle Pflegekräfte oder für Angestellte in Supermärkten zu besserer Bezahlung führen – umgekehrt müssten wir dafür aber wohl auch höhere Preise akzeptieren.
Letztlich wird es nur gemeinsam gehen. Ob nun Engagement in Gewerkschaft oder Ehrenamt, durch Spenden oder die Unterstützung spezifischer Petitionen für bessere Bezahlung systemrelevanter Berufe – jeder Einzelne kann etwas beitragen. Dafür darf es dann auch gerne etwas mehr sein als nur zwei Minuten Beifall.
40.000 mal Danke!
40.000 Menschen beteiligen sich bei taz zahl ich – weil unabhängiger, kritischer Journalismus in diesen Zeiten gebraucht wird. Weil es die taz braucht. Dafür möchten wir uns herzlich bedanken! Ihre Solidarität sorgt dafür, dass taz.de für alle frei zugänglich bleibt. Denn wir verstehen Journalismus nicht nur als Ware, sondern als öffentliches Gut. Was uns besonders macht? Sie, unsere Leser*innen. Sie wissen: Zahlen muss niemand, aber guter Journalismus hat seinen Preis. Und immer mehr machen mit und entscheiden sich für eine freiwillige Unterstützung der taz! Dieser Schub trägt uns gemeinsam in die Zukunft. Wir suchen auch weiterhin Unterstützung: suchen wir auch weiterhin Ihre Unterstützung. Setzen auch Sie jetzt ein Zeichen für kritischen Journalismus – schon mit 5 Euro im Monat! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Werben um Wechselwähler*innen
Grüne entdecken Gefahr von Links
Wahlverhalten junger Menschen
Misstrauensvotum gegen die Alten
Polarisierung im Wahlkampf
„Gut“ und „böse“ sind frei erfunden
Donald Trump zu Ukraine
Trump bezeichnet Selenskyj als Diktator
Berlinale-Rückblick
Verleugnung der Gegenwart
Streit um tote Geiseln in Israel
Alle haben versagt