Soziale Ausgrenzung durch „Othering“: Weg mit dem Müll

Eine offene Gesellschaft braucht die ehrliche und kritische Auseinandersetzung mit Stereotypen. Allerdings auch mit den eigenen.

Ein verrosteter Baumüllcontainer

Müllentsorgung im großen Stil Foto: photocase/prill

Es ist ein hoffnungsvolles Zeichen, dass so viele Frauen in den USA gegen Trumps Politik des Hasses und der Ausgrenzung auf die Straße gegangen sind. Und doch möchte ich diesen Text mit meinen Nachbarn beginnen. Im scheinbar Alltäglichen also, auch wenn um uns herum weitreichende Dinge geschehen. Ich glaube, daran etwas Bedeutendes zeigen zu können, für etwas, das mir am Herzen liegt: die offene Gesellschaft.

Meine Nachbarn – nennen wir sie Yılmaz – sind nach mir eingezogen. Und seit es sie gibt, wird die Wohnung gegenüber renoviert. Da stapeln sich zerlegte Schrankwände, Kartons, Verpackungen und volle ­Müll­säcke im Treppenhaus. Bis all das in der Tonne landet, vergehen oft Tage. Bisweilen kommt der Hausmüll hinzu. Der riecht.

Interessant ist an dieser Geschichte nicht der Müll im Hausflur. Interessant ist der Müll in meinem Kopf. Ich begann nämlich ziemlich bald, mich über die Nachbarn zu ärgern. Das ist spießig genug. Das Schlimmste aber war: Ich dachte etwas, das ich nicht denken will.

Und ich fragte mich, wie solche Gedanken in meinen Kopf kommen. Ich tippe auf Gewöhnung. Was man oft genug wiederholt bekommt, setzt sich unweigerlich fest. Wie ein hirnverbrannter Schlager, den man grauenvoll findet, aber trotzdem auswendig kann.

Was ich dachte, war: Typisch. Typisch, weil die Familie nebenan Yılmaz und nicht Müller heißt. Als gäbe es da einen Zusammenhang.

Gespräch

Objektiv weiß ich, dass nichts dafür spricht, dass insbesondere türkische Familien sich nicht für Müllentsorgung interessieren. Tatsächlich habe ich nie auch nur ansatzweise eine Erfahrung gemacht, die diesen Gedanken rechtfertigt. Trotzdem war er da, ploppte in meinem Gehirn auf, wie eine Luftblase, die sich im Schlick meines Unterbewusstsein gebildet hatte und nun an die Oberfläche stieg, mit einem fetten, schmatzenden Blub.

Um das hier vorwegzunehmen – auch weil ich fürchte, Sie könnten diesen Text nicht bis Ende lesen und ein Bild von mir behalten, das mir nicht gefällt: Gerade weil ich den Gedanken unerträglich fand, bin ich hinübergegangen und habe höflich gefragt, was mit dem Müll sei. Es war ein nettes Gespräch und Frau Yılmaz erklärte mir, dass die Familie den Schlüssel für den Hinterhof verloren habe, in dem die Mülltonnen stehen. Seither nutzen wir den Schlüssel gemeinsam.

Was ist taz.meinland? Bis zur Bundestagswahl im September reist die taz durch meinland, deinland, unserland. An gut 50 Stationen machen wir Halt, um ins Gespräch zu kommen und für die offene Gesellschaft zu streiten.

Worum es aber geht, ist meine fast schon automatische Annahme, dass der Müll etwas mit der Ethnizität oder dem kulturellen Hintergrund meiner Nachbarn zu tun haben könnte. Ein Gedanke, den es in einer offenen Gesellschaft, in der alle als Gleiche unter Gleichen leben, nicht geben sollte.

Manche mögen diese Episode für banal oder nebensächlich halten. Ich erzähle sie trotzdem. Zum einen, weil ich vermute, dass ich mit solchen Gedanken nicht allein, sondern eher in der Mehrheit bin. Zum anderen, weil ich sicher bin, dass nicht alle Menschen klingeln gehen. Und schließlich, weil jetzt der Zeitpunkt gekommen ist, an dem wir etwas Wichtiges verstehen müssen:

Ganz egal, wo im politischen Spektrum wir stehen, ob links oder rechts, egal, wie gebildet oder ungebildet, privilegiert oder benachteiligt wir sein mögen, egal, wie aktiv wir uns um die offene Gesellschaft bemühen, niemand ist vor stereotypen Vorstellungen gefeit. Wir bekommen sie nämlich ständig ungefragt gesagt.

Vorurteilsgeladener Diskurs

Vom Opa in der Bahn, der über „die Ausländer“ schimpft, von der Nachbarin, die sagt „Ich bin so froh, dass Sie hier wohnen. Es ziehen ja kaum noch Deutsche ein.“ Von der Kollegin, die sich über „Roma-Familien“ echauffiert. Von der eigenen Familie, die ohne Sinn hetzerische Parolen gegen Geflüchtete nachplappert.

Das alles sind keine singulären Entgleisungen. Im Gegenteil: Sie sind der monoton brummende Bass, in einem nicht enden wollenden Track, den wir nur deshalb bisweilen überhören, weil uns die hetzerischen Parolen der Rechtskonservativen aus übersteuerten Boxen in den Ohren gellen.

Man muss diffamierenden Aussagen nicht im Geringsten zustimmen. Selbst wenn man jedes Mal zur mutigen Gegenrede ansetzt: Sie finden trotzdem ihren Weg in die Synapsen

Stereotype und rassistische Klischees bilden ein Grundrauschen in unserer Gesellschaft. Und machen wir uns nichts vor: Auch wenn politische Kräfte, wie die AfD oder der soeben vereidigte Präsident der Vereinigten Staaten alles daransetzen, das zu Recht Verpönte wieder salonfähig zu machen. Das Grundrauschen war immer da. Also fangen wir jetzt an, vor der eigenen Haustüre zu kehren, statt – so wie die US-Amerikaner – erst dann auf die Straße zu gehen, wenn es zu spät ist.

Das Fiese ist ja: Man muss diffamierenden Aussagen nicht im Geringsten zustimmen. Selbst wenn man jedes Mal zur mutigen Gegenrede ansetzt: Sie finden trotzdem ihren Weg in die Synapsen. Ein vorurteilsgeladener Diskurs setzt sich sogar in den Köpfen derer fest, die von den Vorurteilen betroffen sind.

So berichten in Deutschland lebende Muslime immer wieder davon, dass sie sich nach islamistisch motivierten Anschlägen irgendwo auf der Welt plötzlich in der Bahn vor muslimisch aussehenden Menschen fürchten. Absurd? Nein, das ist es, was rassistische Stereotype so toxisch macht. Sie bleiben hängen – ob wir wollen oder nicht.

Was also tun?

„Eigentlich muss man der AfD dankbar sein“, hat eine kluge Kollegin kürzlich zu mir gesagt. „Seit es die AfD gibt, wird Rassismus wenigstens thematisiert.“ Sie hat recht.

Blinde Flecken

Begreifen wir die gesellschaftlichen Entwicklungen unserer Tage als Chance zu einem ehrlichen Umgang mit den verkorksten und hinderlichen Denkmustern, in denen wir uns seit Jahrzehnten bewegen. Als Chance, sich mit den blinden Flecken, die wir alle haben, zu beschäftigen. Klar ist auch: Es ist menschlich, die Welt in Vorurteilen zu begreifen. Es kommt darauf an, wie wir damit umgehen.

So bitter das ist: Andere Menschen von ihren festgefahrenen Ansichten abzubringen, ist fast unmöglich. Es werden also immer nur die Klischees und Stereotype in unseren eigenen Köpfen sein, die wir hinter uns lassen können. Aber wenn wir das hinkriegen, ist eine ganze Menge erreicht.

Die größte Hürde, die es auf diesem Weg zu nehmen gilt, hat mit dem englischen Begriff des „Othering“ zu tun. „Wenn eine Mehrheit eine Minderheit mit bestimmten Attributen belegt, sprechen postkoloniale AnthropologInnen von Andersmachung oder Othering“, schreibt der Zeit-Magazin-Journalist Mohamed Amjahid in seinem Buch „Unter Weißen“, das im Februar erscheint.

Und auch wenn hier eigentlich das Andersmachen von Migranten gemeint ist, so wenden wir diesen Mechanismus auch auf andere Gruppierungen an, mit denen wir nichts gemein haben wollen. Wir „othern“ auch „Rassisten“.

Welche Funktion diese Distinktion innerhalb der Gesellschaft erfüllt, zeigt die Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal an einem ganz anderen Beispiel. In ihrem Buch „Vergewaltigung. Aspekte eines Verbrechens“ analysiert sie unter anderem die Kölner Silvesternacht 2015/16. Die Nacht also, in der es auf der Domplatte und im Hauptbahnhof zu zahlreichen sexuellen Übergriffen kam.

Racial Profiling

Begangen wurden diese Übergriffe „nicht von irgendjemandem“, wie Sanyal schreibt, sondern „von jemand ‚Anderem‘, genauer (aber nicht viel genauer) von arabisch und nordafrikanisch aussehenden Männern™ – wie die Bloggerin Nadia Shehadeh diese (neu) konstruierte Identität taufte“. Was sich sofort festsetzte, war „die Überzeugung, arabisch und afrikanisch aussehende Menschen™ seien sexistischer als ‚wir‘ “ – weshalb sie die Polizei, um „unseren“ Schutz bemüht, ein Jahr später in einem Anfall von Racial Profiling zu Hunderten vom Feiern abhielt.

Eine Form der Distanzierung, die äußerst praktisch ist, wenn man sich nicht mit dem gesamten sexistischen Potenzial unserer Gesellschaft befassen will, das fraglos weit über diese eine Nacht hinausreicht. Das „Böse“ wird dämonisiert und externalisiert. Was bleibt, ist die Überlegenheit, „besser“ und „nicht betroffen“ zu sein. Die Annahme, „wir“ hätten kein Problem.

Diesen Mechanismus wenden wir auch auf Rassismus an. „Die anderen“ sind in diesem Fall Menschen, die eine andere Gesinnung haben. Das „Pack“: Nazis und Glatzen, Rechtsradikale, Rechtspopulisten und „Islamkritiker“, kurzum all jene, die wir Linken als „das andere Lager“ verstehen.

Wir externalisieren etwas, das uns alle betrifft, statt zuzuhören, wenn uns von Ausgrenzung und Diskriminierung Betroffene darauf hinweisen, was ihnen widerfährt. Wir werfen ihnen vor, mit „Identitätspolitik“ den Rechten in die Hände zu spielen, statt zu begreifen, dass wir es sind, die mit unserer Angewohnheit, alles Böse weit von uns zu weisen und uns nicht zuständig zu fühlen, den Populisten den Weg bereiten.

Ausgrenzende Strukturen

Das alles macht es unglaublich schwer, wirklich gegen Rassismus vorzugehen. Wer gesteht sich und anderen schon gern ein, ausgrenzende, pauschalisierende und somit völlig ungerechtfertigte Gedanken zu haben, wenn dieses Label anschließend für immer an einem klebt?

Gerade wir Linken dürfen uns nicht, mit dem Finger auf andere zeigend, satt und zufrieden zurücklehnen und Rassismus nur „othern“. Wir müssen anfangen, den Müll vor unserer Haustüre in die Tonne zu werfen – indem wir die ausgrenzenden Strukturen, in denen wir alle leben und von denen die meisten von uns auf die eine oder andere Weise stillschweigend profitieren, thematisieren. Beginnen wir also heute noch mit einem ehrlichen, selbstkritischen Dialog.

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