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Sozialdrama mit Juliette BinocheStippvisite bei der Arbeiterklasse

In Emmanuel Carrères Film „Wie im echten Leben“ brilliert Juliette Binoche neben LaiendarstellerInnen. Sie mimt eine Putzfrau auf Undercovermission.

Die Schriftstellerin Marianne Winckler (Juliette Binoche) lernt das „echte Leben“ kennen Foto: Neue Visionen

„Und nach den zwei Semestern Jura haben Sie nichts mehr gemacht?“, fragt die Frau vom Arbeitsamt die jobsuchende Marianne Winckler, die vor ihr sitzt und eindeutig schon in mittleren Jahren ist. Na ja, sie sei eben Hausfrau gewesen, sagt Marianne.

Später wird sie einer Arbeitskollegin erzählen, dass ihr Ex-Mann eine Reparaturwerkstatt betreibe, da habe sie die Buchhaltung gemacht. Als der Gatte sie einer Jüngeren wegen verlassen hätte, habe sie um jeden Preis wegziehen wollen, in eine Stadt, wo sie niemanden kenne. So sei sie in Caen, in der Normandie, gelandet.

Der Film

„Wie im echten Leben“. Regie: Emmanuel Carrère. Mit Juliette Binoche, Hélène Lambert u. a. Frankreich 2021, 106 Min.

Und wenn wir nicht schon wüssten, wovon „Wie im echten Leben“ handelt, würden wir Marianne jedes Wort abnehmen, so überzeugend ist Juliette Binoche in ihrer Rolle als kleinbürgerliche Ex-Hausfrau, die nun lernen muss, wie es sich anfühlt, für wenig Geld den Dreck anderer Leute wegzumachen.

In unserer Wirklichkeit spielt Juliette Binoche allerdings sozusagen eine Metarolle, denn Marianne Winckler ist in der filmischen Wirklichkeit gar nicht das, was sie zu sein vorgibt, sondern eine Autorin auf Undercovermission, die für ihr nächstes Buch recherchiert.

Marianne bleibt in ihrer Putzfrauenrolle

Ihre Vorgeschichte bleibt weitgehend unbeleuchtet, implizit wird nahegelegt, dass sie sich einen Namen mit sozialkritischen Büchern gemacht hat. Regisseur Emmanuel Carrère überlässt es uns, aus dem Geschehen ein Bild von dieser Frau zu gewinnen, die erst nach einer ganzen Weile zum ersten Mal aus ihrer Putzfrauenrolle heraustritt, als sie in einem unbeobachteten Moment heimlich Stichworte zu einer Geschichte notiert, die eine Kollegin ihr gerade erzählt hat.

Die Frauen, deren Sätze in Mariannes Notizbuch landen, sind ausgerechnet jene, mit denen sie sich anfreundet: Marilou (Léa Carne), die noch jung genug ist, davon zu träumen, auf und davon zu gehen und anderswo nach einem besseren Leben zu suchen. Und Christèle, eine energische Frau in den Dreißigern, die drei Kinder durchbringen muss und die in der Eingangsszene einen Riesenwirbel veranstaltet, weil das Arbeitsamt einen Antrag verschlampt hat, den sie fristgerecht eingereicht hatte.

Diese Christèle wird gespielt von der großartigen Hélène Lambert, die, wie alle anderen außer Binoche, keine professionelle Schauspielerin ist. Neben Lamberts selbstbewusster, natürlicher Präsenz scheint das differenzierte Spiel von Juliette Bi­noche manchmal fast etwas zu verblassen; vielleicht gerade deshalb, weil es kenntlich wird als das, was es ist: große Schauspielkunst.

Aber eben die gilt es ja auch zu zeigen und dabei subtil offenzulegen, denn nichts anderes als eine Schauspielerin ist Marianne in ihrer Rolle als Marianne-die-Putzfrau – gleichzeitig ist sie ganz echt in ihrer Zuneigung zu Christèle. Christèle dagegen muss einfach nur sie selbst sein.

Und während sich zwischen den Frauen eine tiefe Freundschaft entwickelt, merkt Marianne, dass das Buch, das sie schreibt, hauptsächlich von Christèle handelt. Eine ambivalente Sache: Zum einen zeigt sich darin ihre persönliche Verbundenheit; zum anderen bedeutet es, dass Marianne die andere für ihre Zwecke ausnutzt – und sie darüber im Unklaren lässt.

Kein reines Sozialdrama

Die Beziehung zwischen den beiden Frauen, oder überhaupt alle zwischenmenschlichen Beziehungen, steht narrativ klar im Vordergrund dieses Films, der daneben von den prekären Daseinsbedingungen der französischen ArbeiterInnenklasse handelt und lose auf einem Roman der Autorin Florence Aubenas basiert.

Emmanuel Carrère hat kein reines Sozialdrama gedreht, sondern vielmehr eine philosophisch grundierte Buddygeschichte, hinter der ein paar unangenehme Wahrheiten über die französische Klassengesellschaft und das elitäre Selbstverständnis ihrer Intellektuellen aufscheinen.

Es war Juliette Binoche selbst, die das Projekt vorangetrieben und Carrère dafür angeworben hatte, der vor allem als Schriftsteller und Drehbuchautor bekannt ist. Binoche ist die einzige Profischauspielerin im Cast – das steht zumindest im Presseheft.

Also wird es wohl wahr sein, ist aber kaum zu glauben, so selbstverständlich agieren alle Beteiligten vor der Kamera. Es fällt leicht, sich vorzustellen, dass bei den Dreharbeiten eine ähnlich freundschaftliche Atmosphäre geherrscht haben muss wie unter den KollegInnen des Putztrupps, bei dem Marianne angeheuert hat.

Ein Knochenjob, stoisch ertragen

Vom Hafen Ouistreham, vor Caen gelegen, gehen Fähren nach England, deren Kabinen täglich in den eineinhalb Stunden zwischen Ein- und Auslaufen der Fähre gereinigt werden müssen. Es ist ein Knochenjob, dessen mörderischen Arbeitsbedingungen die Putzfrauen und -männer mit Stoizismus, Humor und großem Gemeinschaftssinn begegnen.

Als eine von ihnen einen Servierjob bei der Kette Brioche Dorée ergattert und die Truppe verlässt, wird gefeiert, als hätte die Glückliche mindestens einen Sechser im Lotto. Für die Übrigen aber wird das Leben mit all seinen Härten immer so weitergehen.

Außer für Marianne. Als sie am Schluss als Autorin auftritt, geschmackvoll gestylt und geschminkt, scheint sie ein völlig anderer Mensch geworden zu sein. Sie ist zurückgekehrt in ihre eigentliche Identität, ihre eigene Klasse.

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