Sozialdemokratie in Europa: Ist es die Zeit oder die Partei?
In Dänemark sind die Sozialdemokraten mit einem Rechtskurs erfolgreich. Ein Modell für Europa?
Henrik Sass Larsen, Fraktionsvorsitzender der dänischen Socialdemokratiet, sitzt am Kopfende eines riesigen Konferenztisches im Folketing in Kopenhagen und schlägt mit der Hand auf die Tischplatte. „Wir schaffen das nicht!“, sagt er auf Deutsch. Der 52-Jährige, ein sportlich wirkender Mann mit kurzen, silbrig glänzenden Haaren und dunkelgrünem Strickpullover, muss schon wieder erklären, was für ihn klar ist: Zuwanderung tut vor allem der Arbeiterklasse weh.
„Unsere traditionellen WählerInnen – die Menschen aus der Arbeiterklasse und aus der Industrie – hatten riesige Probleme mit dem Migrationsprozess“, sagt er. Seine Partei müsse die Probleme anpacken, die Zuwanderung für Schulen, Wohnbezirke und Jobs bedeuten.
Im Herbst 2015 hat Angela Merkel ihren berühmten Satz auch in Kopenhagen gesagt – Wir schaffen das. Die Socialdemokratiet hatte da gerade eine Schreckenswahl hinter sich. Sie erzielte zwar ordentliche 26 Prozent, trotzdem lief es nicht gut. Die Mitte-links-Regierung verlor die Mehrheit, Sass Larsen seinen Job als Industrie- und Wachstumsminister. Und fast noch schlimmer: Die rechtspopulistische, einwanderungsfeindliche Dänische Volkspartei (DF) wurde zweitstärkste Partei – auch ex-sozialdemokratische WählerInnen machten bei den Rechten ihr Kreuz.
Den Kurswechsel in der Migrationspolitik forcierte auch Sass Larsen. Er sieht ihn nicht als Rechtsabbiegen, sondern als Verteidigung westlicher Werte. „Realistisch und fair“ – so überschrieben die dänischen GenossInnen ein 28-seitiges Papier zur Einwanderung, das sie 2018 präsentierten. Ihre Argumentation: Um den dänischen Wohlfahrtsstaat zu erhalten, muss die Zuwanderung mit scharfen Maßnahmen begrenzt werden.
Deswegen fordern die Sozialdemokraten, dass niemand mehr in Dänemark einen Asylantrag stellen kann. Das Land soll nur ein Kontingent an UNHCR-Flüchtlingen aufnehmen. Fluchtursachen sollen vor Ort bekämpft werden, Einwanderer in Auffangzentren außerhalb Europas gesteckt werden. Die Chefin der Socialdemocratiet, Mette Frederiksen, gibt gemeinsam mit dem rechten Parteichef freundliche Interviews, in denen sich beide gegenseitig die Bälle zuwerfen. Das ist so, als würde in Berlin SPD-Chefin Andrea Nahles mit der AfD-Spitze anbandeln – unvorstellbar.
Geschenk für die Dänische Volkspartei
Doch Dänemark tickt anders. So sieht es Peter Nedergaard, Professor für Politikwissenschaft an der Kopenhagener Universität. Er sitzt in seinem Büro in dem prächtigen ehemaligen städtischen Krankenhaus Kopenhagens, in dem sich heute die Sozialwissenschaften befinden. Früher hätten die Sozialdemokraten einen Abgrenzungskurs gegen die Rechtspopulisten gefahren – und sie sogar rhetorisch einmal mit Tieren verglichen. „Das war ein Geschenk des Himmels für die Dänische Volkspartei“, sagt Nedergaard. Die Rechten inszenierten sich als Opfer und zogen sozialdemokratische Klientel auf ihre Seite.
Achim Post, Generalsekretär SPE
Aber können die Sozialdemokraten verlorene WählerInnen wirklich durch Anpassung an die Rechten zurückgewinnen? „Ich halte das für eine falsche Interpretation“, sagt Nedergaard. Die Behauptung der Socialdemocratiet, zu ihren Wurzeln zurückzukehren, sei nicht ganz falsch. Viele sozialdemokratische Parteien „waren bis Mitte der 80er Jahre zurückhaltend bei der Einwanderung“, sagt Nedergaard. „Viele wechselten erst danach von einer restriktiven zu einer liberalen Migrationspolitik.“ Die dänischen GenossInnen kehren nun dahin zurück.
Auch Fraktionschef Sass Larsen sieht keinen Rechtsschwenk. Doch das ist schwer zu glauben. Denn die SozialdemokratInnen wollen sich nicht nur Asylsuchende künftig vom Leib halten – auch MigrantInnen vor Ort kommen schlecht weg.
Für Sass Larsen sind viele der Muslime, vor allem aus dem Nahen Osten, einfach fremd. „Sie sind anderen Dingen gegenüber loyal als dem Leben in Dänemark und unserer Demokratie“, sagt er. Wieder saust seine Handkante auf den Tisch. „Sie sind loyal gegenüber ihrer Familienstruktur und den Werten, die im Nahen Osten präsent sind.“ Als die Sprache auf den türkischen Präsident Erdoğan kommt, rutscht Sass Larsens Stimme in die Höhe, er nennt ihn „Diktator“ und „Arschloch“.
Der rigide Kurs in Sachen Migration scheint anzukommen, laut Umfragen könnten bei den Parlamentswahlen Anfang Juni die dänischen SozialdemokratInnen auf 27 Prozent kommen, die rechte Volkspartei dagegen nur auf 12.
Ist Dänemark womöglich ein Rezept für die kriselnde Sozialdemokratie in Westeuropa, die scheinbar zwischen xenophoben Rechtspopulisten und linksliberalen und grünen Parteien, die offen für Migration eintreten, zerrieben wird? Hässlich, aber erfolgreich?
Alte neue Ideale
Achim Post ist Generalsekretär der europäischen Sozialdemokratie (SPE). Und zudem Chef der einflussreichen Landesgruppe NRW in der SPD-Fraktion im Berliner Bundestag. Zu dem „strikten Kurs“ der dänischen GenossInnen in der Flüchtlingspolitik geht er auf Distanz. „Europäische Parteienfamilien sind keine Monolithen. Da gibt es eine gewisse Meinungsvielfalt“, sagt der SPD-Mann, der seine Worte so lange wägt, bis sie kugelrund geschliffen sind.
Sitzverteilung
Derzeit hat die Fraktion S&D, der neben SPDlern auch SozialdemokratInnen aus Dänemark, den Niederlanden und Polen angehören, im Europaparlament 185 Abgeordnete. S&D hat damit gemeinsam mit der konservativen EVP im Parlament die Mehrheit. Noch.
Umfragen
Denn nach dem 26. Mai könnten die Sozialdemokraten laut Umfragen auf nur noch 140 bis 155 Sitze kommen. Auch die Große Koalition in Brüssel verliert möglicherweise ihre Mehrheit. Die SPD käme am nächsten Sonntag auf 17 Prozent (2014: 27,5), die PvdA wie 2014 auf 9 Prozent. Eine Ausnahme im Krisentrend ist Dänemark. Dort können die Sozialdemokraten mit 25 Prozent auf 6 Prozent mehr hoffen als 2014.
Klar ist für die SPD: Als Role Model taugen die Dänen nicht. In der europäischen Sozialdemokratie markieren sie eine Außenseiterposition. Post hält europaweit „gesellschaftliche Großverschiebungen“ für den wahren Grund der Krise: „Die Kernklientel der Sozialdemokratie, die industrielle Facharbeiterschaft, ist vielerorts geschrumpft.“ Das trübe Gesamtbild wird nur ein wenig aufgehellt durch jüngste Erfolge in Finnland, Spanien und Schweden.
Interne Untersuchungen der SPE zeigen, dass für die gute Performance der Dänen jedenfalls nicht nur ihr Kurs in Sachen Einwanderung ausschlaggebend ist. Sondern auch Zutrauen in die soziale Kompetenz der Partei. Auch hier hat man sich zwar am Sozialstaatsabbau beteiligt, doch Politikwissenschaftler Nedergaard glaubt, dass die GenossInnen deswegen noch Kredit haben, weil sie „als Erfinder des Wohlfahrtsstaats“ gesehen werden. Und weil sie seit fast 100 Jahren als Beschützer dieses Modells gelten, trauen ihnen vergleichsweise viele dänische WählerInnen zu, die Interessen der Mehrheit zu vertreten.
Wo die sozialdemokratischen Parteien das Soziale aus Sicht ihrer Anhängerschaft aus den Augen verloren haben – dort ist der Absturz zwangsläufig. In den Niederlanden ist die traditionsreiche Partij van de Arbeid (PvdA) bei den Parlamentswahlen 2017 implodiert – von 38 Parlamentssitzen blieben neun. Das Desaster war die Quittung für die einschneidende Sparpolitik, der sich die GenossInnen gemeinsam mit dem liberalen Koalitionspartner VVD ab 2013 verschrieben hatten. Schon in den 1990ern erlagen die Sozialdemokraten dem neoliberalen Diskurs vom Primat des Marktes.
Parteichef Lodewijk Asscher fordert nun wieder einen Umschwung in die andere Richtung. „Nach einer Zeit neoliberaler Politik, die als Versachlichung verkauft wurde, wird es nun höchste Zeit für progressive Vorstellungskraft.“ So lautet der Schlusssatz seines Buches „Aufstehen im Lloyd Hotel“ – Asschers bevorzugter Ort für dienstliche Treffen in Amsterdam. Die Botschaft: Die Sozialdemokratie muss zurück zu ihren Wurzeln.
Selbstkritik und Selbstbestätigung
Asscher mischt sich unters Volk, trifft sich mit enttäuschten Arbeitern kurz vor der Pensionierung, die aus Frust über die PvdA schon 2002 Pim Fortuyn gewählt hatten, den Urvater des niederländischen Populismus. Asscher will auf die Enttäuschten zugehen, mehr Umverteilung und Soziales. Das aktuelle Wahlprogramm fordert einen Mindestlohn ab 18 Jahren, uneingeschränkten Kündigungsschutz und „eine EU, in der Menschen mehr zählen als der Markt und nicht Multinationale bestimmen, was das Gesetz ist“. So ähnlich wie die deutsche SPD, die auch nach links Signale sendet.
Wie sieht es an der niederländischen Parteibasis aus? Ist etwas spürbar von dieser Suche nach einem neuen Morgenrot? Am 1. Mai lädt die PvdA Leiden in ein Veranstaltungszentrum im Herzen der pittoresken Altstadt. Die Versammelten singen die Internationale, die Älteren vom Blatt, die Jüngeren vom Smartphone. Es gibt Ehrennadeln für 25 oder 50 Jahre Parteizugehörigkeit, es gibt Selbstkritik und Selbstbestätigung.
„Die Arbeiter haben wir größtenteils verloren“, sagt ein Mann, der sich eben die Ehrennadel anstecken durfte. „Will ich Teil sein von dem, was von der Partei übrig ist? Manchmal zweifle ich.“ Eine Frau hält dagegen: „Ich bleibe Mitglied bis zum Tod.“ Sie erntet johlenden Applaus.
Paul Groenendaal, 81, trägt ein Gedicht vor. Er blickt zurück auf „meine sozialistische Jugend“ und eine Zeit, „als Rot noch Rot war“ und der 1. Mai ein Kampftag gegen Autoritäten und Großkapital. Woran der Absturz der PvdA liegt? „Ich weiß es nicht, bei Gott. Liegt es an der Partei oder an dieser Zeit?“, sagt Groenendaal. Eine bemerkenswerte Antwort für einen alten Sozialisten. Seine Ideale aber sind ungebrochen. Die Aufgabe der PvdA sei „eine Welt, die den Menschen gehört und nicht dem Geld“.
Beseelt spricht auch Kati Piri, 40 Jahre alt und EU-Abgeordnete, vor den Leidener GenossInnen von einer Trendwende. Wie der Deutsche Achim Post führt sie die von Sozialdemokraten gewonnenen Wahlen in Schweden, Finnland und Spanien an – auch wenn die Ergebnisse im historischen Vergleich bescheiden ausfielen und nirgends über 30 Prozent lagen.
Hinter Piri sind Wahlplakate des SPE-Spitzenkandidaten Frans Timmermans zu sehen, ebenfalls Niederländer. Nach einem Praktikum in seinem Büro trat Piri vor 15 Jahren in die Partei ein. Sie fordert eine klare Positionierung als „sozialdemokratische Alternative“ und warnt vor der zunehmenden Macht von Betrieben wie Google, Facebook, Amazon. Auch von Rechtspopulisten und ihrer Rhetorik sollte sich die PvdA klar abgrenzen, fordert sie im Gespräch hinterher. „Wir müssen uns fernhalten von Parteien, die polarisieren und Menschen gegeneinander aufbringen.“
Pro- oder antieuropäisch?
In der Migrationsfrage sind die niederländischen GenossInnen weit entfernt von dem rüden Wording ihrer dänischen GenossInnen. Parteichef Asscher hatte zwar 2017 die „Partizipationserklärung“ initiiert, mit der sich Migranten zum niederländischen Wertekanon bekennen sollen. 2014 führte der rigidere Kurs der PvdA zu einer Abspaltung von der Partei: Zwei türkischstämmige Abgeordnete gründeten eine eigene Partei, die die migrantische Klientel im Auge hat. Die PvdA hält Kurs in der Mitte – kein einfacher Ort. Denn polyglotte Multikulti-Anhänger wählen lieber GrünLinks, Migrationsskeptiker die Rechtspopulisten.
Für die PvdA geht es wieder ganz leicht aufwärts. Nach dem Absturz auf 5,5 Prozent 2017 erreichte sie bei den Kommunalwahlen im März 8,5. „Die Leute sehen, dass die PvdA sich wieder auf die Kernthemen Arbeit, Wohnen, Pflege und Bildung konzentriert“, stellt Kati Piri fest. Das klingt optimistisch, doch das Vertrauen in die Kernkompetenz der Partei – sozialer Ausgleich – ist leicht verspielt. Und nur schwer wieder herstellbar.
Die PvdA hatte, ähnlich wie die französischen Sozialisten, geglaubt, sie könne eine wirtschaftspolitisch eher neoliberale Politik mit einem migrationsfreundlichen Kurs mixen – eine unbekömmliche Mischung.
Das Problem kennen auch Polens Sozialdemokraten. Vor 15 Jahren kam die Sojusz Lewicy Demokratycznej (SLD) noch auf über 40 Prozent. Die Zeiten sind, wie in den Niederlanden, vorbei. Durch ein Wahlbündnis mit bürgerlichen Parteien werden es zwar ein paar altgediente SLD-Genossen wieder ins Europaparlament schaffen. Doch es sieht mau aus. Auch weil die regierende rechtskonservative PiS ein üppiges Kindergeld eingeführt und das Rentenalter rapide gesenkt hat. In Dänemark imitieren die Sozialdemokraten die Migrationspolitik der Rechten – in Polen imitieren die regierenden Rechtspopulisten PiS die Sozialpolitik der nun völlig ratlosen Sozialdemokraten.
Zielstrebig steuert Papst Franziskus auf Joanna Scheuring-Wielgus, eine zierliche Polin im knallroten Kostüm, zu. Der Papst reicht ihr kurz die Hand, wechselt eine paar Worte mit ihr und wendet sich dann Marcel Lisinski zu, der als Messdiener mehrfach vom Dorfpriester sexuell missbraucht wurde.
Papst Franziskus neigt sich tief über die Hände des heute 51-Jährigen, verharrt eine Weile in dieser Haltung und küsst schließlich die Hände des Mannes. Nach der Audienz erklärt Joanna Scheuring-Wielgus stolz: „Wir konnten Papst Franziskus unseren Bericht über die polnischen Bischöfe überreichen, die über Jahrzehnte den sexuellen Kindesmissbrauch durch Geistliche in Polen vertuscht haben.“
Die Szene in Rom hat durchaus mit der Sozialdemokratie zu tun. Scheuring-Wielgus kandidiert für die neue Partei Wiosna (Frühling). Die Fronten verlaufen im polnischen EU-Wahlkampf anders als in Westeuropa. Wichtiger als links oder rechts ist pro- oder antieuropäisch. Die liberalkonservative Bürgerplattform PO, die Sozialdemokraten SLD und Wiosna wollen mehr EU – die regierende PiS macht Stimmung gegen Brüssel.
Die zweite Konfliktlinie ist die Kirche, die eng mit der PiS verbandelt ist. Den entschiedensten Gegenpol zur Bigotterie der Kirche in der Missbrauchsdebatte und zur EU-feindlichen Haltung der autoritär regierenden PiS bildet Wiosna. Erst im Februar gegründet, hat die junge Partei den Schutz von Kindern vor sexueller Gewalt ins Programm aufgenommen – als einzige Partei in Polen. Nur Wiosna legt sich offensiv mit der Kirche an. „Ich bin weder ein Feind der Kirche noch der Religion“, versichert Scheuring-Wielgus auf ihren Wahlveranstaltungen. „Aber können wir die Augen vor dem verschließen, was in einer degenerierten Institution vor sich geht?“
Der Wiosna-Spitzenkandidat, Robert Biedron, ist der erste offen schwule Politiker in Polen. Schon das ist in einem Land, in dem PiS-Chef Jarosław Kaczyński Homosexuelle und Gender-Forschung schon mal als „Bedrohung für die polnische Identität, die Nation und den polnischen Staat“ bezeichnet, eine Provokation. Im Westen Europas tobt der Kulturkampf um die Einwanderung, in Polen um Kirche und Liberalität.
Die linksliberale Wiosna kann am 26. Mai mit rund 10 Prozent rechnen. Nicht viel, aber etwas. Im Europaparlament wollen sich Biedron, Scheuring-Wielgus & Co der sozialdemokratischen Fraktion anschließen. Das ist, angesichts der schwierigen Lage der Euro-Sozialdemokraten, so etwas wie ein Hoffnungsschimmer.
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