Sozialarbeiter über Hanau und Corona: „Eine Wunde im Stadtteil“
Die Pandemie hat die Aufarbeitung des Anschlags verhindert, sagt Günter Kugler. Er betreut Jugendliche in Hanau-Kesselstadt, viele von ihnen kannten die Opfer.
taz: Herr Kugler, Sie arbeiten als Sozialarbeiter in einem Jugendzentrum, nicht weit von einem der Tatorte entfernt. Am Tag des Anschlags haben Sie eines der Opfer, Ferhat Unvar, verabschiedet. Auch viele Jugendliche, die Sie betreuen, kannten die Opfer. Wie haben Sie danach weitergemacht?
Günter Kugler: Viele Menschen im Stadtteil kannten die Opfer, denn sie waren nicht von außerhalb, sondern haben hier gewohnt. Fünf der Opfer kannten wir gut, manche waren hier schon als Kinder im Jugendzentrum. Die ersten vier Wochen nach dem Anschlag war die Einrichtung hier so voll wie nie. Wir haben zusammen gekocht, uns in den Arm genommen, geredet, uns gegenseitig getröstet.
57 Jahre alt, ist Sozialarbeiter im Jugendzentrum K-Town in Hanau-Kesselstadt
Aber dann kam die Pandemie – welche Folgen hatte das in dem Fall?
Corona hat die Aufarbeitung leider weitestgehend verhindert. Ich schätze, wir haben hier in Kesselstadt eine dreistellige Zahl von traumatisierten Menschen. Wegen Corona gibt es ja nicht viel, was hilft. Das eine ist psychotherapeutische Unterstützung und das andere wäre gemeinsames Trösten, Trauern oder Unternehmungen, aber das geht nur sehr beschränkt. Dazu kommt, dass viele keine Erfahrung oder Berührungsängste mit Einzelpsychotherapie haben. Direkt nach dem Anschlag haben wir versucht, Kleingruppen zusammenzustellen, die therapeutisch begleitet werden. Wir waren bei den Erstgesprächen dabei, um das vertrauter und niedrigschwellig zu organisieren. Aber mit dem ersten Lockdown wurden viele Therapien abgebrochen – und wir sehen hier im Stadtteil eine Verhärtung von Krankheitsverläufen.
Was genau beobachten Sie?
Es gibt Menschen, die essen nicht mehr, andere entwickeln Ticks. Viele können nicht mehr schlafen, weil immer wieder Bilder aus der Tatnacht auftauchen. Manche sagen, sie halten es nicht mehr im Stadtteil aus, weil sie vom Balkon aus auf den Tatort schauen. Die Angehörigen und Freunde der Opfer leben hier teils nur zwischen 50 und 200 Meter entfernt vom Haus des Täters oder vom Tatort. Sie müssen am Tatort vorbeilaufen, um einkaufen zu gehen, das retraumatisiert natürlich. Viele erzählen, dass es ihnen so vorkommt, als sei der Anschlag erst vor ein paar Tagen passiert. Aber es ist fast ein Jahr vergangen.
Welche Art von Sozialarbeit bieten Sie derzeit an?
Das ganze Jahr über haben wir Einzelgespräche angeboten oder in Kleingruppen gearbeitet – je nach Bestimmungslage. Es gibt auch jetzt im Lockdown Schülerhilfe, Berufsassistenz und Sozialberatung. Viel läuft online, aber wir können auch unter Auflagen vor Ort Gespräche führen. Was jetzt nicht geht, ist der offene Treff oder Sportangebote. Normalerweise haben wir 120 Jugendliche, die zweimal wöchentlich fest trainieren. Wir erreichen gerade nicht so viele wie vor der Pandemie.
Gibt es denn Gruppen, die online in Kontakt sind?
Wir haben mehrere Whatsapp-Chats, Whatsapp dürfen wir eigentlich wegen Datenschutz nicht verwenden, aber darüber kommunizieren einfach die meisten Jugendlichen. Dort können wir über Online-Sportangebote oder Berufsassistenz informieren, aber eigentlich wird da über viel mehr Themen kommuniziert.
Sprechen die Jugendlichen seit dem Anschlag mehr über Rassismus?
Die Jugendlichen hier fühlen sich mehrheitlich von Rassismus sehr betroffen. Das war schon vor dem Anschlag so. Die Wahrnehmung „Wir werden hier diskriminiert, wir bekommen nicht das, was andere bekommen“, die ist bei vielen Jugendlichen gesetzt. Allein was sie mitkriegen an Racial Profiling im Stadtteil – es wird nirgends so viel kontrolliert wie hier. Aber das, womit viele früher individuell umgegangen sind, wird jetzt mehr diskutiert und in diesen Zusammenhang gestellt.
Also die Jugendlichen benennen Racial Profiling konkret?
Sie sagen in etwa „Wir als Schwarzköpfe werden immer mehr kontrolliert.“ Es ist eine kollektive Erfahrung, die sie eint. Die Situation hat sich natürlich durch die Coronakontrollen zusätzlich verschärft. Viele Jugendliche bekommen jetzt Bußgeldbescheide, manche sind schon bei 600 Euro mittlerweile – Geld, das sie überhaupt nicht haben.
Bußgelder, weil die Jugendlichen sich treffen, obwohl es unter Corona nicht erlaubt ist?
Genau. Es wird hier viel kontrolliert. Dazu kommt, dass der Vater des Täters hier noch wohnt, er hat die gleichen weltanschaulichen Überzeugungen wie sein Sohn. Deswegen gibt es auch massive Konflikte. Das Verhältnis zur Polizei war vor Corona schon nicht gut und hat sich jetzt nicht verbessert…
In Kesselstadt stehen viele Hochhäuser, wohnen die Jugendlichen dort eher in beengten Wohnverhältnissen?
Viele Jugendliche leben räumlich beengt, ohne Balkon, teils zu fünft auf 70 Quadratmetern. Die Möglichkeit rauszugehen, ist da natürlich viel wichtiger als in einem großen Haus mit Garten.
Wie blicken Sie auf diese Entwicklungen ?
Besorgt. Denn die Polizeikontrollen sind ja nur ein weiteres Moment in einer sich vertiefenden sozialen Spaltung. Es geht hier nicht nur um Rassismus, sondern auch um soziale Fragen, denn die meisten Jugendlichen kommen aus Familien, die wenig Geld haben. Armut ist ja mehrheitlich migrantisch, in Kesselstadt sowieso. Viele soziale Probleme verschärfen sich unter Corona: Nur wenige Familien, die wir kennen, haben überhaupt einen funktionsfähigen Drucker oder genügend Laptops zu Hause. Das heißt, die Kinder fallen beim Homeschooling einfach hinten runter.
Was müsste jetzt passieren?
Bildungschancen und Berufsperspektiven zu schaffen, das sind gesamtgesellschaftliche Aufgaben. Aber in diesem Stadtteil muss viel passieren, auch städtebaulich, da sind sich alle einig. Der Tatort, der Kurt-Schumacher-Platz, ist wie eine offene Wunde im Stadtteil. Ich wünsche mir, dass die Jugendlichen in diesem Umgestaltungsprozess wirklich miteinbezogen werden, damit sie sich wirkmächtig fühlen.
Und wie soll die Jugendarbeit konkret weitergehen nach dem Anschlag?
Wir haben momentan einen speziellen Chat: Die Jugendlichen wünschen sich im Jugendzentrum einen Ort des Gedenkens. Eine Ecke mit Fotos und Blumen, und im Eingangsbereich soll es eine Messingtafel geben mit den Namen der Ermordeten. Das wird intensiv besprochen und geplant. Räumlich getrennt soll noch ein Ort der Begegnung entstehen, mit Sitzgelegenheiten und mit einem Brunnen in Form eines Globus. Die Jugendlichen hätten gern ein Graffiti mit der Aufschrift „Herzlich willkommen“ in 100 Sprachen.
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