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Sondierungsgespräche nach der WahlDeutschland, aber als Projekt

Die laufende Sondierungssaga vermittelt nach all dem angeblichen Stillstand der letzten Jahre endlich Erlebnischarakter. Ein echtes Projekt.

Ein Projekt (v.l.): Olaf Scholz (SPD), Robert Habeck (Grüne) und Christian Lindner (FDP) feiern hart Foto: warner

Es gibt da diesen recht einfältigen Film aus den frühen 2010er Jahren, in dem drei Highschool-„Loser“ (auch so eine ZehnerJahre-Vokabel) eine Party veranstalten, die durch die Wirrungen der sozialen Netzwerke plötzlich zum Megaevent mutiert und völlig aus dem Ruder läuft.

„Project X“ heißt der Streifen, der in etwa so inhaltsarm daherkommt wie der diesjährige CDU-Wahlkampf. Dennoch veranschaulicht er allein durch seinen Titel ein bis heute gegenwärtiges Phänomen: die Projektifizierung der Alltagswelt (in diesem Fall das Projekt Party hart). Fast zehn Jahre nach dem Film bricht sich die Begrifflichkeit des Projekts auch wieder im bundespolitischen Diskurs Bahn. Im Zuge der (informellen, Vor-, Vor-vor-)Sondierungsgespräche ist von politischen Ak­teu­r:in­nen und ihren Be­ob­ach­te­r:in­nen immer häufiger von einem Projekt die Rede, das da in den Berliner Hinterzimmern geschmiedet werden solle.

Während Robert Habeck am Wahlabend empfahl, sich nun zu überlegen, „was könnte das Projekt sein“, die CDU sich zwischenzeitlich mit dem flirtigen Ausdruck des „Zukunftsprojekts“ darum bemühte, Grüne und Liberale zu umwerben, und Olaf Scholz bereits das „ganz große Projekt“ orakelte, falls eine mögliche Ampel in vier Jahren wiedergewählt würde – beerdigte jüngst Markus Söder gespielt wehmütig die Jamaika-Option mit dem Satz, dass es sich trotz aller Unterschiede doch gelohnt hätte, „ein solches Projekt anzugehen“. Die omnipräsente Vokabel Projekt birgt dabei eine erzählerische Chance, die Erneuerung und Aufregung anstelle routinehafter Groko-Langeweile verspricht.

Ähnlich wie im Teenie-Film spielten auch zu Beginn der Sondierungssaga zwischen Grünen und FDP die sozialen Netzwerke eine zentrale Rolle. Das kaum anders als mit dem Boulevard-Unwort des Kult-Selfies zu etikettierende Wissing-Lindner-Baerbock-Habeck-Foto, das mittlerweile in all seinen Facetten und Filtern hinreichend boomerig analysiert worden ist, steht schon jetzt als ikonografische Zeugin für eine anstehende grün-liberale Zusammenarbeit. Das Foto offenbart bereits einen großen Vorteil des Projektprinzips: seinen Erlebnisfaktor.

Zeitliche Begrenztheit

Denn ein Projekt, so ist es vielfach soziologisch definiert worden, zeichnet sich durch seine zeitliche Begrenztheit aus. Es hat einen Start und einen Abschluss und ermöglicht somit einen Spannungsbogen von Anfang, Höhepunkt und Ende. Das gilt gleichermaßen für das politische Projekt Grün-Gelb wie für anderweitige Projekte aus dem privaten Raum (Balkonbepflanzung, Bachelor-Arbeit, Geburtstagsgeschenk für Rainers Sechzigsten).

Statt die inhaltlichen Differenzen in den Vordergrund zu stellen, öffnet das Projekt einen positiven Denkraum

Im Film „Project X“ sorgt letztendlich ein Aufruf auf der Anzeigenplattform Craigslist, der sich als viral gehende Ketteneinladung entpuppt, für die unverhoffte Partyeskalation. Sollte es nun tatsächlich zu einer „Zitruskoalition“ kommen und diese im Sinne ihrer Wäh­le­r:in­nen­schaft vorzeigbare Resultate erzielen, so wird wohl auch das Sondierungsselfie im Rückblick als Startschuss, als Erweckungsmoment, ja als erste Teambuilding-Einheit vernarrativiert werden. Entfaltet das Posting doch bereits jetzt die Ästhetik eines Führungskräfte-Kennenlern-Wochenendes im ländlichen Raum, bei dem nach gemeinsamer Alpaka-Wanderung noch an einem Escape-Room-Brettspiel gerätselt wird.

Option des positiven Denkraums

Dem Erlebnisfaktor des Projekts wohnt durch seine zeitliche Begrenztheit noch ein weiteres Charakteristikum inne: seine Einmaligkeit. Bei „Project X“ gibt es eine Szene, in der Gastgeber Thomas gewillt ist, zugunsten des Inventars seiner Eltern die Partymeute aus dem Haus zu werfen, als ihm im letzten Moment die Einmaligkeit der Chance bewusst wird, nun endlich zu den coolen Kids dazuzugehören. Eine grün-gelbe Koalition gab es auf Bundesebene bisher ebenso wenig wie ein Dreierbündnis.

Statt also die (sehr, sehr vielen) inhaltlichen Differenzen in den Vordergrund zu stellen, öffnet die Thematisierung der Neuartigkeit eines politisch nie dagewesenen Projekts einen positiven Denkraum. Hier könnte etwas Einzigartiges, gar etwas Historisches entstehen. Konfliktbehaftete Sondierungsverhandlungen verwandeln sich im Gewand des Projekts zu einem attraktiven Happening. Wie formulierten es die vier Spit­zen­po­li­ti­ke­r:in­nen einhellig unter ihrem Selfie-Post: „Spannende Zeiten“.

Wie gemacht für Grüne und Liberale

Gerade für Grüne und Liberale erscheint diese Erzählung wie gemacht. Versuchen sich beide Parteien doch zum einen als bisherige Oppositionsvertreterinnen und zum anderen mit ihren hohen Zustimmungswerten bei jungen Wäh­le­r:in­nen als Gegenmodell einer gestrig wirkenden Regierungsbehörde zu inszenieren. Das Projekt steht hier genau für das Gegenteil: keine Routinen, keine festgefahrenen hierarchischen Strukturen.

Vielmehr ein kreativer diverser Austausch über Ressortgrenzen hinaus. Start-up-Mentalität statt Matrixorganisation, dynamische Prozesse statt unflexibler Musterlösungen, Identifikation mit übergeordneten Prinzipien statt schematischer Rollenausübung – so lauten die gewünschten Assoziationen, die im Projekt-Paket mitgeliefert werden.

Alle sind sichtbar

In den aktuellen politischen Diskurs passt das Konzept des Projekts deshalb so gut, weil es sich vom eingestaubten Begriff der Koalition entscheidend abgrenzt. Bestanden Koalitionen in der bundesrepublikanischen Geschichte doch zunächst aus großen Volksparteien und ihren kleinen Junior-Partner:innen (eine seit dieser Wahl endgültig überholte Realität), gerieten sie spätestens mit den Großen Koalitionen in Misskredit. So waren sich die Sozialdemokraten über das letzte Jahrzehnt wahrscheinlich in wenigen Punkten so einig wie in der Überzeugung, dass all ihre Errungenschaften in der großen Unschärfe des bürokratischen Groko-Apparats untergegangen seien.

Und auch Christian Lindner ließ die Jamaikakoalition vor vier Jahren wohl auch deshalb platzen, weil er sich um die Sichtbarkeit seiner Partei zwischen schwarz-grünen Interessen sorgte. Das Prinzip des Projekts hingegen beruht geradezu auf der Sichtbarkeit seiner einzelnen Teilnehmer:innen. Nach dem Soziologen Andreas Reckwitz setzt die Projektstruktur auf neue innovative Lösungswege, gerade durch die Herausstellung seiner in ihren Kompetenzen, Expertisen, aber auch Persönlichkeiten und kulturellen Hintergründen grundverschiedenen Mitglieder:innen.

Projekte symbolisieren Aufbruch

Reckwitz spricht hier von einer „Ensembleleistung“, wie man sie aus dem Theater kennt. Ein politisches Projekt verspricht demnach, dass jedes seiner Ensemble-Mitglieder:innen sichtbar ist und mit ihren einzigartigen Fähigkeiten glänzen kann. Das klingt für alle Parteien verheißungsvoll, setzt jedoch voraus, dass die einzelnen Teil­nehme­r:in­nen des Projektteams auch ein klares, unverwechselbares Profil aufweisen. Die Grünen (Klima), die FDP (Freiheit, Digitalisierung), die SPD (12 Euro Mindestlohn, sozialer Wohnungsbau, RESPEKT) und Armin Laschet (Cigarillos, aber nicht auf Lunge) können ein solches ja durchaus vorzeigen.

Projekte symbolisieren Aufbruch, Flexibilität und kreatives Neues – doch dem gegenüber stehen auch so manche Gefahren: Projekte sind unsicher, drohen leicht instabil zu werden oder im Sande zu verlaufen. Leerlauf und Sackgassen sind Teil jeder Projektphase und da sie durch ihre Zusammensetzung emotional und affizierend wirken, zeichnet sie auch immer ein hohes Enttäuschungsrisiko aus. Projekte können zu ungeahnten Ergebnissen führen.

Zu Überraschungen positiver, aber auch negativer Art. Im Film „Project X“ endet die Party damit, dass ein leicht verwirrter Drogendealer auf der Suche nach einem mit Ecstasy-Pillen befüllten Gartenzwerg mit einem Flammenwerfer das gesamte Viertel abfackelt. Baerbock, Habeck, Wissing und Lindner könnten also durchaus recht behalten: Mit einem neuen politischen Projekt stehen Deutschland womöglich spannende Zeiten bevor.

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2 Kommentare

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  • Mitglieder:innen. Steht zweimal im Text, also isses Absicht. Mein gestriger zynischer Kommentar hierzu ( und was außer zynisch bleibt einem da noch ??? ) wurde nicht freigeschaltet, also versuch ichs nochmal weniger spöttisch: Mitglieder:in ist der älteste Witz übers Gendern. Genauso ... (ich spar mir das Adjektiv, sonst wird dies wieder nicht freigeschaltet) wie die ErtsemerterInnen, die es im vorletzten und letzten Jahrzehnt in der AStA-und-Fachschaften-Poesie bundesweit zu bewundern gab. Sprache konsistent verändern können wollen heißt zunächst mal: Sprache verstehen. Bei vielen vielen der Akademiks aus den letzten Jahrzehnten wohl Fehlanzeige-

    • @lesnmachtdumm:

      Tippenkönnen, schön wärs: heißt und hieß richtig falsch natürlich ErstsemesterInnen