Sonderparteitag der SPD: Peer versucht den Neuanfang
Vergesst Clowns und Vortragshonorare! Dieses Motto scheint sich die SPD verordnet zu haben. Ein bürgernaher Peer Steinbrück umarmt die Partei.
AUGSBURG taz | Der 16-jährige Bahran Kücüc aus Stuttgart gehört zu den Gästen dieses SPD-Parteitags, die den Sozialdemokraten zum Neuanfang verhelfen sollen. Sein Großvater kam vor 50 Jahren aus der Türkei nach Deutschland. Bahran macht seinen Realschulabschluss, will aufs Gymnasium. „Meine Zukunft sehe ich in Deutschland, aber gleichzeitig bin ich Türke“, zitiert ihn SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück.
Augsburg am Sonntag: Die Sozialdemokraten sind zum außerordentlichen Bundesparteitag zusammengekommen, um ihr Wahlprogramm zu verabschieden. Viel Zeit bleibt für inhaltliche Debatten nicht, auf nur fünf Stunden ist der Parteitag angesetzt. Im Mittelpunkt des Interesses steht deshalb auch die Rede Steinbrücks.
„Lieber Bahran, du hast die SPD an deiner Seite“, sagt der Kandidat. Der junge Mann muss sich bald entscheiden: türkischer oder deutscher Pass. Wenn er einen von beiden wählt, wäre das, als würde er seine Wurzeln abschneiden. Aber die SPD will die doppelte Staatsbürgerschaft ermöglichen. Der Kanzlerkandidat, der in der Vergangenheit von einer Panne zur nächsten stolperte, lässt es am Sonntag menscheln.
Aus allen Winkeln Deutschlands hat er für seine gut einstündige Rede Menschen mitgebracht, die er auf seinen Länderreisen kennengelernt hat: Dazu zählen die Jungunternehmerin aus Leipzig, die einen Kita-Platz für ihr Kind sucht, ebenso wie die vier älteren Damen aus Nürnberg, denen betreutes Wohnen zu teuer ist. Martin findet keine bezahlbare Wohnung in Frankfurt; Frank verdient nur 6 Euro die Stunde. Immer wenn Steinbrück aus den Geschichten der Menschen sozialdemokratische Ziele ableitet, kommt das an bei den rund 600 SPD-Delegierten.
„Ich will Kanzler werden“
Es wirkt, als legte die Partei am liebsten eine dicke Wolke der Amnesie über das Land: Vergesst Clowns und Vortragshonorare, vergesst miese Umfragen und ungeschickte Wahlkampfmottos. Die Botschaft: Noch ist nicht alles verloren, jetzt geht der Wahlkampf erst los. Mit „Ich will Kanzler werden“ eröffnet Steinbrück seine Rede. Er erntet minutenlangen Applaus, Standing Ovations.
Nachdem er mit der Regierung Merkel abgerechnet hat, die nichts außer „schöne Schachteln“ im Schaufenster zu bieten habe, stellt er den Unterschied von SPD und Union in den Mittelpunkt. Mindestlohn, Mietrecht, doppelte Staatsbürgerschaft, Bändigung der Finanzmärkte. „Das ist sozialdemokratische Politik, da unterscheiden wir uns“, sagt Steinbrück immer wieder.
Mit seiner Politik würde Frank 400 Euro mehr verdienen, Martin müsste keine Kaution für seine Wohnung mehr zahlen. „Wir müssen weg von der Ellenbogenmentalität, hin zu einem ’mehr wir‘ und ’weniger ich‘ “, sagt er. Die Wahlerfolge der letzten Landtags- und Oberbürgermeisterwahlen in Großstädten sollten „unser Ansporn für den September sein“. Steinbrück zum Abschluss: „Besinnen wir uns auf unsere Kraft.“ Seine Rede stimmt die Partei auf einen harten Wahlkampf ein.
Gabriel attackiert Merkels „Nichtregierungsorganisation“
Parteichef Sigmar Gabriel hat seine Ansprache zuvor mit einem Brecht-Zitat eröffnet: „Verändere die Welt, sie braucht es.“ Gabriel attackiert Kanzlerin Merkel, die „sympathische Anscheinserweckerin“ und ihrer „Nichtregierungsorganisation“. Er fordert die Mitglieder auf, von Tür zu Tür zu gehen, die Menschen im Land zu überreden, wählen zu gehen und im besten Falle für die SPD zu stimmen. Bemerkenswert ist das klare Bekenntnis für Rot-Grün. „Fair und solidarisch wollen wir mit euch koalieren“, sagt Gabriel in Richtung der Grünen-Chefin Claudia Roth.
Ihre Anwesenheit ist eine Premiere. „Unsere Botschaft ist: ein klares Ja zu Rot-Grün und zu nichts anderem, dafür treten wir an“, sagt Gabriel. Roth selbst freut sich „narrisch“, die SPD in ihrer Heimatstadt begrüßen zu können. Das Land ticke rot-grün, genauso müsse es regiert werden. Als sie nach ihrer Rede die Bühne verlassen will, holt Gabriel sie zurück und umarmt sie. Es sieht aus wie ein vorweggenommenes Gewinnerbild vom Herbst 2013.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe