Sonderpädagogik und Nationalsozialismus: Behinderte Aufklärung
Kinder aus armen Familien müssen häufiger auf die Sonderschule: Liegt das daran, dass die Schulform ein Nazi-Erbe ist? Die Frage sorgt für Streit.
Ina Schröder schweigt. Sie macht das nach jeder Frage, die man ihr zu ihrem Vater stellt. Sie kneift die Augen zu und versucht sich zu erinnern. Über ihren Vater zu sprechen fällt ihr schwer, deshalb ist Ihr Name ein Pseudonym.
Ihr Vater, Karl Tornow, gilt heute als einer der einflussreichsten Sonderpädagogen der NS-Zeit. Er war Propagandachef der Sonderschulen, Berater des rassenpolitischen Amts, prägte die Lehre der völkischen Sonderpädagogik, die für die Zwangssterilisation von hunderttausenden „Behinderten“ mitverantwortlich war.
Bis vor einigen Jahren wusste seine Tochter kaum etwas über seine Vergangenheit. Sie ist das jüngste Kind aus zweiter Ehe, wird nach dem Krieg geboren. Ihr Vater hat längst ein neues Leben begonnen, sein Entnazifizierungsverfahren weist ihn als Benachteiligten des Naziregimes aus. Er gilt als unbelastet.
Tornow hat die Sonderpädagogik aufgegeben und eine Ausbildung zum Psychotherapeuten gemacht. Seine Tochter erinnert sich an ihn als einen Mann, für den die Menschen im Mittelpunkt stehen, bei der Arbeit, privat. Daran, wie sie und ihr Bruder als Kinder auf seinem Schoss sitzen. Wie er Kasperletheater aufführt, das er noch aus seiner eigenen Kindheit kennt. Er bringt ihnen bei, Fliegen mit der Hand zu fangen, um sie in die Freiheit zu entlassen.
„Warum lebe ich überhaupt?“
1975 beginnt sein öffentlicher Fall. Ein Sonderpädagoge thematisiert in einem Fachmagazin sein Unterrichtsbuch „Erbe und Schicksal. Von geschädigten Menschen, Erbkrankheiten und deren Bekämpfung“. Tornow hat es 1934 mit einem Kollegen verfasst. Es richtet sich an „behinderte“ Kinder, hetzt gegen „Asoziale“, gegen „blöde Männer mit Spalthänden“, „Idioten“, „Trinker“, „Schwachsinnige“.
Europas Botanische Gärten werden nach und nach geschlossen. Ob sie noch zu retten sind, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 28./29. Mai. Außerdem: Elf kongolesische Blauhelmsoldaten stehen vor einem Militärgericht – wegen mutmaßlichen sexuellen Missbrauchs im Rahmen der UN-Friedensmission in der Zentralafrikanischen Republik. Kann nun Recht gesprochen werden? Und: Am 5. Juni stimmen die Schweizer über das bedingungslose Grundeinkommen ab. Wie lebt es sich damit? Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
Die Lektion, die Schüler lernen: Wer „erbkrank“ ist, der muss sich zum Volkswohl sterilisieren lassen. Sie bekommen Fragen mit wie: „Warum lebe ich überhaupt?“ Die Antwort können sie nachlesen: „Es wäre besser, ich hätte niemals das Leben kennengelernt und wäre niemals geboren worden.“ Tornow wird von den Sonderpädagogen der Nachkriegszeit als skrupelloser NS-Funktionär gebrandmarkt.
Seine Tochter liest das Buch zum ersten Mal nach seinem Tod in den 1980er Jahren. Sie und ihr Bruder räumen sein Haus aus, tragen den Nachlass zusammen. Sie finden Schriften von ihm aus der NS-Zeit. „Erbe und Schicksal“, Aufsätze über die völkische Sonderpädagogik, politische Dokumente, Fibeln, Elternbroschüren. Es dauert fast zwanzig weitere Jahre, bis Schröder mehr über die Vergangenheit ihres Vaters erfährt.
Die Erziehungswissenschaftlerin Dagmar Hänsel kontaktiert sie. Sie will den Nachlass sichten. Hänsel forscht seit Jahren zur Geschichte der Sonderpädagogik in der NS-Zeit, auch zu Karl Tornow. Sie hat Quellen über ihn zusammengetragen, einige davon galten als verschollen, andere wurden versteckt. Für sie ist klar, Tornow war mehr als bloß ein einfacher NS-Funktionär. 2008 veröffentlicht sie ein Buch über ihn: „Karl Tornow als Wegbereiter der sonderpädagogischen Profession. Die Grundlegung des Bestehenden in der NS-Zeit“.
Es ist ein schwerer Vorwurf: Die Sonderpädagogik soll Wurzeln in der NS-Zeit haben, die bis heute wirken. Und nicht nur das: Hänsel sagt auch, dass sich die Sonderpädagogik bis heute nicht ausreichend mit dieser Vergangenheit beschäftigt habe. Der Verband der Sonderpädagogik und zahlreiche Forscher weisen das zurück. Sie werfen Hänsel vor, die Geschichte für ihre Kritik an der Sonderschulpädagogik zu instrumentalisieren.
Sozial schwach ist gleich behindert
Dagmar Hänsel sagt, das deutsche Sonderschulsystem sei international einzigartig. Diese Bedeutung habe es durch den Nationalsozialismus erlangt. Die Hilfsschule als die Sonderschulform, die Lernschwache unterrichtet, oder wie es damals hieß, „Geistigschwache“ und „angeboren Schwachsinnige“, sei im Nationalsozialismus zum Zentrum des deutschen Sonderschulsystems geworden. Und bis heute geblieben.
Dagmar Hänsel
Ihre Nachfolgerin, die Förderschule mit Schwerpunkt Lernen, stellt heute fast die Hälfte aller Sonderschulen in Deutschland. Ihre Vertreter sind in Wissenschaft und Politik die wichtigsten Stimmen unter Sonderpädagogen. Dabei ist die Förderschule mit Schwerpunkt Lernen höchst umstritten. Die meisten Kinder, die sie besuchen, stammen aus armen Familien, haben häufig einen Migrationshintergrund. Weniger als ein Viertel erlangt einen Hauptschlussabschluss. „Kinder aus sozial schwachen Familien werden in Deutschland bis heute für behindert erklärt und aus der allgemeinen Schule ausgewiesen“, sagt Hänsel. Einer der Leute, der diese Entwicklung massiv vorantrieb, war Karl Tornow.
Die Hilfsschule steckt zu Beginn der NS-Zeit in einem Dilemma. Sie definiert ihre Schülerschaft als „angeboren schwachsinnig“, was die Nationalsozialisten in ihren Vorstellungen mit „erbkrank“ gleichsetzen. Wenn aber alle Schüler der Hilfsschule „erbkrank“ sind, wozu soll man die Hilfsschule dann erhalten? Welche Eltern würden ihr Kind freiwillig auf diese Schule schicken? Karl Tornow löst dieses Problem.
Er führt den Begriff der „Behinderung“ ein. Er definiert Hilfsschulkinder als Kinder, „die ein bisschen zurück sind“. „Beim einen ist es das Lesen, beim anderen das Schreiben, beim dritten das Erzählen, beim vierten das Diktat oder das Auswendiglernen. Der fünfte ist unruhig, passt nicht auf, er kann nicht stillsitzen. Der sechste ist langsam und pomadig, nichts kann ihn aus der Ruhe bringen.“
Tornow betont, dass diese Hilfsschüler nicht zwangsweise „erbkrank“ seien. Er grenzt sie von „Schwachsinnigen“ ab, die in die Anstalt gehörten. Den Nationalsozialisten gegenüber legitimiert er die Hilfsschule, weil sie die „schwachen Kinder“ aus der Volksschule fernhalte und gleichzeitig ein Sammelbecken für „potenziell erbkranke Kinder“ sei, die man sterilisieren könne.
Heutige Schätzungen gehen davon aus, dass die Hälfte der Hilfsschüler im Dritten Reich sterilisiert wird.
Problematische Aufarbeitung
1934 führt Tornow erstmals in Deutschland den Begriff Sonderpädagogik als zentralen Fachbegriff ein. In einer Rede erklärt er, dass es bei der Arbeit der Sonderpädagogen nicht auf die einzelne Schädigung eines Kindes ankomme, ob es blind, taub oder langsam sei, sondern darauf, ob die Gefahr bestehe, dass jemand „behindert“ sei, sich unter „Benutzung der üblichen Bildungs- und Erziehungseinrichtungen“ zum „vollwertigen und lebenstüchtigen Mitglied des deutschen Staates“ zu entwickeln. „Der Begriff der Besonderung“, erklärt Tornow, habe den Vorteil, dass eine Abweichung vom Üblichen mitgedacht werde, „ohne daß sich wie beim Heilen eine Sinngebung auf Krankes, Anormales, Defekthaftes, und wie die gefühltsbetonten Dinge alle heißen, einschleicht.“
Für Hänsel begründet Tornow damit das berufliche Selbstverständnis der Sonderpädagogen, das bis heute gilt. Doch davon wolle man heute nichts wissen: „In kaum einer Überblicksdarstellung der Sonderpädagogik und in keiner Begriffsgeschichte finden sie auf diese Ursprünge einen Hinweis.“ Auch zu anderen zentralen NS-Sonderpädagogen läge bis heute keine nennenswerte Forschung vor.
Das Problem mit der Aufarbeitung sei, dass die offizielle Geschichtsschreibung der Sonderpädagogik seit der Nachkriegszeit vom Verband Sonderpädagogik und ihm nahestehenden Sonderpädagogen bestimmt werde, behauptet Hänsel. „Kein Historiker oder Erziehungswissenschaftler hat sich bisher eingehend mit dem Thema beschäftigt. Es ist eine komplett interne Sache.“ Bis jetzt.
Der Verband Sonderpädagogik gründet sich nach 1945, zunächst unter dem Namen Verband deutscher Hilfsschulen. Er hat das erklärte Ziel, das Hilfsschulsystem in Deutschland auszubauen und das Sonderschulsystem auszudifferenzieren. Zwar bezieht sich der neue Verband auf den 1933 aufgelösten Hilfsschulverband der Weimarer Republik, doch viele seiner führenden Vertreter waren in den Nationalsozialismus verstrickt.
Gustav Lesemann, der bis zu seinem Tod 1973 als „Vater der Sonderpädagogik“ gilt und Ehrenvorsitzender des Verbands ist, äußert sich 1931: „Solange man sich nicht entschließen kann, zur Zwangsuntersuchung vor der Ehe, zur Sterilisierung tiefstehender Schwachsinniger zu greifen, bleibt die Erziehung so ziemlich der einzige Weg der Fruchtbarkeitsauslese.“
Während des Nationalsozialismus kritisiert er sogar die angeblich zu lasche Anwendung des Gesetzes zur Verhütung „erbkranken“ Nachwuchses: „Ich persönlich stehe auf dem Standpunkt, daß man hier und da ruhig einmal einen Zweifelsfall mehr sterilisieren soll, anstatt etwa (…) viele durchrutschen zu lassen, die in Wirklichkeit sterilisiert werden müßten.“ Noch heute ist eine Förderschule in Baden-Württemberg nach ihm benannt.
Er machte sich zum Anwalt dieser Kinder
Es sind nicht nur personelle Kontinuitäten, die den Verband Sonderpädagogik in der Nachkriegszeit prägen. Man baut auch auf den Ideen aus der NS-Zeit auf. Man orientiert sich an den Unterrichtsrichtlinien, die Tornow 1942 für das Dritte Reich entwickelt hat, man nutzt die Ausbildungskonzepte für Sonderschullehrer, Unterrichtmaterialien, Elternbroschüren.
1960 plant die Kultusministerkonferenz die Zukunft der Sonderpädagogik. Zwei Jahre lang wird beraten, verschiedene Mitglieder des Verbands Sonderpädagogik sind beteiligt. Ein Gutachten legt die spätere, international beinahe einzigartige Struktur der deutschen Sonderpädagogik vor: Insgesamt dreizehn verschiedene Sonderschultypen werden aufgelistet.
In der Einführung zum Gutachten heißt es: „Das Ansehen der Sonderschulen in der Öffentlichkeit muss gehoben werden. Das deutsche Volk hat gegenüber den Menschen, die durch Leiden oder Gebrechen benachteiligt sind, eine geschichtliche Schuld abzutragen.“ Das diese geschichtliche Schuld die Sonderschulen selbst mittragen, bleibt unbekannt. Hilfsschullehrer schweigen entweder, oder sie behaupten, dass die Hilfsschule in der NS-Zeit bedroht gewesen sei, dass sie versucht hätten, sie zu retten. Wie Karl Tornow.
Noch 1943 notiert er: „Wohl kaum eine Schulart hat durch die nationalsozialistische Revolution eine solche innere und äußere Umgestaltung erfahren wie die deutschen Sonderschulen.“ In seiner Entnazifizierungsakte klingt das anders: „Die Partei war ein ausgesprochener Gegner der Heilpädagogik.“ Sie habe nicht nur die „behinderten“ Kinder sterilisieren und vernichten wollen, sondern auch die Hilfsschule selbst. „Ich machte mich zum Anwalt dieser Kinder“, schreibt Tornow.
„Sonderpädagogen legitimieren sich bis heute moralisch als Anwälte für das Lebensrecht behinderter Menschen“, sagt die Erziehungswissenschaftlerin Hänsel. „Aber die Sonderpädagogik – besonders die Lernbehindertenpädagogik – hat sich ihren fundamentalen Ausbau in der Nachkriegszeit auf dem Rücken ihrer NS-Opfer erschlichen.“
Keine Hinweise auf der Webseite des Verbands
Der Verband hält sich mit Informationen zu seiner NS-Geschichte eher bedeckt. Auf der Internetseite findet man keinerlei Hinweise. Wer auf Wikipedia nachschaut, findet lediglich einen kurzen Passus, in dem steht: „Der Verband gründete sich 1898 als Verband deutscher Hilfsschulen. 1955 erfolgte die Umbenennung in Verband deutscher Sonderschulen, im Jahre 2008 in Verband Sonderpädagogik.“ Auf Nachfrage wird man auf die zwanzig Jahre alte Verbandschronik verwiesen. Der NS-Geschichte widmen sich die Chronik knapp dreißig von fast dreihundert Seiten. Tornow wird kurz abgehandelt. Selbst seine biografischen Daten sind falsch.
Eine der Autorinnen ist die ehemalige Hilfsschullehrerin und Sonderpädagogin Sieglind Ellger-Rüttgardt. Sie unterrichtete jahrelang an der Humboldt-Universität in Berlin und gilt als Koryphäe der sonderpädagogischen Geschichtsschreibung. Dass es keine tiefgehende Beschäftigung mit Tornow gab, erklärt Ellger-Rüttgardt damit, dass dieser nach 1945 keine Rolle mehr gespielt habe. Den Vorwurf der mangelnden Aufarbeitung weist sie zurück.
„In den 70er Jahren haben Sonderpädagogen angefangen, sich kritisch mit der NS-Vergangenheit auseinanderzusetzen“, sagt sie. Man habe den Mythos von der „Rettung der Hilfsschule“ widerlegt, Verstrickungen von Sonderpädagogen wie Gustav Lesemann und die Verbrechen an „Behinderten“ aufgedeckt. Dabei seien auch Kontinuitäten in der Vor- und der Nachkriegszeit thematisiert worden. Hänsel gehe zu weit, wenn sie diese bis in die Gegenwart ziehe. „Sie instrumentalisiert die Geschichte, um damit die Sonderpädagogik anzugreifen.“
Hänsel hält dagegen. Bereits in den 1980er Jahren hätte man kritische Sonderpädagogen auf ähnliche Weise abgespeist. Einer forderte damals, dass die Erfahrung der jüngeren Vergangenheit, eine nichtaussondernde Erziehung notwendig mache. Ellger-Rüttgardts Antwort darauf lautete: Geschichte sei kein Steinbruch, den man für passende Argumente in der Gegenwart missbrauchen dürfe. Eine wissenschaftliche Karriere machte aber keiner der Kritiker.
Dagmar Hänsel
„Die heutigen, angeblich kritischen Darstellungen der offiziellen Geschichtsschreibung haben sich nur geringfügig verändert“, sagt Hänsel. Die Sonderpädagogen werden weiterhin oft als Opfer des Nationalsozialismus dargestellt, ein Text spricht gar von der „Opferqualität auch der Täter.“ Auch Ellger-Rüttgardt behaupte immer noch, die Hilfsschule sei bis 1935 bedroht gewesen. Dafür gäbe es keinerlei aussagekräftige Beweise. Leute wie Tornow deute sie zu NS-Funktionären um und stelle sie außerhalb der Hilfsschullehrerschaft. „Das ist keine kritische Aufarbeitung, das ist Geschichtsfälschung“, sagt Hänsel. „Mit Quellen wird nur selektiv, oft gar nicht gearbeitet.“
Eugenische Ideen des NS-Staates propagieren
Ähnlich sieht das auch der Sonderpädagoge Werner Brill, der jahrelang Ellger-Rüttgardts Assistent war. 2010 legt er eine Habilitation über die NS-Zeit vor. Er greift seine Kollegen scharf an: „Vieles ist geprägt durch ideologische Denkmuster, durch standespolitische Interessen, durch Rücksichtnahmen und durch politische Lagerbildung.
Noch immer kann z. B. keine Monographie zum Thema ‚Sonderschule im NS-Staat‘ mit gutem Gewissen empfohlen werden.“ Ein durchgängiges Phänomen sei die „unkritische Übernahme von Positionen anderer“, ohne dass „deren Darstellungen hinterfragt werden. Aus Meinungen werden Fakten.“ Oft werde auf Nachweise verzichtet. Besonders problematisch sei, dass die Geschichte der NS-Zeit beinahe ausschließlich von ehemaligen Hilfsschullehrern und nicht von Externen geschrieben werde.
Brill zeigt durch eine umfassende Recherche in regionalen Archiven und im Bundesarchiv in Berlin, dass Hilfs- und Sonderschullehrer massiv die eugenischen Ideen des NS-Staates stützen, propagieren und umsetzen – und das aus freien Stücken. Der Verband der Sonderschulen in Berlin und Brandenburg richtet sich, im Namen des Verbandes der Hilfsschulen Deutschlands, bereits im Januar 1933 an das Ministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung und bittet, die Durchführung einer Befragungsaktion über die „Vererbung des Schwachsinns“ zu genehmigen. Personenbezogene Daten über ehemalige Hilfsschüler und ihre Eltern sollen erhoben werden, über vermeintliche Krankheiten und Schädigungen ihrer Eltern, Großeltern, Kinder. Die Nationalsozialisten lehnen dieses Vorhaben ab.
Brills Habilitation fällt beinahe durch. Von drei Gutachtern stimmt einer dagegen. Brill hat vor einigen Monaten Akteneinsicht genommen und gesehen, dass das Veto vom Sonderpädagoge Clemens Hillenbrand stammt, der Schriftleiter des Verbands ist. Brill berichtet, er sei Hillenbrand vorher im Rahmen einer Probevorlesung für eine Professur begegnet. Brill hatte in seiner Probevorlesung die Forschungspraxis von sonderpädagogischen Historikern wie Ellger-Rüttgardt kritisiert. Hillenbrand habe ihm zu verstehen gegeben, dass man diese Personen aufgrund ihrer großen Verdienste für die Sonderpädagogik nicht auf solche Weise kritisieren dürfe. Auf Nachfrage der taz erklärte Hillenbrand, er dürfe sich zu den Vorwürfen aus juristischen Gründen nicht äußern.
Ein AfDler ist Referent des Verbands
Ein externes Gutachten rettet Brills Habilitation. Es würdigt die Arbeit als wichtige Pionierleistung. Besprochen wird die Studie von fast niemandem, obwohl Brill Exemplare an alle wichtigen Sonderpädagogen schickt. „Man versucht, es unter den Teppich zu kehren“, sagt er.
Kritischen Nachwuchs gebe es heute nur noch wenig, die Geschichte der Sonderpädagogik sei kein verbindliches Fach im Studium. Viele angehende Sonderpädagogen wüssten kaum etwas über die Vergangenheit ihrer Disziplin. Brill biete jedes Semester ein Seminar zum Nationalsozialismus an. Seine Studenten seien oft entsetzt über die Situation in der Forschung. „Ich erkläre ihnen jedes Jahr aufs Neue: Was in unserer Disziplin gefordert wird, um erfolgreich zu sein, ist ein Papageientum des Geistes, das den Stillstand manifestiert.“
Der Verband Sonderpädagogik reagiert nun auf die Kritik. Er hat angekündigt, auf seinem nächsten Bundeskongress auch die Rolle der Sonderpädagogik im Dritten Reich zu diskutieren, er findet am kommenden Wochenende in Weimar statt. Als Vortragende hat man Dagmar Hänsel eingeladen. Sie ist gespannt, aber auch skeptisch: „Ich publiziere seit Jahren, und es ist nie etwas passiert. Wahrscheinlich will man sich den Anschein geben, als setze man sich mit der Kritik auseinander – und dann weitermachen wie bisher.“
Hänsel hat Gründe für ihre Skepsis. Als einziger Nachwuchswissenschaftler wurde Frank Brodehl eingeladen. Brodehl ist Taubstummenlehrer und im Landesvorstand der AfD in Schleswig-Holstein. Er ist vor Kurzem zum stellvertretenden Referenten des Verbands für den Schwerpunkt Hören ernannt worden, nachdem er letztes Jahr eine Dissertation zur NS-Geschichte vorgelegt hat. Sie trägt den Titel: „Widerstand, Anpassung, Pflichterfüllung? Zur Konfrontation der Taubstummenpädagogik mit dem Gesetz zur Verhütung erbkranken Nachwuchses vom 14. Juli 1933.“ Doktorvater ist der Verbandsschriftleiter Clemens Hillenbrand.
Schmale und einseitige Quellenbasis
Brodehl analysiert drei Taubstummenschulen in Schleswig-Holstein und nimmt die Taubstummenlehrer in Schutz: „Dem (…) verführerischen Gedanken, dass fortan kein Kind mehr mit einer Erbkrankheit geboren werden sollte, konnte nach der Gleichschaltung des Berufsverbandes kein Widerspruch mehr entgegengebracht werden; das enge Netz der Propaganda hätte – wenn überhaupt – nur durch einen organisierten Widerstand auf breiter Basis zerrissen werden können.“
Brodehl stellt sich damit gegen das Werk von Horst Biesold. Dieser hatte in „Klagende Hände“ in den 1980er Jahren ein Tabuthema, die Sterilisierung und Ermordung von Taubstummen im Nationalsozialismus, als Erster öffentlich gemacht – gegen den Widerstand seiner Kollegen, die ihm Quellenmaterial verweigerten und sich öffentlich von ihm distanzierten. Biesold führte mit über 1.200 sterilisierten Taubstummen Interviews, sein Werk wurde vom United States Holocaust Museum in den USA gewürdigt.
Brodehl wirft Biesold vor, aus „Entrüstung und Zorn“ die Taubstummenpädagogik pauschal anzuklagen: Seine Quellenbasis sei „schmal“ und „einseitig“, es gebe „Spekulationen“, „Fehlinterpretationen“ und „Übertreibungen“.
Brodehls Studie wird vom Verband hochgelobt. Auch Ellger-Rüttgardt nennt sie auf der Verbandsseite einen „wichtigen Beitrag zur sonderpädagogischen Geschichtsschreibung“, gestützt auf „umfangreiches Quellenmaterial“. Es verbiete sich ein „pauschalierender, Gewissheit vortäuschender Schwarz-Weiß-Blick auf die Geschichte“.
Die Debatte am nächsten Wochenende dürfte hitzig werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Sourani über das Recht der Palästinenser
„Die deutsche Position ist so hässlich und schockierend“
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
Deutschland braucht Zuwanderung
Bitte kommt alle!
Autounfälle
Das Tötungsprivileg