Bestimmen und Bestimmt werden: Die letzte akzeptierte Diskriminierung
Steven Solbrig hat für die Serie „Sich Selbst Bestimmen“ Menschen mit Behinderung fotografiert, die sich für die Aufnahmen selbst inszenierten. Ein Porträt.
Steven Solbrig ist behindert. Laut seinem Behindertenausweis liegt die Beeinträchtigung durch seine Behinderung bei 40 Prozent. Damit ist er zehn Prozentpunkte von einer Schwerbehinderung entfernt.
Ahorn- und Eichenblätter bilden einen rauschenden Teppich in Goldbraun. An einem Grab hocken zwei Restauratorinnen. Wortlos kratzen sie die Buchstaben und Zahlen auf den Grabsteinen aus, bis die Namen und Lebensdaten der Verstorbenen wieder sichtbar werden. Solbrig kommt sofort ins Erzählen. Bei heiklen Themen zögert er nicht und er scheint nichts auszulassen. Obwohl er seinen Gesprächspartner kaum zu Wort kommen lässt, wird deutlich, wie geschärft seine Aufmerksamkeit ist. Er vertraut.
Steven Solbrig wird behindert. An seiner rechten Hand hat er außer dem Daumen keine Finger. Diese Fehlbildung geht auf eine Amalgam-Füllung zurück, die ein Zahnarzt seiner Mutter während ihrer Schwangerschaft einsetzte. Bis heute sind Plomben mit der Quecksilber-Legierung nicht verboten.
Die Europäische Kommission kam 2007 zu dem Ergebnis, dass die Gefährdung durch Amalgam-Füllungen „relativ gering“ sei. Während Schwangerschaft und Stillzeit sowie am Milchzähnegebiss sollten, so die Empfehlung der Deutschen Gesellschaft für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, keine Amalgam-Arbeiten am Gebiss durchgeführt werden.
Den Nordfriedhof hat Solbrig, der als Künstler, Autor und Fotograf arbeitet, selbst als Treffpunkt ausgewählt. Weil dort mit mehreren Grab- und Ehrenmälern den Gefallenen der beiden Weltkriege gedacht wird. Die Hildesheimer Euthanasieopfer kämen hier aber zu kurz, sagt er. Es findet sich weder ein Denkmal noch eine Infotafel, die ausführlich über Hildesheims nationalsozialistische Verbrechen oder die Namen der Opfer informiert.
Steven Solbrig wird als behindert wahrgenommen und definiert. Im Schulsport musste er etwa zusehen, wie die anderen an Seilen bis unter die Turnhallendecke kletterten. Für den Schwimmunterricht montierte Solbrigs Vater eine Schlaufe am Schwimmbrett, weil Solbrig sich am handelsüblichen Griff nicht festhalten konnte.
Wenn in Solbrigs Umfeld jemand „Spacko“ oder „behindert“ als Schimpfworte benutzt, wird er wütend. Er kann über strukturelle Diskriminierungen etwa in der Alltagssprache nicht hinwegsehen, führt häufig hitzige Diskussionen. Hat er keine Lust auf langwierige Wortwechsel, hebt er seinen rechten Arm und wackelt mit seiner fingerlosen Faust. Diese harmlose Geste wird zum lakonischen Mahnmal gegen Ableismus, also Behindertenfeindlichkeit.
Bei seiner Arbeit ist Solbrigs oberstes Gebot der Wille seiner Modelle. Sie alle dürfen bei ihren Fotoshootings selbst entscheiden, was sie tragen, wo sie sich selbst fotografieren, wie sie sich inszenieren wollen. André wollte mit einer Spielzeugpistole auf den Betrachter zielen. Im Vordergrund ist der Schmutz unter seinen Fingernägeln zu sehen, über den Kopf hat er sich eine schwarze Kapuze gezogen. Der Wolfsburger blickt ernst aus dem Bild heraus.
Aufgebracht erzählt Solbrig, wie die Werkstätten seine Ausstellung behinderten. Das Personal der Lebenshilfe Wolfsburg liest die Post seiner Bewohner und lässt Solbrig nur mit Menschen Kontakt aufnehmen, die als unproblematisch gelten. Die Veröffentlichung des Fotos von André als Gangster wurde von die Leiterin seines Freizeitclubs untersagt.
Nebel legt sich über den Friedhof. Das Café gegenüber einer Steinmetzerei ist wie ausgestorben. Auf dem Wachstischtusch stehen Automatencappuccino und beinharte Sachertorte. Als Solbrig den ersten Schluck nehmen will, rutscht ihm die randvolle Tasse aus den Händen, mit hauchdünnen Papierservietten wischt er Kaffee von Tisch und Boden. Peinlich ist ihm sein Missgeschick keineswegs. Er geht einfach offen mit seiner körperlichen Einschränkung um. Vielen gibt Solbrig beim Handschlag auch seine rechte Hand. Mal ist es ein Vertrauensbeweis, oft eine Provokation. Seinen Kaffee hält er nun lässig mit rechts, den Daumen im Henkel.
Im Januar soll das neue Bundesteilhabegesetz verabschiedet werden, das die Eingliederung in den regulären Arbeitsmarkt für Menschen mit Behinderung erleichtern soll. Aber genau die gehen schon jetzt gemeinsam mit SozialrechtsexpertInnen dagegen auf die Barrikaden. Solbrig nennt das Gesetz eher Rückschritt als Chance. Wenn es um Inklusion geht, platzt ihm der Kragen. „Wenn die Betroffenen“, sagt er und setzt Anführungsstriche in die Luft, „schon bei einem Kunstprojekt nicht frei entscheiden dürfen, ist offenkundig, wie es um strukturell Selbstbestimmung steht. Ich ärgere mich, dass es bei aller Benachteiligung nicht längst eine militante Anti-Ableismus-Bewegung entstanden ist.“
Dass Minderheiten nicht gegeneinander ausgespielt werden, wie etwa nach der Kölner Silversternacht, ist Solbrig wichtig. Aber er hat den Eindruck, dass Ableismus die letzte akzeptierte Diskriminierung ist. Im Gegensatz zur Integration von Geflüchteten oder zur Gender-Diskussion sei Inklusion jedenfalls noch kein Mode- oder Aufregerthema gewesen, sagt Solbrig. Der Wahlniedersachse, der aus dem Speckgürtel Magdeburgs stammt, untermauert seine Thesen ganz rational, etwa mit Foucalt. Oder mit Michel Houellebecq, dessen Roman „Unterwerfung“ über tiefe gesellschaftliche Spaltungen ihm aus dem Herzen spricht.
Steven Solbrig bezeichnet sich als linksradikal und ist gekränkt, wenn diese Zuschreibung mit vermummten Molotowcocktail-Werfern assoziiert wird. Als ihm sein Berufswunsch Pilot verwehrt wurde, begann er eine Ausbildung zum Systemelektroniker im Annastift Hannover. „Behinderten-Ghetto“ nennen viele Auszubildende diesen Ort, der eigentlich der beruflichen Eingliederung von Menschen mit Behinderung dienen soll. Das Programmieren interessierte Solbrig aber nicht, er war einsam und begann dann zu schreiben. Nach dem Ende seiner Ausbildung, holte er sein Abitur nach. Sein einziger Antrieb war, in Hildesheim Kreatives Schreiben und Fotografie zu studieren.
Bereits beim Eignungstest prophezeite ihm eine Dozentin, dass er es am literarischen Institut schwer haben werde. Sie sollte recht behalten. Mit Ende 20 ist Solbrigs Lebensrealität eine andere als die seiner KommillitonInnen. „Ich bin nie wirklich in Hildesheim angekommen, weil ich mich dort mit elitären und selbstbezogenen Perspektiven auseinandergesetzt habe“, sagt er heute, nach fünf Jahren Studium:
Als der heute 32-Jährige eine Fotostrecke über seine Behinderung produziert, sagt ein Professor, dass das nicht gehe. Andere Studierende werfen ihm vor, er inszeniere sich gerne selbst. Mittlerweile hat er seine Idee weitergedacht. Er will Menschen, die körperlich oder geistig von der Norm abweichen, eine Möglichkeit geben, sich selbst zu inszenieren. Seine eigenen Kenntnisse stellt er als Werkzeug zur Verfügung.
Seit einem Jahr versucht er, Menschen aus verschiedenen Einrichtungen zu erreichen. Mittlerweile sind Fotos von 15 Menschen mit Behinderungen aus Bramsche, Wolfsburg, Göttingen, Kassel und Hannover entstanden. Viele Bilder darf er nicht zeigen: „Ich habe jetzt gemerkt, wie naiv ich anfangs war. Selbst bei einem künstlerischen Projekt geht es den Werkstätten um ihr Prestige“, sagt Solbrig. Die Teilnehmenden will er nun außerhalb des betreuten Kontextes treffen, sofern diese keine Angst haben, sich über den Willen ihrer BetreuerInnen hinwegzusetzen.
Wenn Solbrig gefragt wird, was er beruflich macht, stutzt er. Zurzeit betreut er minderjährige Geflüchtete. Er ist erleichtert, dass das Arbeitsverhältnis zum Jahresende beendet wird, weil die Hildesheimer Aufnahmestelle dann schließt. Aufgrund seines Behinderungsgrades von 40 Prozent könnte er sich mit schwerbehinderten Menschen gleichstellen lassen. Künftige ArbeitgeberInnen müssten ihm in dem Fall Kündigungsschutz gewährleisten. Abgesehen davon, dass er sich nicht vom Arbeitsamt gleichstellen lassen möchte, glaubt er „in diesen Zeiten des zunehmenden Rechtsrucks“ ohnehin nicht an gleichgestellte Jobchancen.
Nach der Lebenshilfe Wolfsburg blockieren nun auch die Göttinger und Hannoveraner Einrichtungen die Kooperation. Die Auseinandersetzung über die künstlerische Selbstbestimmung der Menschen mit Behinderungen gewinnt an Brisanz, nicht nur weil die Ausstellung nicht wie geplant zur Verabschiedung des Bundesteilhabegesetzes im Januar eröffnen wird. Von Parteien und Stiftungen will Solbrig kein Geld annehmen, um unabhängig arbeiten zu können. Auch ein Porträt über ihn sieht er kritisch – bis er begreift, wie sinnig es ist, als Urheber dieser emanzipatorischen Arbeit sichtbar zu werden.
Solbrig betont aber, dass er nicht der Vorzeige-Behinderte ist, der es geschafft hat, etwas aus sich zu machen. Im Gegenteil: Neben seiner ehrenamtlichen künstlerischen Arbeit wird er sich auch künftig mit mehreren Jobs durchschlagen müssen. Dass er das mit links machen wird, ist bei den gegebenen Strukturen nicht zu erwarten. Zum Abschied reicht er die rechte Hand.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier des Finanzministers
Lindner setzt die Säge an die Ampel und an die Klimapolitik
Höfliche Anrede
Siez mich nicht so an
US-Präsidentschaftswahl
50 Gründe, die USA zu lieben
Kritik an Antisemitismus-Resolution
So kann man Antisemitismus nicht bekämpfen
Bundestag reagiert spät auf Hamas-Terror
Durchbruch bei Verhandlungen zu Antisemitismusresolution
Tierkostüme als Gefahr aus dem Westen
Wenn Kinderspiele zum Politikum werden