Sonderkommission in Berlin ernannt: Auf ein Neues

Sonderkommission zu Anschlägen in Neukölln berufen. Eine frühere Polizeipräsidentin und der Chefankläger des NSU Verfahrens sollen es richten.

Uta Leichsenring und Herbert Diemer

Uta Leichsenring und Herbert Diemer auf der Pressekonferenz am Donnerstag Foto: plu

Die Sonderkommission steht. Im Roten Rathaus hat Innensenator Andreas Geisel (SPD) am Donnerstag die beiden Sachverständigen vorgestellt, die die Ermittlungen zur Aufklärung der rechtsmotivierten Anschlagsserie in Neukölln überprüfen sollen. Uta Leichsenring und Herbert Diemer sind keine Unbekannten.

Leichsenring war nach der Wende elf Jahre lang Polizeipräsidentin im brandenburgischen Eberswalde. Der ehemalige Bundesanwalt Diemer war Chefankläger im NSU-Verfahren gegen Beate Zschäpe und vier mitangeklagte Helfer des braunen Terrortrios. Er freue sich, mit den beiden zwei hochkarätige Experten gewonnen zu haben, sagte Geisel.

Der Anschlagsserie in Neukölln werden seit 2016 über 70 Taten zugerechnet, darunter Brandstiftung, Sachbeschädigung und Bedrohung. Diese richteten sich hauptsächlich gegen Menschen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Die bisherigen Ermittlungen waren von Ungereimtheiten und Versäumnissen begleitet. Auch der vom Landeskriminalamt eingesetzten Sonderermittlungsgruppe „BAO Fokus“, die unlängst ihren Abschlussbericht vorstellte, war es nicht gelungen, die Erkenntnisse so zu bündeln, dass es für Anklage und Verurteilung der drei Hauptverdächtigen reicht.

„Wir haben eine Theorie, wer die Täter sind, aber wir brauchen Beweise“, sagte Geisel. Die BAO Fokus habe einen enormen Aufwand betrieben, auch weiterhin dürfe nichts unversucht bleiben. Unabhängig von der Berliner Generalstaatsanwaltschaft, die die Ermittlungen im Neukölln-Komplex übernommen hat, sollen nun auch Leichsenring und Diemer die Akten noch einmal auf Schwachstellen abklopfen.

Eigene Geschäftsstelle

Beide bekämen Zugang zu allen relevanten Akten, sie könnten unabhängig und weisungsfrei arbeiten, so der Innensenator. Eine mit vier Mitarbeitern ausgestattete eigene Geschäftsstelle in der Innenverwaltung werde sie unterstützen. Im Frühjahr 2021 hoffe er auf einen Abschlussbericht. Auf Nachfrage bekannte Geisel, dass er noch eine dritte Person für die Sonderkommission im Auge hatte, die aber abgesagt habe.

Leichsenring und Diemer – sie ist 70, er 66 – haben sich in der Vergangenheit auf unterschiedlichen Ebenen gegen Rechtsextremismus eingesetzt. Die aus der Bürgerbewegung der DDR kommende Ökonomin war im November 1991 gerade Polizeipräsidentin in der brandenburgischen Kreisstadt Eberswalde geworden, als dort der Angolaner Antonio Amadeu von Neonazis erschlagen wurde. Infolge eines konsequenten polizeilichen Verfolgungsdrucks unter Leichsenrings Führung wurde die rechte Szene in der Gegend zurückgedrängt.

Die vom damaligen CDU-Innenminister Jörg Schöhnbohm initiierte Polizeireform kostete sie 2001 den Job. Nach einem Gastspiel als Toleranzbeauftragte des Landes Brandenburg – eine Tätigkeit, die sie später als Alibijob ohne Kompetenzen bezeichnete – engagierte sie sich in zahlreichen Netzwerken, Vereinen und Stiftungen für Toleranz und Demokratieentwicklung in den neuen Bundesländern. Leichsenring gilt als durchsetzungsfähig, von ihren früheren Vorgesetzten ließ sie sich nicht den Mund verbieten. Für ihr Engagement gegen rechts wurde sie mehrfach ausgezeichnet.

Herbert Diemer, in Franken geboren, war als Ranghöchster der Bundesanwaltschaft das Schwergewicht der Anklage im NSU-Prozess gegen Beate Zschäpe und weitere Angeklagte. Inzwischen befindet er sich im Ruhestand. Er brachte die Forderung nach der Höchststrafe für Zschäpe durch, obwohl sich diese an keinem Tatort aufgehalten hatte. Auch für den Mitangeklagten André Eminger forderte Diemer 12 Jahre Haft. Eminger kam jedoch mit zweieinhalb Jahren glimpflich davon. Die Bundesanwaltschaft hat hier Revision gegen das Urteil eingelegt.

Alles Erforderliche gesagt

Diemer und der Generalbundesanwaltschaft wurden im NSU-Komplex gerade von Vertretern der Nebenklage immer wieder der Vorwurf gemacht, das Netzwerk und die Helfer um Zschäpe, Böhnhardt und Mundlos nicht ausreichend zu ermitteln. Das ist insofern pikant, als Diemer nun auch der Frage nach einem rechtsextremen Täternetzwerk nachgehen soll.

Mit diesem Vorwurf konfrontiert, sagte Diemer am Donnerstag im Roten Rathaus, er habe zu seiner Rolle im NSU-Prozess alles Erforderliche gesagt. Tatsächlich hatte er in dem mehrjährigen Verfahren immer wieder betont, dass das Gericht kein Untersuchungsausschuss sei. Es gehe hier um die Schuld der fünf Angeklagten, um mehr nicht.

Diemer war mehr als 30 Jahre Bundesanwalt. Als der Berliner Innensenator ihn angesprochen habe, „war ich sofort interessiert“, sagte er. Wenn es Anlass zur Besorgnis gebe, dass die Ermittlungen im Neukölln-Komplex nicht rechtsstaatlich abgelaufen seien, „muss das bis zum letzten Komma aufgeklärt werden“.

Polizei als Ganzes in Mithaftung

Auch Uta Leichsenring hat eigenen Angaben zufolge nicht lange gezögert. Motiviert habe sie zweierlei, sagte sie: einerseits, dass Menschen, die sich gesellschaftlich gegen Rechtsextremismus engagieren, in Angst lebten. „Wir müssen ihnen das Gefühl geben, dass sie den Schutz der Sicherheitsbehörden haben.“ Es gehe ihr aber auch um die Polizei, die als Ganzes in Mithaftung genommen werde, wenn die Ermittlungserfolge ausblieben.

Den Vorwurf, auf dem rechten Auge blind zu sein, kenne sie aus ihrer Zeit als Polizeipräsidentin. Dass sie die Sicherheitsbehörden wertschätze, bedeute aber nicht, einen Korpsgeist gutzuheißen. Tatsächlich hatte Leichsenring 1994 zehn Polizisten einer Bernauer Wache gegen interne Widerstände vom Dienst suspendiert. Die Beamten standen im Verdacht, Vietnamesen misshandelt und gedemütigt zu haben.

Dieser Text wurde am 8. Oktober 2020 um 17.15 Uhr aktualisiert.

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