Sommerschulen gegen Lernrückstände: Pauken in den Ferien
In Berlin machen Nachhilfeprojekte des Senats in den Sommerferien Schule, doch muss das sein? Ein Besuch im Angesicht steigender Inzidenz.
M an blicke nun, hatte Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) vor den Sommerferien im Juni gesagt, „mit Optimismus nach vorn“. Das vergangene Schuljahr sei „hart“ gewesen, aber „zum Glück“ gehe diese schwierige Zeit nun zu Ende – doch das war vor den Sommerferien. Dann kam die Delta-Variante in Berlin richtig an. Inzwischen ist sie vorherrschend bei den Neuansteckungen. Und mit den wieder steigenden Inzidenzen schwindet der Optimismus.
Denn bei allen Anstrengungen, die nun unternommen werden, um pandemiebedingte Lernlücken bei den Kindern und Jugendlichen zu schließen, darf man nicht vergessen: Die drängendste Frage ist, ob die Schulen im Herbst wieder im normalen Regelbetrieb laufen werden.
Denn sollte es eine Rückkehr zu Wechselunterricht und Homeschooling geben, ist klar: Auch Nachhilfe in den Ferien kann nicht kompensieren, was gerade diejenigen Kinder verpassen, die zu Hause wenig Unterstützung bekommen (können), sollten die Schultore sich nicht wieder weit und uneingeschränkt öffnen.
Die Schere der Chancenungleichheit, sie geht weiter auf: Nicht überraschend stellte eine repräsentative Allensbach-Umfrage im Auftrag der Telekom Anfang Juli fest: GymnasiastInnen sind der eigenen Einschätzung nach besser durch die Pandemie gekommen als SchülerInnen anderer Schulformen. Etwa 27 Prozent aller Befragten waren der Meinung, „deutlich“ im Rückstand zu sein. Immerhin noch 52 Prozent befanden, sie seien „etwas“ im Rückstand. Und: Je besser das Elternhaus digital ausgestattet war, desto besser lief, wenig überraschend, das Homeschooling.
Sind die Ferien zum Lernen da?
Die Sommerschulen, die die Berliner Bildungsverwaltung über das Bundesprogramm „Stark trotz Corona“ finanziert, sind ohne Frage wichtig. Die zusätzlichen Gelder aus demselben Topf für mehr Jugend- und Familien(sozial)arbeit sind sicher dringend nötig nach eineinhalb Jahren Pandemie.
Am 9. August beginnt in Berlin für rund 337.000 SchülerInnen das Schuljahr an den 763 allgemeinbildenden Schulen. Die circa 34.000 ErstklässlerInnen starten eine Woche später nach den Einschulungsfeiern am 14. August. Geplant ist, dass die Schulen im Regelbetrieb starten – die Kinder also in vollen Klassen ohne Abstand sitzen.
14 Tage lang soll nach den Sommerferien auch im Unterricht eine Maskenpflicht gelten. Außerdem sollen sich alle SchülerInnen in der ersten Schulwoche dreimal statt wie bisher zweimal selbst testen. Auf diese Weise hatte man – vor Ausbreitung der Deltavariante – gehofft, auf steigende Infektionszahlen etwa durch Urlaubsreisen reagieren zu können. Inzwischen steigt das Infektionsgeschehen aber schon vor Ende der Ferien wieder schneller als erwartet. Die aktuelle Inzidenz am Freitag: 22,6.
Nach Plan Im Herbst 2020 waren die Schulen ebenfalls für kurze Zeit im Regelunterricht. Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD) hatte dafür einen Stufenplan konzipiert: Die bezirklichen Gesundheitsämter setzten sich jede Woche mit den Schulleitungen zusammen und entschieden unter Berücksichtigung des Infektionsgeschehens an der Schule sowie im Bezirk insgesamt, wie jede Schule auf einem Ampelsystem eingestuft wurde. Bei „Rot“ mussten die Schule zurück in den Wechselunterricht aus Homeschooling und Unterricht in halbierter Klassenstärke. (akl)
Vielleicht sollte man an dieser Stelle aber auch einwenden, wie es etwa die Lehrergewerkschaft GEW und PädagogikexpertInnen taten: Sind die Ferien wirklich zum Lernen da? Oder wäre es nicht besser, den Kids eine Pause zu gönnen – und stattdessen, die Politik in die Pflicht zu nehmen, die Schulen rechtzeitig fit zu machen? Einige Länder, wie etwa Thüringen und Sachsen, gehen deshalb auch einen anderen Weg und sagen: Aufholen ja, aber das kriegen wir auch noch im kommenden Schuljahr hin.
Lernlücken sind ein Symptom der lange geschlossenen Schulen, die eben nicht – wie von der Politik versprochen – in der Pandemie als Letztes zu- und als Erstes wieder aufgemacht wurden.
Erst in der letzten Ferienwoche Anfang August wird sich der Hygienebeirat mit der Bildungsverwaltung zusammensetzen, um das bestehende Hygienekonzept für das neue Schuljahr eventuell noch mal zu überdenken. Eine Woche vor Schulbeginn, das ist spät.
Luftfiltergeräte und Pool-PCR-Tests
Es wird dann auch um die eventuelle Anschaffung von noch mehr Luftfiltergeräten für die Berliner Klassenzimmer gehen, hatte ein Sprecher von Senatorin Scheeres der taz gesagt. Zur Erinnerung: Die Besorgung der bisherigen rund 8.000 Geräte hat etwa ein dreiviertel Jahr lang gedauert.
Selbst wenn der Bund jetzt auch mit 200 Millionen Euro die Anschaffung von mobilen Luftfiltergeräten – bisher gab es nur für fest verbaute Geräte Geld – in den Ländern fördert: Es ist doch unschwer abzusehen, dass die ersten zusätzlichen Geräte kaum vor Beginn der kalten Jahreszeit, wenn Lüften wieder vielerorts wegen maroder Fenster oder mangelnder Möglichkeit zum Querlüften zum Problem wird, in den Klassen ankommen werden.
Immerhin: Seit dem 19. Juli läuft ein Modellprojekt der Berliner Bildungsverwaltung in den Kitas mit Pool-PCR-Tests; der Pilotversuch soll danach auch auf die Grundschulen ausgeweitet werden. Die Kinder lutschen dabei für etwa 15 Sekunden an Wattestäbchen, die Speichelproben werden gesammelt, und nur wenn das Ergebnis des gesamten Pools mittels PCR-Test positiv ausfällt, wird einzeln nochmal nachgetestet. Die Vorteile: Man spart Testkapazitäten, und das Lutschen am Wattestäbchen ist angenehmer als ein Abstrich.
PCR-Tests sind genauer als die Schnelltests („Nasenbohr-Tests“), mit denen sich die Kinder bisher in den Schulen selbst testen sollen. Zudem spart man bei der Poollösung Testkapazitäten, wenn nur gezielt nachgetestet wird. Laborkapazitäten für so ein PCR-Pooling gäbe es in Berlin genügend, hatten die akkreditierten Labore in der Medizin bereits geäußert.
PCR-Pooltests, Luftfilter und auch die Diskussion darüber, wie man Impfanreize schafft für die Erwachsenen, die sich jetzt impfen lassen könnten – denn für Kinder und Jugendliche gibt es eine Impfempfehlung bekanntlich noch nicht: Letztlich geht es darum, dass nicht die Kinder und Jugendlichen in der Pflicht sein sollten, irgendetwas aufzuholen. Die Verantwortung liegt bei den Erwachsenen. Sie müssen Sorge tragen, dass die Kinder in Zukunft möglichst wenig aufzuholen haben werden.
Sommerschulen sollen die Lücken füllen: Ein Vor-Ort-Besuch
Wir befinden uns in der zweiten Ferienwoche, es ist kurz nach 9 Uhr am Montagmorgen und eigentlich sollte man als Neuntklässlerin an so einem Ferienmontagmorgen entweder noch im Bett liegen und ausschlafen oder mit den Freunden unterwegs an den nächstgelegenen See sein. Sarah, Mailin und Lailani machen nichts dergleichen. Sie sitzen in einem Klassenraum der Bettina-von-Arnim-Schule im Märkischen Viertel und zerlegen folgenden Satz in seine grammatikalischen Einzelbestandteile: „Meine Oma kauft eine große Portion Pommes.“ – „Denkt dran, das Prädikat sagt immer etwas über das Subjekt aus“, hilft Monika Gottwald, die Lehrerin. „Aber wenn ‚die Oma‘ das Subjekt ist“, sagt eines der Mädchen ratlos, „was ist dann bitteschön ‚eine Portion Pommes‘?“
Es ist Sommerschule in Berlin, eines der zentralen Pandemie-Nachhilfeprojekte der Senatsbildungsverwaltung. Insgesamt 44 Millionen Euro bekommen die Berliner Schulen in den kommenden Monaten, um coronabedingte „Lernrückstände“ bei den SchülerInnen auszugleichen – oder besser, es zumindest zu versuchen. Die Mittel kommen vom Bund: „Stark trotz Corona“ heißt das „Aufholprogramm“.
Die Sommerschulen in den großen Ferien sind die erste Maßnahme, die Berlin mit diesem Geld finanziert. Insgesamt 5,3 Millionen Euro finanzieren laut Bildungsverwaltung rund 5.000 Plätze in den jüngsten Grundschulklassen 1–3 und in den Jahrgangsstufen 7–8. Mit EU-Mitteln werden zudem Plätze für ältere Klassen wie in der Bettina-von-Arnim-Schule gefördert. Jeweils zwei Wochen lang gehen diese Nachhilfekurse in den wichtigsten Fächern Deutsch, Mathe, Englisch. Immer morgens von 9 bis 12 Uhr, kleine Gruppen von rund 10 SchülerInnen pro LehrerIn.
Die Plätze zumindest für die jüngeren Klassen 1–3 und 7–8 seien übernachgefragt, sagt ein Sprecher von Bildungssenatorin Sandra Scheeres (SPD). Man könnte auch sagen: Es gibt nicht genug. Oder zumindest kann man wohl feststellen, dass der Ruf nach Hilfe nach 1,5 Schuljahre Homeschooling und Wechselunterricht einigermaßen laut und deutlich ist.
Durchaus motiviert lernen – der See kann auch warten
Die SchülerInnen, die da morgens im Klassenraum von Monika Gottwald sitzen, sind durchaus motiviert – der See kann warten, zumindest für sie. Auch dieses Opfer verlangt ihnen Corona ab, „aber was soll’s?“, sagt Lailani, und guckt herausfordernd: „Ich nehm jede Hilfe mit, die ich kriegen kann.“
Lailani über die Sommerschule
Mailin: „Ich stand in Mathe auf 1, jetzt hatte ich eine 3 zuletzt. Da hab ich selbst entschieden, dass ich Nachhilfe brauche.“
Sarah: „Ich stand 2 in Mathe, jetzt hab ich eine 4. Ich habe bei meiner Lehrerin im Onlineunterricht einfach nichts mehr verstanden.“
Lailani: „Ich hab mich im Homeschooling eine Weile lang nur auf die Nebenfächer konzentriert, das war ganz schlecht.“ Es sei gar nicht so leicht, plötzlich selbst rausfinden zu müssen, was wichtig ist, sagt sie. Ihre Freundin Mailin hingegen sagt, sie wüsste jetzt immerhin eines, nämlich dass sie sich selbst gut organisieren kann.
Nachhilfe Der Löwenanteil der 64 Millionen Euro, die Berlin aus dem Bundesprogramm „Stark trotz Corona“ bekommt, fließen in den klassischen Nachhilfebereich: 44 Millionen Euro sind dafür vorgesehen, unter anderem für die Sommerschulen. Während es für die Jahrgangsstufen 1–3 und 7–8 laut Bildungsverwaltung eine „Übernachfrage“ gab, seien die Plätze für die älteren SchülerInnen, die wiederum über EU-Mittel gefördert werden, „nicht ganz ausgeschöpft“ worden. Voraussichtlich rund 250 Plätze blieben wohl ungenutzt.
Jugendhilfe 12 Millionen aus dem Aufholen-Paket gehen in die Jugend(sozial)arbeit, etwa für Sommercamps und Zeltlagerfahrten.
Familienhilfe Dafür sind 8 Millionen Euro vorgesehen. 3 Millionen Euro gehen vornehmlich in psychosoziale Hilfen und aufsuchende Sozialarbeit für „durch die Pandemie belastete Familien mit Kindern unter 3 Jahren“, etwa in Geflüchteten- oder Wohnungslosenunterkünften. Die restlichen 5 Millionen Euro sind für die Sprachförderung im Kitabereich vorgesehen, so sollen die Kitas 52 zusätzliche Fachkraftstellen beantragen können. (akl)
Sarah, Mailin und Lailani werden wohl von der Sommerschule profitieren. Es wird ihnen nutzen, wenn nächstes Jahr der Mittlere Schulabschluss ansteht.
Millionen maßgeschneidert einsetzen
Andererseits ist wohl eher die Frage: Wer sitzt jetzt im Sommer nicht freiwillig hier, wen sieht man nicht? Im vergangenen Schuljahr, als die Schulen nur nach den Sommerferien bis Weihnachten für einige Monate mal kurz im Regelbetrieb liefen, habe sie etwa die Hälfte ihrer MitschülerInnen beim Videounterricht wiedergesehen, sagt Lailani. „Die, die sonst auch meistens nicht in die Schule kommen oder Quatsch machen, die waren auch nicht online“, sagt sie.
Die Sommerschulen sind nicht das Einzige, was die Bildungsverwaltung den pandemiegebeutelten SchülerInnen angedeihen lassen will. Das kommende Schuljahr, das in Berlin am 9. August beginnt, soll mit individuellen Lernstandserhebungen für die SchülerInnen starten. Darauf aufbauend sollen die Schulen selbstständig entscheiden dürfen, wie sie einen Großteil der 44 Millionen Euro möglichst maßgeschneidert einsetzen wollen. Man denke da etwa, schlägt die Bildungsverwaltung vor, an „Lerncoaching“, an mehr Personalbudget für Förderunterricht, an „digitale Tools und vieles mehr“.
20 bis 25 Prozent der SchülerInnen, heißt es auf taz-Anfrage aus der Berliner Bildungsverwaltung, hoffe man so zu erreichen. Die Schulen, an denen mehr als die Hälfte der Kinder und Jugendlichen entweder in der Grundstufe die Mindestziele in den Vergleichsarbeiten „verfehlen“ oder „die weiterführende Schule ohne Schulabschluss verlassen“, sollen „besonders berücksichtigt werden“. Man gehe dabei von etwa 20 Prozent der allgemeinbildenden Schulen aus, Gymnasien übrigens explizit ausgenommen, die sich so Hoffnungen auf ein etwas größeres Stück vom Kuchen machen können.
Lehrerin Gottwald sagt, die Jugendlichen kämen „mit echten Lücken.“ Teilweise wiederhole sie noch die Mathe-Basics aus der 8. Klasse mit den angehenden Zehntklässlern. Denn auch das zweite Halbjahr der 8. Klasse haben die SchülerInnen ja bereits unter Pandemiebedingungen absolviert, und gerade in dem Halbjahr waren die Schulen digital mehr oder weniger völlig unvorbereitet fürs Homeschooling.
„Endlich mal wieder etwas verstanden“
Wie löse ich Gleichungen mit mehreren Variablen, wie berechne ich einen Zylinder, wie ging noch mal der Satz des Pythagoras? Lailani sagt, sie könne jetzt endlich x und y berechnen. Mailin sagt, sie habe in der Sommerschule „endlich mal wieder etwas verstanden“.
Die Sommerschulen seien ein Anfang, sagt Gottwald, die bei einem freien Projektträger angestellt ist und auch außerhalb der Ferien als Nachhilfelehrerin arbeitet. „Aber es ist auch klar, dass wir nicht alles aufholen können.“ Entscheidend werde das kommende Schuljahr, glaubt Gottwald. Sie sagt, man müsse eigentlich viel kleinere Lerngruppen anstreben, um mehr differenzieren zu können, „weil die Schere bei den Leistungsunterschieden in der Pandemie noch mal auseinandergegangen ist.“
Doch dafür hat Berlin schlicht weder Personal noch Raum in den Schulen. Schon jetzt ist die Rekrutierung des ohnehin benötigten Lehrkräftebedarfs zu Beginn eines jeden Schuljahrs alles andere als ein Selbstläufer angesichts des bundesweiten Fachkräftemangels. Zum Schuljahr 2021/22 müssen rund 2.500 Stellen neu besetzt werden.
Lailiani sagt, ihr sei das Wichtigste, dass die Schulen überhaupt wieder aufmachen im Herbst: „Hauptsache, alles ist irgendwann mal wieder ganz normal.“
Den Wunsch nach Normalität, den sieht auch Todd Fletcher. Er verantwortet beim freien Jugendhilfeträger PluralArts ein Ferienprojekt in Neukölln, von dem vor allem geflüchtete Kinder und Jugendliche profitieren sollen. Zwei Wochen lang werden die Kids, die meisten von ihnen zwischen 7 und 14 Jahre alt, in drei Lerngruppen aufgeteilt, zum einen zum Deutsch lernen – und zum anderen, um möglichst kreativ gemeinsam Freizeit verbringen. Die Teenager schreiben einen eigenen Popsong, studieren ein Musical auf Englisch ein. Sie kochen mittags zusammen in der Küche des Nachbarschaftshauses in der Karlsgartenstraße, wo die „Ferienschule“, wie das Programm korrekt heißt, stattfindet.
Run auf die Ferienschule
„Die Nachfrage war so groß, dass wir in diesem Jahr eigentlich keine Werbung dafür machen mussten“, sagt Fletcher. „Wie 2016“ sei das gewesen, als Berlin viele Geflüchtete, vor allem aus Syrien, aufnahm. Die Kids, sagt Fletcher, „wollen einfach raus nach dem Lockdown, sie kommen von alleine“.
65 Anmeldungen habe es gegeben für die Ferienschule, sagt Fletcher. Maximal 45 Kids, aufgeteilt in drei Lerngruppen, konnte er aufnehmen. Dass es nicht mehr sein durften, lag nicht etwa an mangelndem Personal – da könnte er locker noch eine Gruppe mehr betreuen, sagt der Musikpädagoge. Es gebe aber schlicht weniger Budget in diesem Jahr als noch 2020, wo er sechs Gruppen gehabt habe.
Tatsächlich stehen den Ferienschulen laut Bildungsverwaltung mit einem Budget von 700.000 Euro in diesem Jahr 100.000 Euro weniger zur Verfügung als noch 2020. Allerdings werden die Mittel als Doppelhaushalt bewilligt, das heißt es gab für 2020/21 eine Gesamtsumme von 1,5 Millionen Euro. Aus dem „Aufholen“-Bundesprogramm wird es eine halbe Million Euro zusätzlich geben, allerdings erst ab 2022.
„Wir könnten jetzt mehr machen“, sagt Isabel Kuttner. „Wir nehmen in der Pandemie ganz klar einen höheren Bedarf wahr.“ Kuttner koordiniert beim übergeordneten Projektträger Deutsche Kinder- und Jugendstiftung die Verausgabung der Ferienschulenmittel an die einzelnen Träger vor Ort.
Insgesamt sind es 33 Akteure, die berlinweit „in allen Bezirken“, wie Kuttner betont, Angebote machen – für rund 1.500 Kinder und Jugendliche. Insbesondere Kinder in den sogenannten Willkommensklassen will man erreichen, gesonderte Lernklassen, insbesondere für geflüchtete Kinder, wo vor allem erst mal Deutsch gelernt wird. Etwa 6.000 Kinder lernen derzeit in Berlin in solchen Willkommensklassen, sagt Kuttner.
Einer von ihnen ist Khalid Haidari
Tatsächlich könnte man also vermutlich „mehr machen“. Immerhin: Sie habe „positive Signale“, sagt Kuttner, dass die Förderung für die Ferienschulen im kommenden Doppelhaushalt in ähnlicher Höhe aufgenommen würde. Beschlossen werden die Mittel allerdings erst frühestens im Januar, wenn sich die neue Regierungskoalition nach der Abgeordnetenhauswahl im September gefunden hat.
In der Turnhalle des Nachbarschaftshauses in der Karlsgartenstraße sitzen kurz vor der gemeinsamen Mittagspause 25 Jugendliche auf dem Boden und singen den Popsong mit, den sie sich gemeinsam ausgedacht haben. Irgendwie sei das ja wohl eine Art Liebeslied geworden, wie Fletcher am Keyboard scheinbar überrascht bemerkt – und nicht jeder der Teenager kommt denn auch ohne Kicheranfall über die Zeilen: „Ohne dich fühle ich mich leer / wie tief gesunken im Meer.“
Vier oder fünf der Jugendlichen tragen weiße T-Shirts mit dem Schriftzug des Trägers, PluralArts, darauf. Einer von ihnen ist Khalid Haidari. Als die Batterien des Keyboards schwächeln, springt er gleich auf und besorgt neue. Die Jugendlichen in den weißen Shirts sind bereits meist seit einigen Jahren regelmäßig in der Ferienschule. Sie unterstützen die SozialarbeiterInnen, organisieren den Tag, helfen in der Verwaltung oder sind AnsprechpartnerInnen für die neuen Kinder. „Ich habe hier Verantwortung, ich lerne dadurch viel“, sagt Haidari. Er hat gerade die 10. Klasse mit dem Mittleren Schulabschluss abgeschlossen. Nach den Sommerferien will er auf ein Oberstufenzentrum mit Schwerpunkt Wirtschaft wechseln.
Verantwortung übernehmen, die Erfahrung machen, dass einem Menschen etwas zutrauen: Vermutlich sind es Erfahrungen wie diese, die manchmal den Unterschied machen, ob man genug Energie hat, sich im Deutschunterricht dem Dativ zu widmen und am Ende den Mittleren Schulabschluss zu machen.
„Intransparenter Schlüssel“ bei Verteilung der Mittel
In der Otfried-Preußler-Grundschule im Reinickendorfer Stadtteil Heiligensee sitzt der angehende Drittklässler Henry über dem Rechenschieber. 44 + 10 soll er rechnen, – „weiß ich aber gerade nicht“. Lehrer Sebastian Thull hilft, dann weiß Henry es doch.
Auch die Sommerschule für die jüngeren Klassen 1–3 seien sehr nachgefragt, sagt Akteja Stoitscheva, Projektleiterin beim Studienkreis Tegel, der das Personal für die Sommerschule an der Otfried-Preußler-Grundschule stellt. Zwei Gruppen hat die Schule von der bezirklichen Schulaufsicht bewilligt bekommen. „Wir hätten auch Personal für mehr gehabt“, sagt Stoitscheva.
Markus Glage vom Projektträger Intellego, der die Sommerschule in der Bettina-von-Arnim-Schule koordiniert, kritisiert den „intransparenten Schlüssel“, nach dem die Sommerschulen-Mittel verteilt worden seien. „Manche Schulen haben von der Schulaufsicht alle Gruppen genehmigt bekommen, andere gar keine.“ Eine Schule habe sogar mehr Gruppen zugewiesen bekommen, als sie schließlich benötigt habe – „das konnten wir zum Glück noch umverteilen“, sagt Glage.
Akteja Stoitscheva, Projektleiterin beim Studienkreis Tegel
„Wir sehen die Defizite durch die Pandemie, was zu Hause nicht geübt werden konnte“, sagt Stoitscheva vom Studienkreis Tegel. Nicht alle der Kinder, die in den Nachhilfeschulen sitzen, könnten nach der 1. Klasse sicher die Buchstaben des Alphabets erkennen. „Und nach der 2. Klasse sollten aber alle sicher sein im Lesen und Schreiben, denn dann geht es in der 3. Klasse mit Grammatik los.“
„Wir brauchen mal eine Pause“
Die LehrerInnen, die die Kinder für die Sommerschulen angemeldet haben, hätten den Sommerschul-Kräften passgenaues Übungsmaterial für jedes Kind hinterlassen, sagt Stoitscheva. Ein Junge, der etwas ungelenk Schwungübungen für das große C macht, seufzt: „Seien Sie froh, dass Sie mit der Schule fertig sind“, sagt er zu Nachhilfelehrer Thull.
Projektleiterin Stoitscheva sagt, im Sommer 2020, nach dem ersten Lockdown, sei das Interesse an Nachhilfe sogar noch größer gewesen als in diesem Sommer. Der Studienkreis bietet auch abseits der Sommerschulen Nachhilfeunterricht an, die dann allerdings von den Familien privat bezahlt werden muss. „Ich glaube, bei ganz vielen gibt es jetzt das Gefühl: Wir müssen in den Urlaub, wir brauchen mal eine Pause, Normalität.“
Bei den NeuntklässlerInnen an der Bettina-von-Arnim-Schule haben Lailani, Mailin und Sarah noch eine Weile überlegt und dann rausbekommen, wie sie nach der „Portion Pommes“ fragen müssen: Wen oder was kauft die Oma? Ah, es ist der Akkusativ.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW und „Freie Sachsen“
Görlitzer Querfront gemeinsam für Putin
Urteil nach Tötung eines Geflüchteten
Gericht findet mal wieder keine Beweise für Rassismus
Papst äußert sich zu Gaza
Scharfe Worte aus Rom
Waffen für die Ukraine
Bidens Taktik, Scholz’ Chance
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Debatte um SPD-Kanzlerkandidatur
Schwielowsee an der Copacabana