Smartphone-Nutzung von Kindern: Neue Panik? Alter Hut!
Wenn neue Technologien erscheinen, tritt die Angst vor dem Neuem auf. Mitschuld daran hat die Forschung, die hinterherhinkt.
I m 18. Jahrhundert fürchtete man, wer zu viele Romane lese, laufe Gefahr, sich unsittlich zu verhalten. In den 1940ern wurde davor gewarnt, Kinder zu lange Radio hören zu lassen; Essstörungen und Nervosität seien die Folge. Ob Eisenbahn, Comics oder Fernsehen – mit jeder neuen Technologie kommt die Angst davor. Seit gut zwanzig Jahren reiht sich das Internet in die Reihe der Technologiepaniken ein. Vor allem soziale Medien sollen bei Jugendlichen psychische Probleme verursachen.
Na eben, argumentieren die einen: Diese Angst vor Neuem gab es schon immer, also keine Sorge, dass das Smartphone Kinderhirne ruiniert. Das Internet ist eine Gefahr neuen Ausmaßes, die wir noch nicht ausreichend verstehen, sagen die anderen. Beide haben recht, argumentiert Amy Orben von der Universität Cambridge in einem kürzlich veröffentlichten Paper, das allerdings noch keiner Peer Review, also der Kontrolle durch andere Forscherinnen und Forschern, unterzogen wurde.
Immer, wenn eine neue Technologie breit verfügbar wird, kommt Panik auf. Vor allem Frauen und Kinder würden von der exzessiven Nutzung Schaden erleiden, wird befürchtet. Also macht sich die Forschung daran, die Auswirkungen zu untersuchen. Doch Technologien entwickeln sich schnell, die Zeit reicht nicht, um verlässliche Studien zu machen. Anstatt abzuwarten verlangen Politik und Öffentlichkeit mit jeder neuen Technologie nach neuen Antworten – und die Forschung, allen voran die Psychologie, schwenkt um.
Komplexe Forschungsfragen
Orben vergleicht die Arbeit der Forscherinnen und Forscher mit dem Leid des König Sisyphus aus der griechischen Mythologie: Er war dazu verdammt, einen Stein einen Berg hinaufzuschleppen. War er beinahe oben angekommen, rollte der Stein wieder hinunter.
Warum gibt es in der Forschung kaum Fortschritt? Weil die einzelnen Technologien zu breit untersucht werden, argumentiert Orben. Anstatt sich beispielsweise anzusehen, welchen Einfluss Smartphone-Nutzung auf Gewalt bei Kindern hat, wäre es klüger zu untersuchen, welche Funktionen die einzelnen Technologien haben. Mit Radio hören, Comics lesen und durch Instagram scrollen kann man sich zum Beispiel wunderbar ablenken. Das haben die Technologien gemeinsam.
Doch anstatt aufeinander aufzubauen, fängt die Forschung jedes Mal bei null an. Die Erkenntnis hinkt der Wirklichkeit hinterher. Dazu kommt: Je breiter sich eine Technologie durchsetzt, desto komplexer werden die Forschungsfragen. Wer kann heute noch auseinanderdividieren, wo das Smartphone die Entwicklung von Kindern beeinflusst und wo nicht? Und selbst wenn man nun herausfinden würde, dass Smartphones Kinderhirne ruinieren: Verbieten kann man es längst nicht mehr.
Um die nächste Technologiepanik – sie kommt bestimmt! – zu vermeiden, braucht die Wissenschaft bessere Ergebnisse. Das geht nur, wenn sie aus der Vergangenheit lernt. Vielleicht gelingt ja Sisyphus’ Erlösung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
Selbstzerstörung der FDP
Die Luft wird jetzt auch für Lindner dünn
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag