Slow Food an der Amalfiküste: Edle Tropfen
Ein Fischerdorf in Italien wehrt sich gegen den Massentourismus. Und profiliert sich dabei als Heimat einer ganz besonderen Fischsoße.
An der Amalfiküste ist der Süden blau. Die Badestrände sind kleine Buchten, vor denen bunte Boote schaukeln. Pastellfarbene Fischerdörfer ranken sich an Felswänden hoch. Verbunden werden sie von einer kurvigen Straße, auf der Vespa-Roller knattern und Busse den Verkehr lahmlegen. Und am Berg blühen die Zitronen in angelegten Terrassenhainen. Schon seit 1997 gehört die paradiesische Küste, die südlich von Neapel liegt, zum Welterbe der Unesco.
Eigentlich wäre alles perfekt, gäbe es da nicht die Reisebusse und Kreuzfahrtschiffe, die vor allem die bekannten Sehnsuchtsorte Amalfi und Positano mit Menschenmassen fluten. Und dazwischen suchen auch noch all die anderen Touristinnen und Touristen einen Platz, um den Blick auf das glitzernde Meer zu genießen. Es ist wie anderswo. Der Massentourismus hat die Küste fest im Griff. Die gesamte Küste? Nein. Ein kleines Dorf wehrt sich gegen die touristische Totalvermarktung und setzt dabei Sardellen ein oder besser gesagt ihren schmackhaften Saft, mit dem Spaghetti oder andere Speisen gewürzt werden: die Colatura di Alici aus Cetara.
„Wir wollen unsere Identität und unsere Traditionen als Fischerdorf und als Gemeinschaft bewahren“, erklärt Secondo Squizzato, ehemaliger Bürgermeister des Ortes, der nahe Salerno im südlichen Teil der Küste liegt. Seit 20 Jahren mobilisieren er und das lokale Tourismusbüro Pro Loco die einheimischen Fischer, Hersteller und Gastronomen. Sie haben den Verein Amici delle Alici gegründet, dem Squizzato vorsitzt und der von Anfang an von der italienischen Slow-Food-Bewegung unterstützt wurde. Ihr Anliegen war einerseits der Schutz der Einzigartigkeit ihrer Fischsauce und andererseits eine Vermarktung, bei der es nicht nur um das Produkt, sondern auch um den besonderen Ort und die besondere Kultur der Fischerei und der Herstellung geht.
Jetzt haben sie sich durchgesetzt. Seit 2020 darf die Colatura di Alici aus Cetara das DOP-Gütezeichen tragen. Das Siegel heißt auf Deutsch „geschützte Ursprungsbezeichnung“ und wird von der Europäischen Union für Lebensmittel vergeben, deren spezifische Qualität von ihrer Herkunftszone abhängt. Die Colatura di Cetara ist das einzige Produkt der Fischverarbeitung in der EU, das diese Auszeichnung tragen darf, obwohl auch anderswo traditionelle Fischsoßen hergestellt werden.
Anfahrt nach Cetara PKW: A3 Napoli-Salerno, Ausfahrt Vietri sul Mare, weiter Richtung Costiera Amalfitana, Cetara ist der erste Ort auf der Küstenstraße. Flugzeug/Bahn über Salerno: Der Bahnhof von Salerno wird von den Shuttles des Flughafen Neapel angefahren und auch von den italienischen Schnellzügen Frecce. Ab Bahnhof kommt man entweder mit dem Küstenbus weiter (Sita-Bus bis Amalfi, 20-35 Minuten) oder mit der Fähre vom nahegelegenen Hafen (15 Minuten).
Kontakt Produzenten Fabbrica Nettuno, Corso Umberto I, 66, 84010 Cetara/Salerno, Tel. 00 39 89 261147, www.nettunocetara.it
„Darauf haben wir lange gewartet“, sagt Giulio Giordano. Er und sein Bruder Vincenzo sind die dritte Generation in der Familie, die aus frischen Sardellen salzige Soße presst. In ihrem kleinen Laden, der im oberen Teil des Dorfes an der Küstenstraße liegt, verkaufen sie die Flaschen mit ihrem Markennamen Nettuno. In den Räumen nebenan verarbeiten sie den Fisch. Beim Eintreten riecht es streng, doch man gewöhnt sich schnell daran. Die Gebrüder Giordano sind die Einzigen, die noch mitten im Ort produzieren. Die anderen haben sich größere Hallen außerhalb des Dorfzentrums gesucht. „Wir sind die ältesten, aber auch die kleinsten Hersteller“, erklärt Giulio. Und auf beides ist er stolz.
Wie vor hundert Jahren bekommt er auch heute noch morgens die fangfrischen Sardellen von den örtlichen Fischern geliefert. Sie werden sofort und mit einer einzigen Bewegung von Kopf, Rückengräte und Innereien befreit und in Fässern aus Kastanienholz mit Salz geschichtet. Obenauf kommt eine Holzscheibe mit Gewichten. Nach ein paar Wochen beginnt es aus dem Loch im Unterboden zu tropfen. Aber bei den Giordanos müssen die Sardellen, die sich im Nebenraum in den kleinen Fässern stapeln, erstmal drei Jahre reifen. „Wie guter Wein“, zwinkert Giulio. Bei den anderen Produzenten geht es schneller. Aber bei ihren edlen Tropfen machen die Brüder keine Abstriche, bis heute. Es geht um das Aroma, sagen sie. „Der Vater kontrollierte die Fässer jeden Tag“, erinnert sich Vincenzo.
Früher durften sie noch die Felsgrotten im Dorf zur Lagerung nutzten. Aber das wurde dann von der Gesundheitsbehörde verboten. Um ihre traditionellen Holzfässer haben sie aber erfolgreich gekämpft. Und bis heute beginnt und endet der Produktionskreislauf hier bei ihnen im Dorf. Die ausgepressten Sardellenreste werden wieder zu Fischfutter. Kaum ein anderes Lebensmittel ist nachhaltiger.
Dennoch haben die Brüder, die beide im Rentenalter sind, keine Nachfolger. Die Kinder interessieren sich nicht für den Job. Natürlich können die Giordanos ihren guten Firmennamen verkaufen. Aber ihr persönliches Know-how, ihr ganzes Wissen um die Feinheiten der Colatura geht verloren. Dabei ist der salzige Saft, den bis vor 30 Jahren kaum jemand außerhalb der Amalfiküste kannte, auf dem Weg, die Welt zu erobern.
Leuchten, um Fischschwärme anzulocken
Aber das geht natürlich nur so lange, wie die Fische vor Cetara schwimmen. Denn in die echte Colatura kommen natürlich nur die heimischen Sardellen. Bis jetzt hat Domenico Giordano, Fischer und nicht verwandt mit den Nettuno-Brüdern, noch keine Probleme. „Durch die Meeresverschmutzung werden die Fische weniger, aber Sardellen für die Colatura holen wir noch genug“, sagt er. Cetara war früher auch der größte Thunfischlieferant Europas, aber darauf sind heute nur noch ein paar Fischer spezialisiert.
Domenico steht in Gummi-Cloggs auf seinem Boot im Hafen von Cetara, der noch ein echter Fischerhafen ist, und legt die Netze zurecht. Heute abend zwischen sieben und acht fährt er hinaus und morgens gegen halb vier kommt er zurück. Der 61-Jährige war schon als Kind auf dem Boot, mit Vater und Großvater. Heute hat er eine siebenköpfige Besatzung. Die Sardellen werden mit einem Netz gefangen, das erst ausgebreitet und dann wie ein schlauchförmiger Sack geschlossen wird und auf Italienisch cianciolo heißt. Es kann 2000 Kilo fassen, die sind aber nur selten drin. Benutzt werden auch zwei starke Leuchten, lampare genannt, um die Fischschwärme anzulocken.
Die neuen DOP-Regeln ändern für Domenico wenig. „Wir machen unsere Arbeit, wie wir es immer getan haben“, erklärt er. Die alici müssen allerdings eine bestimmte Größe erreichen und dürfen nur in den Monaten Mai und Juni und nicht allzuweit entfernt von der Küste gefischt werden. Domenico hat feste Abnehmer. Die Geschäfte machen ihm weniger Sorgen als der Zustand des Meeres. „Noch schlimmer als das Plastik sind die Abwässer“, sagt er. Und dass ihre Ursache der Massentourismus sei, der die Amalfiküste inzwischen in fast allen Jahreszeiten überrollt.
Auch Cetara bleibt davon nicht verschont, aber alles in allem geht es doch ruhiger zu als im Souvenir-Suk von Positano. Immerhin gibt es am Hafen noch die alte Bar der Fischer, wo man auf das Meer und die Boote schauen kann. Und es gibt noch alteingesessene Restaurants mit traditioneller Fischküche, bei denen die Spaghetti alla colatura di alici auf der Karte stehen.
Früher war die Würzsauce eigentlich für den Hausgebrauch gedacht. Jede Familie hatte ihr eigenes Fässchen. Die Colatura war rechtzeitig zu Weihnachten fertig und bekam dann den richtigen bernsteinfarbenen Schimmer, um am Heiligabend mit den Spaghetti auf den Tisch zu kommen. Ihr Vorläufer war das Garum, die Fischsauce des antiken Roms, bei der allerdings auch der Kopf und die Innereien verarbeitet wurden. Bis heute machen viele Familien in Cetara ihre Colatura selbst.
Auch das Restaurant San Pietro, wo die Fischsauce zum ersten Mal Gästen serviert wurde, verzichtet bis heute nicht auf die eigene Herstellung. Für Kellner Enrico De Crescenzo, der auf der buntgekachelten Terrasse des Lokals seit 30 Jahren serviert, ist das Ehrensache. Und er stellt klar: „Die echte Colatura kommt nur von hier.“ Wie alle im Dorf warnt er vor Imitationen. Für Secondo Squizzato und seine Mitstreiter um das DOC-Gütesiegel ist das ein großer Erfolg. Denn wenn es um die Fischsauce geht, sind in Cetara alle einer Meinung. Und das kommt hier genauso selten vor wie anderswo.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
Juso-Chef über Bundestagswahlkampf
„Das ist unsere Bedingung“
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Eine ganz normale Woche in Deutschland