Silvester: „Angst darf nicht belächelt werden“
Psychiater Basel Allozy erklärt, weshalb Feuerwerkskörper für viele Kriegsflüchtlinge eine Belastung darstellen können.
taz: Herr Allozy, viele Flüchtlinge kommen aus Kriegsgebieten. Sind laute Feuerwerke an Silvester für sie eine besondere Belastung?
Basel Allozy: In der Tat beobachten wir, dass Flüchtlinge, die einen Krieg erlebt haben, oft sehr empfindlich auf explosionsartige Geräusche reagieren. Viele sind einfach nur überdurchschnittlich schreckhaft. Es gibt aber auch Menschen, bei denen das Geräusch von explodierenden Feuerwerkskörpern richtige Flashbacks auslöst.
Was ist ein Flashback?
Ein Flashback ist eine mögliche Folge einer posttraumatischen Belastungsstörung. Der betroffene Mensch hat das Gefühl, eine belastende Situation aus der Vergangenheit noch einmal real zu erleben. So kann etwa die Explosion eines Feuerwerkskörpers die Erinnerung an eine Bombenexplosion wachrufen. Ein Flashback kann aber auch durch andere Dinge ausgelöst werden.
Durch welche zum Beispiel?
Das hängt stark davon ab, was ein Mensch erlebt hat. Bei einigen Flüchtlingen reicht ein lauter Türknall, um die Erinnerung an den Krieg hochkommen zu lassen. Andere können kein Blut sehen oder den Tod eines Mitmenschen nicht verkraften, weil sie im Krieg viele Menschen haben sterben sehen. Ich habe kürzlich in einer Flüchtlingsunterkunft einen Jungen kennengelernt, dessen Schwester direkt neben ihm getötet wurde, und der nun sehr gereizt auf die Farbe Rot reagiert, weil sie ihn an ihr Blut erinnert. Das wirkt sich auf viele Lebensbereiche aus: Beim Malen benutzt er beispielsweise keine roten Stifte, außerdem vermeidet er rote Getränke und Lebensmittel.
Woran erkennen Außenstehende ein Flashback?
Auch das ist unterschiedlich. Viele Menschen beginnen zu schreien oder zu weinen, zu zittern oder bekommen Schweißausbrüche. Manche reagieren gereizt und aggressiv, andere ängstlich und verschüchtert.
Was können Mitarbeiter und Helfer in Flüchtlingsunterkünften tun, um Flashbacks an Silvester zu vermeiden?
Zunächst einmal ist es wichtig, die Menschen vorzubereiten, ihnen zu erklären, dass es Feuerwerke und deshalb Explosionsgeräusche geben wird. Außerdem ist es sinnvoll, in der Silvesternacht Gemeinschaftsveranstaltungen anzubieten, damit niemand alleine sein muss. Zusammensein vermittelt ein Gefühl von Sicherheit.
Wie reagieren man am besten, wenn ein Bewohner trotzdem in Panik gerät?
Das Wichtigste ist, mit dem Menschen zu sprechen und dabei Ruhe und Sicherheit auszustrahlen. Auf seine Angst sollte man mit Verständnis reagieren und sie nicht belächeln oder herunterspielen. Sätze wie „Jetzt stell dich mal nicht so an“, helfen in solchen Momenten nicht weiter. Laien rate ich außerdem davon ab, nachzufragen, woran sich der Bewohner durch den Knall erinnert fühlt. Das könnte ein ernsthaftes Flashback auslösen. Handelt es sich um eine starke Panikattacke und der Bewohner lässt sich nicht beruhigen, sollte ein Notarzt gerufen werden.
Links lesen, Rechts bekämpfen
Gerade jetzt, wo der Rechtsextremismus weiter erstarkt, braucht es Zusammenhalt und Solidarität. Auch und vor allem mit den Menschen, die sich vor Ort für eine starke Zivilgesellschaft einsetzen. Die taz kooperiert deshalb mit Polylux. Das Netzwerk engagiert sich seit 2018 gegen den Rechtsruck in Ostdeutschland und unterstützt Projekte, die sich für Demokratie und Toleranz einsetzen. Eine offene Gesellschaft braucht guten, frei zugänglichen Journalismus – und zivilgesellschaftliches Engagement. Finden Sie auch? Dann machen Sie mit und unterstützen Sie unsere Aktion. Noch bis zum 31. Oktober gehen 50 Prozent aller Einnahmen aus den Anmeldungen bei taz zahl ich an das Netzwerk gegen Rechts. In Zeiten wie diesen brauchen alle, die für eine offene Gesellschaft eintreten, unsere Unterstützung. Sind Sie dabei? Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Krise bei VW
Massiver Gewinneinbruch bei Volkswagen
VW-Vorstand droht mit Werksschließungen
Musterknabe der Unsozialen Marktwirtschaft
Verfassungsgericht entscheidet
Kein persönlicher Anspruch auf höheres Bafög
Kamala Harris’ „Abschlussplädoyer“
Ihr bestes Argument
Zu viel Methan in der Atmosphäre
Rätsel um gefährliches Klimagas gelöst
Nahostkonflikt in der Literatur
Literarischer Israel-Boykott