Sicherheitsverwahrung: Das Ticken der Bombe
Der aus der Sicherungsverwahrung entlassene Hans-Peter W. hält sich derzeit in Hamburg auf. Die Polizei beobachtet ihn, die Politik streitet über das richtige Vorgehen.
"Tickende Zeitbombe", das Wort fällt gerne, wenn von Hans-Peter W. die Rede ist. Derzeit hält sich der Mann, der, wie es die dpa formulierte, "fast 30 Jahre hinter Gittern saß", in Hamburg auf, und die Politik steht Kopf. "Ohne weitere Straftaten gibt es derzeit keine Möglichkeit, ihn wieder in Sicherungsverwahrung zu nehmen", sagt die Sprecherin der Justizbehörde, Pia Kohorst. Die "Führungsaufsichtsstelle" beim Landgericht habe eine "Fallkonferenz" einberufen. "Wir sind jetzt in der Prüfung, für wie gefährlich wir den halten", so Kohorst. Bis in zwei Wochen sollen die Ergebnisse vorliegen.
Hans-Peter W., 53, verurteilt wegen mehrfacher Vergewaltigung und Körperverletzung, war Mitte Juli aus der Justizvollzugsanstalt Freiburg entlassen worden, wo er zuletzt in Sicherungsverwahrung saß. Das Oberverwaltungsgericht Karlsruhe hatte einer Klage seines Anwalts stattgegeben, der sich auf ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte berief. Danach ist es nicht zulässig, die Sicherungsverwahrung, wie bei Hans-Peter W. geschehen, im Nachhinein zu verlängern.
Hans-Peter W. war 1981 verurteilt worden - zu acht Jahren Haft mit anschließender Sicherungsverwahrung. Nach damaliger Rechtslage war diese Maßnahme jedoch auf zehn Jahre beschränkt. Erst 1998 änderte der Bundestag das entsprechende Gesetz - zu spät für Hans-Peter W. Die Sicherungsverwahrung, so die Straßburger Richter, sei als Strafe zu werten, darum müssten die Gesetze zur Zeit der Verurteilung gelten.
Direkt nach seiner Entlassung setzte sich "der gefährliche Sexverbrecher" (Bild) in den schönen Kurort Bad Pyrmont ab, wo seine Anwesenheit zu öffentlicher Erregung führte. "Mitten in Bad Pyrmont tickt eine unberechenbare Hormon-Zeitbombe: Zwanzig Kripoleute sind für den Sex-Verbrecher Hans-Peter W. abgestellt!", titelten die Weserbergland-Nachrichten, und der niedersächsische Innenminister Busemann (CDU) tönte, trotz des Urteils aus Straßburg müsse niemand freigelassen werden, der als "weiterhin gefährlich eingestuft" werde.
Tatsächlich ist sich die deutsche Rechtsprechung derzeit uneins. Während die Oberlandesgerichte in Karlsruhe, Schleswig und Frankfurt dem Straßburger Urteil gefolgt sind und die Freilassung von Straftätern aus der Sicherungsverwahrung angeordnet haben, berufen sich die Oberlandesgerichte in Celle, Koblenz, Nürnberg und Köln auf ein anders lautendes Votum des Bundesverfassungsgerichts. Demnach sei die Sicherungsverwahrung keine Strafe, sondern eine vorbeugende Schutzmaßnahme. Nachträgliche Änderungen der Rechtsgrundlage dürften somit angewandt werden.
Wer am Ende Recht behält, entscheidet das Bundesverfassungsgericht im Herbst. Die Frage sei, wie ein Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zu bewerten ist, sagt Dirk Lewandrowski, stellvertretender Pressesprecher im niedersächsischen Justizministerium. In Deutschland hätten die Urteile Gültigkeit, weil die Bundesrepublik die Europäische Menschenrechts-Konvention unterzeichnet habe. Die Urteile seien damit Bundesrecht, das Verfassungsrecht stehe aber noch darüber.
Bis dahin wird sich immer wieder die Frage stellen, wie mit ehemaligen Straftäter umzugehen ist, die aus der Sicherungsverwahrung entlassen werden. Bereits vergangene Woche berichteten die Lübecker Nachrichten von zwei als "gefährlich" eingestuften Sexualstraftätern, die aus dem Lübecker Gefängnis entlassen worden waren - auf Geheiß des Oberlandesgerichts in Schleswig. Beide stehen, wie Hans-Peter W., unter "Führungsaufsicht" und werden angeblich "rund um die Uhr" von der Polizei überwacht.
"Rund um die Uhr" lautete auch die Dienstanweisung bei Hans-Peter W., der nach wenigen Tagen in Bad Pyrmont aufgegeben hatte. Den "immensen Druck von Öffentlichkeit und Medien" halte der Mann einfach nicht aus, sagte der Landrat von Hameln-Pyrmont, Rüdiger Butte. Außerdem sei die Betreuungseinrichtung "ungeeignet" gewesen.
Die wenigen Tage in dem Kurort genügten jedoch bereits für eine groß angelegte Sicherheitsdiskussion. Die Bild-Zeitung zitierte Gutachten, in denen W. als "gefährlicher Wiederholungstäter" eingestuft werde, in den Akten sei von "massivem, auffälligem Aggressionspotential" die Rede. Der Plan, W. in eine geschlossene Anstalt einweisen zu lassen, schlug allerdings fehl. Ein Amtsarzt bescheinigte W., dass die Voraussetzungen für eine Zwangseinweisung nicht vorliegen würden. "Grundsätzlich" sei eine Gefahr "nicht auszuschließen", gegenwärtig jedoch sei "keine Gefährdung gegeben", so der Arzt.
In Hamburg wohnt Hans-Peter W. in einem Männerwohnheim "irgendwo in einem Industriegebiet", wie die Bild-Zeitung herausgefunden hat. Bilder der Unterkunft waren in der gestrigen Ausgabe abgedruckt, die Adresse dürfe man nicht nennen, bedauerte das Springer-Blatt. In drei Schichten werde W. von jeweils acht Polizisten überwacht, die insgesamt 24 Mann würden pro Tag 20.000 Euro kosten.
Der Hamburger Polizeigewerkschafts-Chef Uwe Kossel kritisierte, für die Überwachung würden "Beamte eingesetzt, die an anderen Stellen wieder fehlen". Die Hamburger SPD schlug die Anwendung einer "elektronischen Fußfessel" mit Peilsender vor, und aus der regierenden CDU kam der Vorschlag, aus der Sicherungsverwahrung entlassene Straftäter sollten sich nur in dem Bundesland aufhalten dürfen, in dem sie entlassen worden seien. Anderenfalls müsse über einen "finanziellen Ausgleich" nachgedacht werden.
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