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Shlomo Bistritzky über orthodoxes Judentum"Mir kommt der Glaube an Gott plausibel vor"

Rabbi Shlomo Bistritzky, der in Hamburg die konservativen Lubawitscher Juden vertritt, plädiert dafür, die Gesetze der Tora genau zu befolgen. Alles andere sei eine Gefahr für das Judentum.

Passt als orthodoxer Jude sein Leben an die Gesetze der Thora an: Shlomo Bistritzky. Bild: dpa
Interview von Petra Schellen

taz: Herr Bistritzky, befolgen Sie alle 613 jüdischen Gesetze?

Shlomo Bistritzky: Nein. Der größte Teil ist ja gar nicht aktuell.

Wie praktisch.

Jedenfalls hätten wir sonst keine Zeit, uns hier zu unterhalten. 613 Regeln - das klingt erst mal viel. Aber die meisten davon galten vor 2.000 Jahren, als der Jerusalemer Tempel noch stand. Dann gibt es Regeln, die nur in Israel gelten - sowie Regeln nur für Frauen oder Männer. Manche gelten nur an Feiertagen. Da bleiben für einen normalen Tag keine 613 Gesetze. Auch nicht 100.

Wer hat diese Gesetze verfasst?

Sie stehen in der Tora - dem, was die Christen Altes Testament nennen. Für Juden ist die Tora ein Weisheits- und Lehrbuch. Einige Weise haben daraus eine Liste an Ge- und Verboten erstellt.

Wie haben sie das getan?

Sie haben die Texte studiert und gesagt, Moses hat das und das verkündet, also haben wir hier ein Gebot. Später hat man dazu Erklärungen verfasst und sie im Talmud zusammengetragen.

Gibt es moderne Auslegungen?

Die Tora wurde vor ein paar hundert Jahren geschrieben. Und wie jedes Gesetz muss es aktualisiert werden. Dabei muss man aber unterscheiden zwischen der Tora und weltlichen Gesetzen. Letztere leiten sich ab aus Alltagserfahrungen: Wenn auf einer Straße viele Unfälle passieren, führt man Tempo 30 ein. Die Tora dagegen enthält Gottes Gesetze. Sie ändern sich nie.

Aber die Welt.

Natürlich. Dann müssen wir überlegen: Wie ist die aktuelle Situation mit der Tora vereinbar?

Sind sich da alle Juden einig?

Nein. Der Reformjude sagt: Diese Gesetze passen nicht mehr in unsere Zeit. Wir passen die Tora unserem Leben an. Orthodoxe Juden sagen: Wir passen unser Leben an die Tora an.

Haben Sie ein Beispiel?

Vor zehn Jahren war ein Israeli an Bord der Raumfähre Columbia. Da er der erste Jude war, der ins All flog, ging er zum Rabbi der NASA und fragte, was kann ich im All für das Judentum tun? Konkret ging es um das Kiddusch, bei dem man den Shabbat mit einem Glas Wein einleitet. Der Astronaut wollte das jeden Samstag praktizieren. Aber wann genau ist im All Samstag? Dort dauert ein Tag ja nur drei Minuten. Und wenn der Astronaut alle 21 Minuten ein Glas Wein trinkt, kann er gleich unten bleiben …

Was hat der Rabbi gesagt?

Er wusste keine Antwort und hat die Frage weitergeleitet an den Großrabbi in Jerusalem. Der entschied, dass der Astronaut Kiddusch feiern sollte, wenn am NASA-Stützpunkt Samstag wäre. Das hat man abgeleitet aus einem Talmud-Text, wo jemand ohne Kalender in der Wüste war und fragte, wann er Shabbat halten sollte. Das ist ein Beispiel dafür, wie man die passende Geschichte zu einer neuen Situation findet.

Shlomo Bistritzky

36, wurde in Israel geboren und hat in New York, Manchester und Berlin jüdisches Gesetz studiert. Seit 2003 leitet er das Chabad-Zentrum in Hamburg und ist seit 2012 Landesrabbiner der jüdischen Gemeinde.

Chabad Lubawitsch ist eine 1813 im russischen Ort Lubawitsch gegründete chassidische Bewegung des orthodoxen Judentums, deren Zentrale inzwischen in New York residiert.

Kann man die alten Regeln also doch abwandeln?

Nicht abwandeln. Aber eine der Tora gemäße Antwort finden. Denn es ist zwar leichter, meinen Lebensweg zu gehen und dann zu fragen: Wie kann ich die Tora daran anpassen? Aber das ist eine Gefahr für das Judentum.

Inwiefern?

Es geht Sicherheit verloren: Wenn ich etwas ändere, damit es mir leichter fällt, werden meine Kinder und Enkel weiteres ändern. Irgendwann ist die Verbindung zwischen dem Juden und der Tora gekappt.

Warum ist es Ihnen so wichtig, die Gesetze exakt zu befolgen?

Ich bin sicher auf meinem Weg. Und obwohl es manchmal schwierig ist, weiß ich: Das ist der Weg. Denn wenn ein Mensch gläubig ist, muss er erst mal verstehen, dass man beim Glauben nicht alles versteht.

Man könnte ja sagen: Diese Regel wirkt plausibel, jene nicht.

Mir kommt auch der Glaube an Gott plausibel vor. Meine Frau und ich haben vor kurzem ein Baby bekommen. Es ist gesund und "funktioniert". Das kann nur von Gott kommen. Andererseits schließt der Glaube nicht aus, dass ich Fragen habe. Zum Beispiel: "Wie konntest du die Shoah zulassen?" Diese Frage stört aber nicht meinen Glauben. Wenn ich Gottes Existenz leugnete, würde ich ihn ja nicht ansprechen.

Gibt es für die Shoah eine Antwort?

Ich kenne sie nicht, aber ich glaube, dass Gott uns wohl will. Dazu fällt mir die Geschichte von dem Mann ein, der erstmals aus dem Dorf in die Großstadt kommt. Dort sieht er, dass der Arzt im Krankenhaus einen Patienten aufschneidet. Der Dörfler schreit: "Was machst du, du bringst ihn um!" Er weiß nicht, dass man schneiden muss, um den Kranken zu heilen.

Und die Shoah?

Gott hat ein Messer genommen, sechs Millionen Juden umgebracht, und wir verstehen das nicht. Aber egal, wie stark die Frage sein wird: Der Glaube bleibt fest.

Sie sind als Gesandter von Chabad Lubawitsch nach Hamburg gekommen. Manche sagen, Sie missionierten, und das sei den Juden verboten.

Was heißt missionieren?

Anderen Leuten einen Glauben aufnötigen.

Wer ist "andere Leute"? Nehmen wir die Christen: Sie gehen auf die Straße, treffen jemanden und sagen: Ich bin Christ, ich will über den Glauben sprechen. Der andere sagt: Ich bin nicht gläubig. Sie drohen, ihn zu zwingen. Sie versuchen etwas, das mit dem Menschen nichts zu tun hat.

Sie tun das nicht?

Nein. Jude ist, wer eine jüdische Mutter hat oder laut jüdischem Gesetz konvertiert ist. Ich versuche ihm das, was sowieso zu ihm gehört, beizubringen. Ich kann sagen: "Du bist jüdisch. Du weißt es nicht - aber wir haben Shabbat. Wenn du willst, kann ich dir das erklären." Das ist weit vom Missionieren entfernt.

Warum sind Sie ausgerechnet nach Hamburg gekommen?

Ich war in New York im Zentrum von Chabad Lubawitsch tätig und wollte ein Chabad-Zentrum gründen. Der Bürochef sagte, dein Großvater ist in Hamburg geboren, also gehst du dorthin. Das war für mich in Ordnung.

Ihr Großvater ist vor den Nazis geflohen.

Ja.

Fällt es Ihnen schwer, hier zu sein?

Manchmal, wenn ich an die Shoah denke und mir vorstelle, dass sie von hier ausging, ist das ein schweres Gefühl.

Auch Trauer?

Nicht direkt. Aber manchmal denke ich, die Menschen da draußen könnten auch so sein: einerseits freundliche Nachbarn und andererseits fähig zur Shoah. Dabei glaube ich gar nicht, dass es morgen wieder passieren könnte oder dass die junge Generation schuldig ist.

Wann kommen solche Gedanken?

Wenn ich Stolpersteine sehe oder ein Shoah-Überlebender zu Besuch kommt. Aber im Alltag ist Hamburg für mich eine ganz normale Stadt.

Sie haben keine Bedenken, Rabbiner-Kleidung tragen?

Die hatte ich nie. Vor ein paar Monaten bin ich allerdings auf der Straße attackiert worden. Ich ging mit einem Freund durchs Viertel, und man warf einen Schneeball nach uns. Einmal, zweimal, dreimal. Der vierte traf meinen Kopf, und meine Brille zerbrach. Wir wissen nicht, wer es war. Die Polizei hat nachgesehen, und ihn jedoch nicht gefunden.

Verzichten Sie seither auf den Hut?

Nein. Ich habe ihn ohnehin nicht immer auf. Aber ich gehe wie früher über die Straße und habe keine Angst. Ich wollte daraus keine große Geschichte machen. Das kann ja irgendein Jugendlicher gewesen sein. Das muss nicht unbedingt System haben.

Sprechen wir über Gleichberechtigung. Warum darf Ihre Frau in der Synagoge nicht bei den Männern sitzen?

Eine Gegenfrage: Bei der Geburt unseres jüngsten Kindes hat meine Frau sehr gelitten. Ich konnte nur zusehen. Ist das Gleichberechtigung?

Der Begriff passt hier nicht.

Jedenfalls funktioniert mein Körper anders als der einer Frau. Wir sind zwei verschiedene Geschöpfe. Natürlich muss es für Männer und Frauen gerecht zugehen. Aber bei der Frage von Gleichberechtigung in der Synagoge: Fragen Sie meine Frau, ob sie nicht ein Problem hat, wenn sie oben sitzt. Ich kann Ihnen nur sagen: Es gibt keine Gleichberechtigung im Judentum: Frauen sind von vielen Geboten befreit. Ich will auch befreit sein.

Wovon zum Beispiel?

Vom Beten. Ich muss den Riemen anlegen, Frauen nicht. Das ist eine Ungleichberechtigung zugunsten der Frauen. Ist das eine Kompensation für das Leiden beim Gebären?

Sie haben sieben Kinder. Was tun Sie, falls die irgendwann konvertieren wollen?

Ich hoffe, dass ich rechtzeitig bemerke, wenn sich der Weg meiner Kinder ändert. Damit ich ihnen helfen kann, weiter zu wachsen in der Art, wie wir glauben.

Und wenn sich Ihr Sohn mit 18 vom orthodoxen Judentum lossagt?

Wenn er 18 ist und gehen will, kann ich ihn nicht hindern.

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