Sexuelle Übergriffe unter Kindern: Nicht länger wegreden
Manche Kinder verhalten sich schon in der Kita sexuell übergriffig. Allerdings fehlt in vielen Einrichtungen ein Schutzkonzept.
Überfüllte Elternabende, gegenseitige Beschuldigungen und ganze Gruppen von Kindern, die gleichzeitig aus Kitas abgemeldet werden: Verfolgt man die Lokalpresse, stieß man in den vergangenen zwei Jahren in vielen deutschen Städten auf Artikel über sexuelle Übergriffe, bei denen Kindergärten die Tatorte, Kinder selbst die Täter gewesen sein sollen.
Bekannt wurde etwa der Fall einer nordrhein-westfälischen Kita, in der eine Vierjährige gleich mehrere andere Kinder sexuell bedrängt haben soll. Oder der einer nordhessischen Einrichtung, in der nach Übergriffen zwischen Jungs eine Reihe von Eltern ihre Kinder abmeldeten.
„Mein Eindruck ist nicht, dass die Fälle mehr geworden sind“, stellt die Berliner Diplompädagogin Ulli Freund klar. „Mein Eindruck ist eher, dass die ErzieherInnen endlich aufgewacht sind und dass Kinder heute eine Sprache finden, um zu schildern, was ihnen passiert. Früher waren sexuelle Übergriffe unter Kindern etwas, durch das man halt ‚durchmusste‘ während der Kindheit. Jetzt ist eine neue Sensibilität entstanden, die ich sehr begrüße.“
Freund hat sich vor mehr als fünfzehn Jahren als eine der Ersten in Deutschland mit dem Thema befasst und gemeinsam mit ihrer Kollegin Dagmar Riedel-Breidenstein das Fachbuch „Sexuelle Übergriffe unter Kindern“ geschrieben. Seitdem gestaltet sie laufend Seminare zum Thema für ErzieherInnen – und beobachtet den Balanceakt zwischen „Ausblenden und Wegreden“ in manchen Kitas und einer Dramatisierung durch die Eltern, die auch nicht angemessen ist. „Es kommt inzwischen vor, dass Eltern Dreijährige bei der Polizei anzeigen“, berichtet Freund. „Dahinter steht Hilflosigkeit. Sexuelle Übergriffe unter Kindern sind eine rein pädagogische Herausforderung, das hat mit strafrechtlichen Fragen nichts zu tun.“
Die deutschen Kindertageseinrichtungen reagieren inzwischen auf diese Herausforderung – allerdings nur langsam. Das zeigt jetzt ein Datenreport des Unabhängigen Beauftragten der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs. Das Amt hat seit 2011 der Jurist Johannes-Wilhelm Rörig inne. Seine Mitarbeiter befragten zwischen Ende 2016 und Mitte 2017 etwa 1100 Kindertageseinrichtungen in ganz Deutschland danach, inwiefern sie sich mit der Prävention sexueller Gewalt – unter Kindern und auch etwa durch Kita-Personal – auseinandersetzten. Johannes-Wilhelm Rörig sieht nach der Erhebung positive Signale: Nahezu jede Kita setze einzelne Maßnahmen um, zum Beispiel Fortbildungen oder Handlungspläne für Verdachtsfälle.
Wenige Einrichtungen führen eine Risikoanalyse durch
Trotz des neuen Problembewusstseins hapert es aber noch an anderen Stellen: Nicht einmal 20 Prozent der Einrichtungen hatten überhaupt schon eine Risikoanalyse durchgeführt, also Räumlichkeiten im Hinblick auf Gefahren begutachtet oder sich angeschaut, ob die Abhängigkeitsverhältnisse der Kinder untereinander problematisch sein könnten. Und ein umfassendes Präventionskonzept zum Schutz vor sexueller Gewalt hatte bislang nur etwa ein Fünftel der Einrichtungen erarbeitet.
„Die Hälfte aller Kitas wünscht sich dringend mehr Unterstützung für die Entwicklung und Einführung von Schutzkonzepten“, bilanziert Rörig. „Hier sehe ich vor allem die Träger in der Pflicht.“ Noch reagieren viele Kitas erst, wenn es einen Fall gegeben hat – eine Situation, die nicht nur sexuelle Übergriffe begünstigt, sondern auch Konflikte zwischen Eltern und KitamitarbeiterInnen schnell eskalieren lässt.
Ulli Freunds Erfahrung nach beginnen solche Konflikte oft damit, dass die ErzieherInnen selbst die Lage leichtfertig als unproblematisch beurteilen: „Sie entscheiden: Das sind Doktorspiele, das dürfen die Kinder; wir unternehmen nichts.“ Wo die Linie zwischen „harmlosem Doktorspiel“ und echtem Übergriff verläuft, ist für Freund klar. „Um einen Übergriff handelt es sich dort, wo ein Machtgefälle ausgenutzt wird und wo ein Kind zu Handlungen gezwungen wird“, erklärt sie. „Fünfjährige zwingen Dreijährige. Eine Gruppe zwingt ein einzelnes Kind. Das betroffene Kind ist ein Außenseiterkind, das eigentlich nur endlich mitspielen will. Machtgefälle und Unfreiwilligkeit sind die beiden entscheidenden Kennzeichen von sexuellen Übergriffen unter Kindern.“
Freund nennt ein konkretes Beispiel: „Ein Junge ärgert sich über etwas, drückt dann ein anderes Kind an die Wand und macht Kopulationsbewegungen. Hier ist die Sexualität nur ein Mittel zum Machtgefühl.“ Zwar gehöre sexuelle Aktivität zur Entwicklung, sei Ausdruck von Versuchen, sich selbst und andere Kinder zu entdecken.
Das Wissen ist vielfach nicht vorhanden
„Kinder verwenden aber keine Elemente des Erwachsenensex“, sagt Freund. „Solche Unterschiede zwischen einem Verhalten, das zur normalen sexuellen Entwicklung gehört, und Übergriffen müssen ErzieherInnen lernen; und sie müssen auch wissen, was zu tun ist, welche Interventionen sinnvoll und notwendig sind.“
Noch ist das Wissen aber vielfach nicht vorhanden. „Wenn ich eine Fortbildung gestalte, kennt maximal eine von zwanzig TeilnehmerInnen die geschilderten Unterschiede, meist ist es dann eine jüngere Erzieherin“, erklärt Freund. Gerade, wenn die MitarbeiterInnen wenig weitergebildet und sich ihrer Sache nicht sicher seien und dennoch nichts unternähmen, eskaliere die Situation in betroffenen Kitas: „Dann gehen die Eltern auf die Barrikaden: zum Jugendamt, an die Presse, zum Rechtsanwalt.“ Derartig aus dem Ruder gelaufen sind solche Konflikte in den vergangenen zwei Jahren häufig.
Dieser Entwicklung den Weg bereitet hat ein Fall, der sich im Jahr 2015 in Mainz ereignete. Damals wurde eine katholische Kita geschlossen, nachdem der Verdacht aufgekommen war, dass es dort über Monate zu sexuellen Übergriffen unter Kindern gekommen sein sollte. Der Verdacht ließ sich später nicht erhärten, offenbar steckten Missverständnisse und Hysterie dahinter.
„Nach meinem Eindruck werden die Vorfälle in letzter Zeit zunehmend dramatisiert“, sagt der Sozialpädagoge Jürgen Meyer-Deters, der mit seinem Bochumer Institut Kogemus Beratungsangebote bei sexualisierter Gewalt für die Jugendhilfe gestaltet. Für Meyer-Deters ist klar, dass in Kitas nur die ErzieherInnen die Möglichkeit haben, Situationen angemessen zu beurteilen.
„Die Eltern sollten informiert werden“
„Die ErzieherInnen machen ja eigentlich während ihrer täglichen Arbeit sukzessive ein Soziogramm“, sagt der Bochumer Sozialpädagoge. „Sie wissen, wer unendlich bedürftig ist, nach Zuneigung und Zuwendung sucht – und dadurch potentiell gefährdet ist. Und sie können erkennen, welches Kind dazu neigt, andere Kinder massiv zu dominieren und zu übervorteilen.“
Ulli Freund mahnt an, sich gezielt auf das Kind zu konzentrieren, das betroffen ist, statt nur dem Kind, das übergriffig war, Aufmerksamkeit zu widmen – wie es noch immer geschieht. „Das vom Übergriff betroffene Kind braucht schnell Trost. Es darf nicht erfahren, dass alle sich um das andere Kind kümmern, denn dann entstehen Ohnmachtsgefühle. Häufig fragen sich alle Erwachsenen aber in erster Linie, was mit dem Kind, das übergriffig geworden ist, eigentlich los ist.“
Nicht zwangsläufig sei das übergriffige Kind selbst sexuell missbraucht worden. So spiele es etwa auch eine Rolle, dass manche Kinder in ihren Familien pornografische Bilder und Filme sehen, sodass in der Folge Elemente daraus imitiert würden. Für Freund ist vor allem wichtig: „Die Eltern sollten in jedem Fall informiert werden. Man kann alles noch im Nachhinein richten, solange man den Vorfall ernst nimmt und für Transparenz sorgt. Wenn man aber versucht, den Ball flachzuhalten, dann kann man richtiggehend dabei zusehen, wie die Situation eskaliert.“
Die Psychologin Monika Bormann von der Bochumer Caritas-Beratungsstelle „Neue Wege“ hat aber auch schon sehr engagiertes und klares Vorgehen erlebt: Zunächst gab es Gespräche mit dem betroffenen Kind und beiden Elternpaaren, die anschließend auch die Beratungsstelle „Neue Wege“ besuchten. Es folgten ein Elternabend über sexuellen Missbrauch und ein Präventionsprogramm für alle Kinder. „Dieser Kindergarten hat die Bedürfnisse und Ängste aller Beteiligten sehr ernst genommen“, ist Bormanns Fazit. „So kann man auch erreichen, dass die Eltern hinterher nicht verfeindet sind.“
Und gerade Letzteres ist wichtig, damit Kinder nicht übereilt aus den Kitas abgemeldet werden. „Damit ist dann gar nichts gewonnen“, bilanziert Ulli Freund. „Das Kind, das übergriffig war, hat nichts gelernt und ist abgestempelt. Das von dem Übergriff betroffene Kind fühlt sich schuldig und hat gelernt, dass schlimme Dinge passieren, wenn es ein Geheimnis weitererzählt.“ Freund wünscht sich, dass immer mehr Einrichtungen professionell mit dem Thema umgehen, denn: „Die Wahrscheinlichkeit, dass in einer Kita überhaupt keine sexuellen Übergriffe vorkommen, ist minimal.“
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Neuer Generalsekretär
Stures Weiter-so bei der FDP
Verkauf von E-Autos
Die Antriebswende braucht mehr Schwung
Warnstreiks bei VW
Der Vorstand ist schuld
Zuschuss zum Führerschein?
Wenn Freiheit vier Räder braucht
Die HTS in Syrien
Vom Islamismus zur führenden Rebellengruppe