Folgen der Kinderschutzpolitik: Wenn die Eltern verschwinden
Nehmen die Jugendämter zu viele Kinder aus Familien? Betroffen sind vor allem arme oder alleinerziehende Mütter und Väter.
Sie erlebte eine Trennung, die, wie offenbar häufiger üblich, damit endete, dass die Mutter aus dem Leben der Kinder verschwindet. Damit ist Gärtner eine von fast 400 Betroffenen, die seit Juni 2017 an den CDU-Familienpolitiker Marcus Weinberg schrieben und einen schwerwiegenden Vorwurf erhoben: Nimmt der Staat zu viele Kinder aus Familien?
Weinberg sagt: „Meines Erachtens kommt es zu oft vor, dass Kinder zu schnell oder nicht ausreichend begründet aus ihrer Familie genommen werden.“ Das könne „traumatische Folgen für Kinder und Eltern haben“. Demnächst wolle er eine Auswertung dieser Berichte vornehmen lassen, um zu prüfen, „ob Strukturen oder Gesetze geändert werden müssen“.
So steht es sogar im Koalitionsvertrag, den Weinberg zum Thema Familie mitverhandelt hat. Im Vorfeld einer erneuten Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes sollen in Zukunft auch „Erfahrungen von Beteiligten und Betroffenen“ gesammelt und systematisch analysiert werden.
Gärtner will ihre Geschichte in der Zeitung nur grob erzählen – zum Schutz der Kinder, wie sie sagt. Der Jüngste war gerade drei Jahre alt, als sie ihren Mann verließ und mit den Kindern in eine neue Stadt zog. Der Vater stellte beim Jugendamt daraufhin ihre Erziehungskompetenz infrage. Es kommt zum Hausbesuch.
Sie verweigere die Kooperation
Das Jugendamt konstatiert, dass die neue Wohnung zwar klein ist, die Kinder bei der Mutter aber gut versorgt seien. Doch das Amt schickt eine Familienhelferin, die Gärtner nicht geeignet findet. Sie informiert sich über ihre Rechte und stellt die Hilfe gegenüber dem Amt infrage. Nun heißt es, sie verweigere die Kooperation. Es kommt zum Richterspruch.
Kindeswohlgefährdung Zur Inobhutnahme eines Kindes ist das Jugendamt berechtigt, wenn eine dringende Gefahr für das Kindeswohl vorliegt, etwa bei körperlicher Misshandlung, Vernachlässigung, sexuellem Missbrauch und heftigen Trennungskonflikten. Widersprechen die Eltern, muss das Familiengericht entscheiden. Nach Paragraf 1666 BGB kann es Maßnahmen treffen – vom Gebot, öffentliche Hilfe anzunehmen, bis zum Entzug des Sorgerechts. Die Trennung eines Kindes von der Familie ist nur zulässig, wenn einer Gefahr nicht durch öffentliche Hilfen begegnet werden kann.
Urteil Zwölf-Stämme-Eltern Morgen spricht der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte sein Urteil im Fall der zwei Kommunen der sogenannten Prügelsekte der „Zwölf Stämme“ in Bayern. Es geht um den teilweisen Entzug des elterlichen Sorgerechts und die Inobhutnahme von Kindern. (kaj)
Die Kinder werden getrennt, kommen in zwei Pflegestellen und später zum Vater, der sich inzwischen eine neue Partnerin gesucht hat. Gudrun Gärtner darf fortan nur noch „begleiteten Umgang“ haben, das heißt, sie sieht die Kinder in einem Raum des öffentlichen Trägers, zusammen mit einer Person, die aufpasst und Protokoll führt.
So geht es eine Weile. Ende 2013 fährt Gärtner nach Süddeutschland, dorthin, wo ihre Kinder jetzt leben. Vor Ort erfährt sie, dass der mütterliche Umgang auf Antrag des Vaters „ausgesetzt“ sei. Seither haben die Mutter und ihre Kinder sich nicht gesehen.
„Der Richter sagte damals, weil ich die Situation nicht einsehe, muss man mir den Umgang verbieten“, sagt Gärtner. Und das soll bis 2019 so bleiben, obwohl der Vater nach langer Erkrankung inzwischen gestorben ist und die vier Kinder bei seiner neuen Partnerin leben, die zu ihrer Pflegestelle wurde. Und obwohl zwei von ihnen bis 2019 schon volljährig sind.
Die Ursachen sehen Instanzen bei Eltern
Zu konkreten Fällen dürfen sich die Jugendämter wegen des Datenschutzes nicht äußern. Eine öffentliche Auseinandersetzung um Einzelfälle ist kaum möglich. Doch die Sichtweise der Ämter findet sich in Beschlüssen der Gerichte, die teils sogar in Fachzeitschriften publiziert sind.
Dort ist immer wieder von schädlichem Einfluss der ausgegrenzten Verwandten zu lesen, von Loyalitätskonflikten, vor denen man ein Kind verschonen will. Die Ursache für den Abbruch des Umgangs sehen staatliche Instanzen meist bei den Eltern, selten bei sich.
Auch Helene Velios* kämpft um ihren Sohn. Auch sie hat sich unter anderem an den CDU-Politiker Marcus Weinberg gewandt. 2015 wurde der Hamburgerin auf Antrag des Jugendamtes das Sorgerecht für ihren zehnjährigen Sohn Linos* entzogen.
Bis dahin arbeitete sie gut mit dem Jugendamt zusammen. Doch eine neue Sachbearbeiterin bewertete ihren Fall ganz anders und beantragte im Eilverfahren, dass der Vater das alleinige Sorgerecht bekomme. „Es hieß, es existiere eine zu große Nähe zwischen uns“, sagt Velios. „Angeblich würde ich meinen Sohn idealisieren.“
Beschwerde unter Kindertränen
Der Fall schlug jüngst in Hamburg hohe Wellen. Denn der Junge blieb nicht lange beim Vater, es gab Probleme dort, stattdessen kam er ins Heim. Weil sie die Zustände dort kritisierte, erhielt Helene Velios ein Kontaktverbot. „Warum darf ich meine Mama nicht sehen?“, beschwerte sich Linos im Juni unter Tränen bei seiner Verfahrensbeiständin.
Noch kurz vor Weihnachten bestätigte ein Gericht das Kontaktverbot. Zum einen weil er sich nach Einschätzung des Jugendamtes im Heim stabilisierte, zum anderen weil die Mutter die Unterbringung weiterhin ablehnt. Ihr Anwalt Rudolf von Bracken sagt: „Man kann das Problem nicht lösen, indem man die Mutter entfernt.“
Der Blick in die Statistik zeigt: Deutschlandweit sind überproportional viele Kinder von Alleinerziehenden in Heimen. Familienanwalt von Bracken erklärt dies aus seiner langjährigen Erfahrung als Anwalt so: „Es gibt die vielen Trennungsfälle, die gut verlaufen, aber wo es schiefgeht, orientiert sich das Jugendamt an dem Elternteil, der kooperiert. Das ist oft der Vater, während die Mutter um das Kind kämpft.“ Dieses Handeln der Behörden bedeute weniger Stress, doch fehle eine Kultur, „eigene Fehler zu erkennen und darauf zu reagieren“.
Auch die gebürtige Berlinerin Kristina Bach* ist so eine alleinerziehende Mutter, die um das Sorgerecht für ihre Tochter kämpft. Im Januar organisierte sie eine Protestdemo vor dem Jugendamt Rathenow – sie kämpft um ihre Tochter. Auch dieses Kind war beim Vater und ist nun, weil das Zusammenleben dort nicht gut funktionierte, im Heim.
Eltern vernetzen sich in Internetforen
Auch obwohl ein Gutachter zu dem Schluss kam, dass die Mutter die Hauptbezugsperson ist und die Beziehung zu ihrem Kind gut. „Man warf mir vor, dass ich einen 'Kreuzzug’ gegen das staatliche Wächteramt führe“, sagt Bach gegenüber der taz. Demos machen oder an die Presse gehen, so etwas gehe nicht aus Sicht der Jugendämter.
Es gibt viele betroffene Eltern, die sich in Internetforen vernetzen. Es gibt über 30 Gruppen mit Namen wie „Jugendamtsopfer“, „Jugendamt Familienstasi“, mit mehreren hundert Mitgliedern. Auch von „Kinderklau“ und „Jugendamtsmafia“ ist zu lesen.
Den meisten dieser Eltern fehlt wohl das Vertrauen in das Hilfesystem. Auch ein Austausch mit Fachleuten scheint kaum möglich. Anders der frühere Hamburger Jugendhilfe-Abteilungsleiter Wolfgang Hammer. Er nimmt sich Zeit für die Betroffenen. 15 Beschwerden über Fälle aus Hamburg und Norddeutschland seien seit seinem Ruhestand 2013 an ihn herangetragen worden. „Es wurden Kinder aus Familien genommen, ohne dass es eine substanzielle Kindeswohlgefährdung gab“, sagt er.
Meist treffe es alleinerziehende Mütter, die nach Auffassung eines Sachbearbeiters eine zu große Nähe zum Kind oder andere Defizite hätten, die aber bloßes Werturteil von diesem seien und „kein Grund, ein Kind aus einer Familie zu nehmen“. Dahinter vermutet Hammer politischen Druck auf die Ämter, aber auch menschliche Schwächen. „Wenn man Menschen mit Macht ausstattet, besteht immer die Gefahr, dass es Personen mit der Tendenz gibt, Macht zu missbrauchen.“
Fachwelt streitet über Folgen
In der Fachwelt gibt es einen heftigen Disput über die Auswirkungen der Kinderschutzpolitik der letzten Jahre. Eine kritische Analyse zu „Kindesinobhutnahmen 1995–2015“ schrieb etwa der Kriminologe Birger Antholz im August 2017 in der Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe. Darin betont er, dass laut Bundesverfassungsgericht Kindesentzug immer nur die allerletzte Maßnahme sein darf. Doch die Statistik zeige, das dies „vom Mittel der letzten Wahl oft genug zum Mittel der ersten Wahl geworden ist“, so Antholz.
Anlass für diese Entwicklung waren erschütternde Fälle von Kindern, die das Jugendamt nicht schützen konnte, wie der Tod der siebenjährigen Jessica, die 2005 in Hamburg verhungert in der Wohnung ihrer Eltern aufgefunden wurde. Noch im selben Jahr wurde Paragraf 42 des Sozialgesetzbuchs VIII vom Gesetzgeber verschärft. „Das Jugendamt“, so schreibt Antholz, „bekommt noch eindeutiger die Befugnis, Kinder oder Jugendliche auch ohne Familiengerichtsentscheidung ihren Eltern wegzunehmen“.
Zugleich wurde ebendort der Paragraf 8a eingefügt, der freie Träger verpflichtet, dem Jugendamt bei Verdacht auf Kindesvernachlässigung Bericht zu erstatten. Dieser Paragraf, kritisiert Antholz, mache eine auf Vertrauen basierende Jugendhilfe „eigentlich unmöglich“, weil Helfer Informanten sein würden.
Dieses Gesetz, so schreibt Birger Antholz in seiner Analyse weiter, sei „in Kombination mit öffentlichkeitsaffinen Staatsanwälten, spektakulären Einzelfällen, Sensationspresse und Selbstgenehmigungsstrukturen“ für den Anstieg der Kindeswegnahmen in den letzten zehn Jahren verantwortlich.
Eltern können sich auch stabilisieren
Von 2005 (25.664 Fälle) bis 2015 (35.336 Fälle) sind dies fast 40 Prozent. Ferner wurde 2008 mit der Verschärfung des Paragrafen 1666 BGB, „Gerichtliche Maßnahmen bei Gefährdung des Kindeswohls“, der Entzug des Sorgerechts erleichtert.
Im Juni 2017 gab es dann noch eine weitere Änderung des Kinder- und Jugendhilfegesetzes. Diese sollte auch den Vorschlag des von Katarina Barley (SPD) geführten Familienministeriums umsetzen, nach dem für Kinder, die im Heim oder bei Pflegeeltern leben, eine frühe „Perspektivklärung“ festlegt, ob sie nur vorübergehend oder dauerhaft dort sind.
CDU-Familienpolitiker Marcus Weinberg sah darin eine weitere Schwächung der Position der Herkunftseltern, seine CDU stellte sich quer. Seither führt er viele Gespräche mit betroffenen Müttern und auch Vätern. Er sagt, Einzelfälle könne er nicht überprüfen, also keine konkreten Hilfestellungen geben. Auch gebe es leider hochproblematische Fälle, „wo eine Rückführung zu den leiblichen Eltern nicht mehr möglich ist“.
Doch es gebe auch Situationen, wo Eltern sich nach einiger Zeit stabilisieren und ihre Kinder dennoch nicht zurückbekämen. Das sei falsch, sagt Weinberg: „In den meisten Fällen fehlt es leiblichen Eltern nicht an Interesse oder Zuneigung gegenüber ihren Kindern.“ Sie hätten vielmehr erhöhten Unterstützungsbedarf im täglichen Leben.
Ambulante Hilfen gestiegen
Mit seiner Analyse in der Zeitschrift für Kindschaftsrecht und Jugendhilfe erhielt Birger Antholz im Sommer 2017 viel Kritik. In der Folgeausgabe warfen Kritiker ihm eine unzulässige „Komplexitätsreduktion“ und Verzerrung vor.
„Gerade die gute Kooperation mit den Jugendämtern ermöglicht es vielen Eltern, trotz einer schwierigen Lebenssituation weiterhin mit ihren Kindern gemeinsam in einem Haushalt zu leben“, schrieb etwa der bayerische Jugendamtsleiter Michael Wagner in einer „Replik aus der Jugendamtspraxis“.
Marcus Weinberg (CDU)
Auch seien im diskutierten Zeitraum die ambulanten Hilfen für Familien, in denen die Kinder blieben, deutlich stärker gestiegen als Heimunterbringungen und Inobhutnahmen. Jugendämter würden vielmehr häufiger von Institutionen kritisiert, weil sie nicht verstehen würden, wie man diese Kinder „in solchen Verhältnissen lassen“ könne.
CDU-Familienpolitiker Weinberg setzt indes auf den neuen Koalitionsvertrag. Er wolle dafür sorgen, dass die betroffenen Eltern besser unterstützt werden, sagt er, und „nicht mehr durchs Jugendhilfe-Raster fallen“.
*Name geändert
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