Sexuelle Gewalt gegen Kinder: Das hört nicht einfach auf
Missbrauch ist ein Massenphänomen. Einen Anlass für mehr Prävention bieten die Ausgangsbeschränkungen.
S eit die Kindergärten, Schulen, Spielplätze und Jugendfreizeiteinrichtungen coronabedingt geschlossen sind, melden sich immer wieder Menschen öffentlich zu Wort, die sich Sorgen um Kinder machen: PädagogInnen und JugendamtsmitarbeiterInnen befürchten, dass Kinder in der familiären Isolation vermehrt Gewalt erleben. Häusliche Enge, Partnerschaften unter Druck infolge wirtschaftlicher Unsicherheit – das sind Bedingungen, unter denen sich Aggressionen der Erwachsenen auf die Kleinsten und Schwächsten im Haushalt richten könnten, so die Befürchtung.
Die derzeitigen Kontaktrestriktionen bringen es zudem mit sich, dass zu vielen Familien, die sonst engmaschig vom Jugendamt oder durch soziale Einrichtungen betreut werden, der Kontakt abreißt. Kinder, für die der Besuch der Schule oder des Jugendzentrums sonst eine Atempause von der häuslichen Situation bedeutet, hört und sieht man nicht mehr, was vielerorts als Alarmzeichen gewertet wird. Der Unabhängige Beauftragte der Bundesregierung für Fragen des sexuellen Kindesmissbrauchs, Johannes-Wilhelm Rörig, fürchtet, dass durch den Wegfall externer Flucht-und Hilfemöglichkeiten noch mehr Kinder als sonst Opfer sexuellen Missbrauchs durch Familienangehörige werden. Rörig hat jetzt eine Kampagne gestartet, mit der NachbarInnen oder Bekannte zum Anruf bei einer Kinderschutzhotline animiert werden sollen.
Natürlich weiß noch niemand – weder Rörig noch die MitarbeiterInnen vom Elterntelefon „Nummer gegen Kummer“, bei denen gerade vermehrt Anrufe eingehen – verlässlich, ob seit Beginn des Corona-Lockdowns wirklich mehr Kinder sexueller Gewalt im familiären Umfeld ausgesetzt sind. Ob entsprechende Straftaten zunehmen oder ob dies nur eine Befürchtung von Fachleuten ist, wird sich frühestens an der Polizeilichen Kriminalstatistik im nächsten Jahr ablesen lassen. Und das auch nur zum Teil, da sexueller Kindesmissbrauch ein Delikt mit einem riesigen Dunkelfeld ist und die Polizeidaten nur den Bruchteil der Fälle erfassen, der überhaupt zur Anzeige gebracht wird. Es sind also nur Vermutungen.
Nina Apin
leitet das Meinungsressort der taz. Ihr Buch „Der ganz normale Missbrauch. Wie sich sexuelle Gewalt gegen Kinder bekämpfen lässt“ erschien bei Ch. Links.
Und es gibt auch Stimmen, die sagen, dass die eindringlichen öffentlichen Warnungen vor einer Zunahme häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen überzogen sind. Thomas Fischer etwa, streitbarer Rechtskolumnist beim Spiegel, mokiert sich in seiner aktuellen Kolumne über eine „Dramatisierung der Opferperspektive“ und eine mit Macht herbeifantasierte Apokalypse, wo seiner Meinung nach derzeit alles normal läuft – wenn nicht sogar besser: Fischer stellt mit Blick auf die am 24. März veröffentlichte Polizeiliche Kriminalstatistik für 2019 fest: „Gewaltdelikte gesunken, sexueller Missbrauch erneut gesunken!“ Also warum die ganze Aufregung? Weil die Gutmenschen aus der Hilfsindustrie so gerne über Opfer sprechen?
Bagatellisierung von sexueller Gewalt
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Fischers Polemik bewegt sich argumentativ auf unsicherem Boden: So ist zwar die Zahl der Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung insgesamt gesunken, nicht aber die Zahl der registrierten Fälle von sexuellem Missbrauch an Kindern unter 14 Jahren. Diese lag mit 13.670 im vergangenen Jahr um fast 11 Prozent über der von 2018. Was die Verbreitung von Missbrauchsabbildungen, sogenannter Kinderpornografie, angeht, stieg die Zahl der polizeilichen Ermittlungsverfahren sogar um knapp 65 Prozent. Fischers bagatellisierender Text ist trotzdem aufschlussreich, denn er illustriert geradezu beispielhaft das größte Problem, das wir in Deutschland im Umgang mit sexueller Gewalt gegen Kinder haben: Wir nehmen sie einfach nicht ernst genug.
Genau zehn Jahre ist es jetzt her, dass eine Serie von Missbrauchsskandalen die Öffentlichkeit erschütterte: Canisius-Kolleg, Kloster Ettal, Odenwaldschule. Hunderten von Kindern wurde Gewalt angetan durch Menschen, denen sie als Schutzbefohlene anvertraut waren. Und meist waren die sexuellen Übergriffe innerhalb der betreffenden Institutionen lange bekannt gewesen, bevor sie von außen aufgedeckt wurden. Als 2010 mehrere solcher Langzeitskandale enthüllt wurden, fragte sich das ganze Land: Wie kann es sein, dass das so lange ging? Dass niemand etwas gemerkt hat, keiner den Mund aufgemacht, niemand das abgestellt hat?
Das letzte Jahrzehnt, in dem so viel über Kindesmissbrauch berichtet und geforscht wurde wie nie zuvor, brachte einige neue Erkenntnisse: Dass „niemand etwas gemerkt“ hat, ist fast immer unwahr. Es handelt sich um Taten, die innerhalb eines gewachsenen Sozialgefüges stattfinden – ermöglicht durch KomplizInnen, gedeckt oder zumindest in Kauf genommen von MitwisserInnen.
Was man aus den Enthüllungen von 2010 auch lernen konnte, ist: Es gibt keinen Gesellschaftsbereich, kein Milieu, in dem Erwachsene sich nicht an Kindern vergreifen. Es ist eben kein „katholisches Problem“ oder eines der 1968er-Generation: Es geschieht in staatlichen Kinderheimen und christlichen Elite-Internaten, in grün-alternativen Wohngemeinschaften wie in Moscheegemeinden, in Kitas wie auf Kinderkrebsstationen. Am weitaus häufigsten finden sexuelle Übergriffe im familiären Nahbereich statt – nicht nur in sogenannten Risikohaushalten, sondern ebenso häufig seitens betuchter, gebildeter Eltern.
Meist schaffen es die aufsehenerregenden Fälle in die Medien, wie der des Jungen aus Staufen, der von seiner Mutter und ihrem Lebensgefährten im Internet zur Vergewaltigung verkauft wurde, oder der Pädosexuellenring auf dem Campingplatz in Lügde. Doch hinter diesen besonders krassen Fällen stehen sehr viele mehr, die seit Jahrzehnten bundesdeutscher Alltag sind: Der ganz normale Missbrauch findet an allen Orten statt, an denen Kinder unterwegs sind, und das heißt auch zunehmend im Internet. Mehr als die Hälfte der Täter (und Täterinnen) sind übrigens keine triebgesteuerten Pädophilen, sondern „normal veranlagte“ Erwachsene.
Sexuelle Gewalt gegen Kinder ist ein Massenphänomen mit dem Verbreitungsgrad einer Volkskrankheit. Was die Zahlen angeht, weiß man das heute. Und auch, dass diese Taten lebenslange Folgen für die Opfer haben, streitet im Gegensatz zu früheren Zeiten kaum jemand ab. Aber statt den Kampf entschlossen aufzunehmen, mit den Mitteln der Prävention, der Strafverfolgung, der gesellschaftlichen Debatte, hangelt man sich von Skandal zu Skandal. Nach der Odenwaldschule und den Grünen kommt Lügde, kommt Bergisch-Gladbach.
Hangeln von Skandal zu Skandal
Enthüllung, Skandal, nächster Skandal – und dann? Geht es immer so weiter. Dabei gibt es durchaus Erfahrungen, auf denen man aufbauen könnte: Viele Institutionen haben mittlerweile Aufarbeitungsprozesse durchlaufen. Und es gibt viele Betroffene – WHO-Schätzungen gehen davon aus, dass jedeR achte Erwachsene in seiner Kindheit sexuelle Gewalt erlebt hat, – die Auskunft darüber geben könnten, was missbrauchten Kindern hilft und welche Unterstützung sie als Erwachsene benötigen, um mit dem Erlebten zurechtzukommen.
Sicher: Seit 2011 gibt es das Amt des Unabhängigen Beauftragten, seit 2012 untersucht die Unabhängige Kommission systematisch sämtliche Formen von Kindesmissbrauch, und mit dem Betroffenenrat entstand eine einflussreiche Selbstorganisation. Doch diese Institutionen gleichen oft einsamen Rufern in der Wüste: Seit Jahren fordern sie, dass erlittenes Unrecht nicht vergessen werden darf, dass man daraus lernen muss für die Zukunft. Doch noch immer geraten Aufarbeitungsprozesse zum jahrelangen Gezerre: In dem baden-württembergischen Städtchen Korntal etwa erinnert weiterhin nichts daran, dass dort Mitglieder der pietistischen Brüdergemeinde über 30 Jahre lang Kinder schwer misshandelten. Auch die Opferentschädigung gestaltet sich zäh.
Auch die Idee einer bundesweiten Zeitzeugenbörse von Betroffenen, die das individuelle Leid hinter den Zahlen sichtbar machen und über das Leben mit Missbrauchserfahrungen berichten können, kommt nicht voran, ebenso wie Initiativen, einen Gedenktag oder eine Gedenkstunde für Opfer sexueller Gewalt einzuführen. Man will es halt im Zweifel gar nicht so genau wissen. Auch so manche Untersuchung von Verantwortlichkeiten aus der Vergangenheit, wie im Fall des Berliner Jugendsenats, der bis 2003 Jungen an pädosexuelle Pflegeväter vermittelte, würden die Verantwortlichen wohl am liebsten in die Schublade legen – wären da nicht die Betroffenen, die um Entschädigung kämpfen.
Es wird Zeit, eine Erinnerungskultur für Kindesmissbrauch zu entwickeln, um sichtbar zu machen, dass es nicht einfach so aufhören wird, dass dieses Verbrechen Teil unserer Gesellschaft ist. Damit Kinder künftig besser geschützt werden können, müssen die über die Jahre erlangten Erkenntnisse zur flächendeckenden Prävention genutzt werden. So müssen alle Einrichtungen, die mit Kindern arbeiten, verpflichtend Schutzkonzepte erarbeiten. Statistisch gesehen, sitzen in jeder Schulklasse ein bis zwei betroffene Kinder, durch die Schulpflicht gäbe es das Potenzial, sehr viele zu erreichen. Doch noch immer verfügen nur rund 13 Prozent aller Schulen über kundige AnsprechpartnerInnen und funktionierende Unterstützungsstrukturen. Auch Sexualaufklärung wird oft eher halbherzig betrieben – dabei sind Aufklärung und Hilfsangebote erwiesenermaßen erfolgreich darin, Missbrauchsbeziehungen zu entdecken und zu beenden.
Jugendämter in der Krisenzeit aufstocken
Studien zufolge sind die psychischen Langzeitfolgen von Missbrauch umso gravierender, je länger er andauert. Das heißt, dass alles daran gesetzt werden muss, früh zu intervenieren. Dazu muss vor allem das System der Jugendhilfe besser ausgestattet werden. Jugendämter, soziale Dienste und staatliche Unterbringungseinrichtungen sind momentan auch nicht ansatzweise in der Lage, ihrer Kinderschutzaufgabe in dem Umfang gerecht zu werden, wie es nötig wäre.
Als Erstes muss in der jetzigen Krisenzeit in den Jugendämtern das Personal aufgestockt werden und müssen die Notbetreuungen für gewaltgefährdete Kinder in allen Bundesländern geöffnet werden. Und eigentlich bräuchte jedes Bundesland einen eigenen Missbrauchsbeauftragten, der Hilfsangebote lokal bündelt und neue Anlaufstellen schafft. All diese Forderungen werden seit Jahren von Experten erhoben. Doch die Umsetzung kostet Geld. Die Coronakrise könnte ein Anlass sein, auch hier umzudenken: jetzt investieren in Erinnerung, Prävention und Hilfe. Damit die Kriminalstatistik im nächsten Jahr keine hässliche Coronaspitze aufweist – die Zahlen sind auch so schon alarmierend genug.
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