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Sexualisierte GewaltSie nannte ihn Opa

Wenn Frauen mit einer Behinderung Opfer sexualisierter Gewalt werden, werden Täter noch seltener verurteilt. Im Fall von Jovita S. ist das anders.

Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich – auch nicht bei Fällen sexualisierter Gewalt Foto: Andrey Popov/Panthermedia/imago

München taz | Das Verbrechen, das Jovita S. angetan wurde, hatte die besten Chancen, niemals aufzufliegen. Eine Frau im Rollstuhl, schwer geistig behindert, wird vergewaltigt von einem Mann, dem sie und ihre Familie voll vertrauen.

Der Mann ist angestellt bei einem Fahrdienst für behinderte Menschen. Jeden Werktag holt er Jovita S. mit seinem Kleinbus ab und fährt sie in das Förderzentrum, in dem sie ihren Alltag verbringt. Die beiden haben ein gutes Verhältnis, „Opa“ nennt sie ihn, „meine Enkelin“ er sie. Er ist 73, sie 23.

Die Vergewaltigung plant er genau. Er präpariert seinen Bus, verdunkelt die Scheiben, sucht sich einen abgelegenen Parkplatz. An einem Nachmittag im Oktober 2023 überrumpelt er sie auf dem Heimweg, verkauft ihr die Vergewaltigung als Spiel. Wehren kann sie sich nicht. Als sie schreit, hält er ihr den Mund zu.

Eineinhalb Jahre später, im Januar 2025, steht der Busfahrer Janusz P. in München vor Gericht. Fünf Tage lang wird das Gericht verhandeln und versuchen zu klären, wie es zu der Vergewaltigung kam. Nicht ob, sondern wie. Denn die Beweislage ist eindeutig.

Das Leben einer Frau 2025

„Man kommt nicht als Frau zur Welt, man wird es.“ Zum feministischen Kampftag am 8. März wird die wochentaz zur Frauentaz. Auf 52 Seiten blicken wir auf das gesamte Leben einer Frau – von der Geburt bis zum Tod. Auf taz.de widmen wir uns dem Thema ganze drei Tage.

Täter kommen oft aus nahem Umfeld

Frauen und Mädchen mit Behinderungen werden deutlich häufiger Opfer von Gewalt als Frauen ohne Behinderung. Etwa zwei- bis dreimal häufiger erleben sie sexualisierte, körperliche oder psychische Gewalt. Das zeigt eine Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2011. Die Dunkelziffer, schätzen Expert*innen, dürfte wesentlich höher liegen, da gerade Frauen mit geistiger Behinderung schwer von der Forschung erreicht werden.

Die Täter kommen oft aus dem nahen Umfeld. Es sind Eltern, Stief- oder Pflegeeltern, Mitbewohner in Behinderteneinrichtungen oder Betreuer in Werkstätten. Trotzdem landen diese Fälle seltener vor Gericht. Wenn sie überhaupt bei der Polizei ankommen, werden sie oft eingestellt, denn vielen Betroffenen fällt es schwer zu beschreiben, was sie erlebt haben. Anderen wird nicht geglaubt oder die Behörden wissen nicht, wie sie mit ihnen umgehen sollen.

Ronska Grimm vertritt als An­wäl­t*in Menschen, die Gewalt erlebt haben. Den Fall in München vertritt Grimm nicht. Aber Grimm kennt ähnliche: Etwa 5 Prozent von Grimms Man­dan­t*in­nen haben eine Behinderung. Das liege nicht daran, dass es so wenig Fälle gebe, sondern daran, dass die wenigsten überhaupt An­wäl­t*in­nen wie Grimm erreichen.

„Wenn Menschen mit Behinderung Gewalt erleben, fällt es Ihnen oft schwer, sich Hilfe zu holen“, sagt Grimm. „Viele sind sozial isoliert, wissen nicht, an wen sie sich wenden können. Beratungsstellen sind schwer zu finden oder nicht barrierefrei.“ Ohne eine Person, die hinter den Betroffenen stünde und sie unterstütze, sei es für viele kaum möglich, Hilfe zu finden.

Dass die Vergewaltigung von Jovita S. in München aufgeflogen ist, war Zufall. Es ist Mitte Januar im Oberlandesgericht München. Janusz P. wird im Rollstuhl in den Gerichtssaal gefahren. Ein alter Mann, das Gehen fällt ihm schwer. Das lange, graue Haar hat er zum Zopf gebunden. Er spricht nur Polnisch, eine Dolmetscherin übersetzt für ihn.

Janusz P. sitzt seit der Vergewaltigung in Untersuchungshaft. An jenem Nachmittag im Oktober 2023 hatte eine Nachbarin beobachtet, wie P. seinen Kleintransporter auf einem Parkplatz geparkt hat. Wie er die Fensterscheiben mit Decken abgehängt hat, während hinten im Wagen noch eine kleine Person saß. Dann, als alles abgedunkelt war, begann das Auto zu wackeln. Die Nachbarin rief die Polizei, die erwischte P. schließlich mit heruntergelassener Hose nach dem Samenerguss.

Angeklagter mit ausgestrecktem Mittelfinger

In den Prozess geht er dennoch trotzig. Am ersten Prozesstag streckt er den anwesenden Jour­na­lis­t*in­nen die Zunge raus und den Mittelfinger entgegen. So berichten es verschiedene Medien. Die Bild-Zeitung zeigt ein Foto von P. mit herausgestreckter Zunge. Den „Ekel-Busfahrer“ nennt sie ihn. Äußern will sich Janusz P. zunächst nicht. Die Staatsanwaltschaft geht davon aus, dass Janusz P. die wehrlose Lage von Jovita S. ausgenutzt hat. Dass er ihr Vertrauen missbraucht und seine Tat geplant hat.

Jovita S. wird in dem Prozess nicht auftauchen. Sie weiß nicht einmal, dass die Tat heute verhandelt wird. Sie lebe, so beschreibt das ihre Psychologin vor Gericht, in der Gegenwart. Die Vergewaltigung habe sie 2023 sehr verstört. In den Wochen danach habe sie sich geschämt, geekelt und Angst gehabt. Heute, eineinhalb Jahre später, rede sie nicht mehr davon.

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Was Janusz P. ihr angetan hat, hat sie der Polizei erzählt, ihrer Psychologin, einem Richter. Im Gerichtssaal in München wird sie es nicht noch einmal erzählen. Von der Vernehmung wird ein Video gezeigt, unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch für diesen Text hat sie nicht noch einmal gesprochen. Alles, was hier steht, basiert auf den Aussagen vor Gericht.

Jovita S. kam als Kleinkind mit ihrer Familie aus der Türkei. Die Eltern sind getrennt, aufgewachsen ist sie mit ihrem Vater und ihrem Bruder. Mit ihrem Vater wohnt sie noch heute in einer Wohnung im dritten Stock eines Mehrfamilienhauses. Jeden Tag trägt der Vater die Frau die Treppe hoch und runter. Ihre Tage verbringt sie in einem Förderzentrum in München. Die Psychologin beschreibt Jovita S. als eine Frau, die „allgemein belastet“ sei. Aber auch als eine Frau, die gern Körperkontakt habe. Sie wolle von ihrer Psychologin häufig umarmt werden, suche die Nähe von Menschen, die ihr vertraut sind.

Ausführlich erzählt die Psychologin, wie Jovita S. ihr von der Tat erzählt hat. Dem Richter und den Verteidigern von Janusz P. geht es dabei um Details: Mit welchen Worten hat sie beschrieben, was passiert ist? Wie gut kann sie sich erinnern? Kann sie zwischen Film und Realität unterscheiden?

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Liebe, sagt die Psychologin, das sei für Jovita S. wie ein Bollywoodfilm. „Wenn man sich küsst, fliegen Tauben und Herzen, denkt sie.“ Im Förderzentrum habe sie einen Freund, mit dem knutsche sie. Hat sie eine Vorstellung von Sexualität, fragt der Richter. „Sie wünscht sich eine Beziehung“, antwortet die Psychologin. „Aber das muss ja nicht Sexualität sein. Hat sie ein Verständnis von Geschlechtsverkehr?“, will der Richter wissen. Die Psychologin zögert. „Ganz wahrscheinlich nicht“, sagt sie schließlich. „Sie ist eher wie ein Teenager, der ein Bedürfnis hat, aber nicht weiß, was es alles gibt“.

Verfahren werden häufig eingestellt

Ronska Grimm arbeitet seit zehn Jahren als An­wäl­t*in in Berlin und vertritt Menschen mit Behinderung. „Ich habe es in meiner Arbeit bei Aussage-gegen-Aussage-Delikten noch nie erlebt, dass jemand dafür verurteilt wird, einem Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen Gewalt angetan zu haben“, sagt Grimm.

Das liege daran, dass Staatsanwaltschaften die Verfahren häufig einstellen, bevor sie überhaupt vor Gericht landen. Was wiederum daran liege, dass oftmals schon die Polizei die ersten Fehler mache. „Ich beobachte beispielsweise immer wieder, dass Menschen mit kognitiven Beeinträchtigungen postalisch einen Fragebogen für die Polizei ausfüllen sollen, in dem sie ihr Erlebtes aufschreiben. Aber die meisten können das gar nicht“, sagt Grimm. Stattdessen müssten die Aussagen von Menschen mit Behinderung mit Video- oder Tonaufnahmen dokumentiert werden. Passiere das nicht, sei die Aussage praktisch wertlos und das Strafverfahren an dieser Stelle aussichtslos.

Bei dem Prozess in München ist dagegen vieles richtig gemacht worden. Die Polizei hat direkt nach der Tat Beweise gesichert, etwa die DNA-Spuren von Jovita S. und Janusz P. Jovita S. wurde per Video vernommen, eine Glaubhaftigkeitsgutachterin schätzt ihre Aussage später vor Gericht ein. Damit bestehen kaum noch Zweifel daran, dass der Angeklagte Jovita S. Gewalt angetan hat.

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Das Gericht wird ihn schließlich zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilen, wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses. Janusz P. kommt zugute, dass er sich doch entschlossen hatte auszusagen.

Am vierten Verhandlungstag vor dem Münchner Oberlandesgericht ergreift sein Anwalt das Wort. Er beschreibt die Tat so, wie sie in der Anklageschrift steht. Er trägt vor, dass Janusz P. sein Auto präpariert und geparkt habe, um Jovita S. zu vergewaltigen. P. habe kein Verständnis für das, was er gemacht habe, es tue ihm leid, er sei so dumm. Es gebe keine Erklärung für sein Handeln.

Nach der Erklärung des Anwalts ist es kurz still in dem Gerichtssaal. Dann fragt der Richter Janusz P., ob er es nicht für eine gute Idee halte, sich zu entschuldigen, bei Jovita S., und ihrem Vater. Der Vater mache sich schwere Vorwürfe, er quäle sich mit der Frage, warum er seine Tochter nicht habe schützen können. Ja, sagt der Anwalt von Janusz P. Es tue seinem Mandanten leid. Janusz P. hat die Hände verschränkt und schaut zu Boden. Er schweigt.

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3 Kommentare

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  • „Das Gericht wird ihn schließlich zu vier Jahren und sechs Monaten Haft verurteilen, wegen Vergewaltigung und sexuellen Missbrauchs unter Ausnutzung eines Betreuungsverhältnisses.“

    Viel zu wenig, für ein WIRKLICH zerstörtes Leben einer Frau mit Beeinträchtigung, die sie als Opfer offenbar exponiert hat. Während gleichzeitig ein gesunder Politiker (Gelbhaar) Millionen verlangt für eine lediglich beschmutze Weste. Unverhältnismäßig, einfach unverhältnismäßig. Und nebenbei zeigt es die widerlich Abgründe männlichen und unmenschlichen Handelns auf:

    „Frauen und Mädchen mit Behinderungen werden deutlich häufiger Opfer von Gewalt als Frauen ohne Behinderung. Etwa zwei- bis dreimal häufiger erleben sie sexualisierte, körperliche oder psychische Gewalt. Das zeigt eine Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2011.“

    „Frauen und Mädchen mit Behinderungen werden deutlich häufiger Opfer von Gewalt als Frauen ohne Behinderung. Etwa zwei- bis dreimal häufiger erleben sie sexualisierte, körperliche oder psychische Gewalt. Das zeigt eine Studie des Bundesfamilienministeriums aus dem Jahr 2011.“

    • @Ceridwen:

      "Viel zu wenig,..." Mit Ihrem Wunsch nach härteren Strafen liegen Sie ja in der Tendenz, denn hierzulande wird sich ja gern über zu milde Urteile in allen möglichen Fällen mokiert. Vielleicht sollten wir das generell lieber den Richtern überlassen, die alle Beteiligten im Blick haben, und hoffen, dass es niemals zu einer "Rachejustiz" kommt und wir wenigstens in Reichweite des gerechten biblischen "Auge um Auge" bleiben.



      Eine Einschätzung darüber, ob Hr. Gelbhaar nach der Attacke auf seine Persönlichkeit noch "gesund" oder doch "beschädigt" ist, steht Ihnen, denkt ich, nicht zu. Ob die Schadenersatzsumme angemessen ist, sollte ebenfalls nur ein Gericht beurteilen und nicht Sie.

      • @Vigoleis:

        Den männlichen Richtern, meinen Sie? Wenn ich‘s vermeiden kann, komme ich überhaupt nichts Biblischem zu Nahe, schon gar keinen Predigern. So so, Hr. Gelbhaar wurde als „attackiert“ , sind Sie sicher dass Sie dasselbe darunter verstehen wie ich, als mehrfaches Opfer gewaltätiger und sexueller Übergriffe? Wie befreit die privilegierten und bevorzugten, gesunden und niemals beeinträchtigten Menschen, denen auch niemals Schlimmeres als eine Grippe widerfahren ist…doch davon reden, wie wer zu verurteilen ist und was wem zusteht. Ihnen stände Bildung ganz gut…



        „Feindbild Frau“ Rolf Pohl – „Why we matter“ Emilia Roig – „Backlash: die neue Gewalt gegen Frauen“ Susanne Kaiser – „Wir sind doch alle längst gleichberechtigt“ Alexandra Zykunov



        …und nebenbei etwas Respekt!