Sexualisierte Gewalt in Sachsen: Fast jede Frau erlebte Belästigung
Eine Studie zeigt, dass sexuelle Übergriffe zum Alltag der Frauen in Sachsen gehören. Im Schnitt wurde jede dritte Frau schon vergewaltigt.
Für die Studie, die die Hochschule Merseburg durchgeführt hat, wurden von Mai bis Oktober 2022 Frauen im Alter zwischen 16 und 74 Jahren anonym per Online-Fragebogen befragt. Die Forscher:innen wollten nicht nur wissen, welche Erfahrungen die Frauen mit sexueller Belästigung, Gewalt und Stalking gemacht haben, sondern auch, wie hoch sie das Risiko einschätzen, Opfer solcher Delikte zu werden. Darüber hinaus fragten sie die Betroffenen sexualisierter Gewalt, ob sie die Taten angezeigt oder ob sie selbst anschließend professionelle Hilfe in Anspruch genommen haben.
Wie die Erhebung zeigt, fürchten sich viele der befragten Frauen davor, in der Öffentlichkeit sexuell belästigt zu werden. Fast die Hälfte der 16- bis 30-Jährigen verzichtet deswegen häufig oder sehr häufig darauf, bestimmte Kleidung zu tragen. 47 Prozent aus dieser Altersgruppe gaben an, aus Angst um ihre Sicherheit nach einer Veranstaltung so gut wie nie alleine nach Hause zu gehen. Tendenziell verzichteten jüngere Frauen häufiger auf bestimmte Verhaltensweisen als ältere Frauen, heißt es in der Studie.
Nicht nur in der Öffentlichkeit, auch im Internet erleben Frauen sexuelle Belästigung oder sexualisierte Gewalt. Die Hälfte der Befragten teilte mit, schon mal unerwünschte Nachrichten oder Penisbilder erhalten zu haben. Von sieben Prozent der Frauen wurden intime Bilder oder Videos gegen ihren Willen online veröffentlicht.
30 Prozent der Befragten wurden vergewaltigt
Besonders alarmierend sind die Zahlen der versuchten und vollendeten Vergewaltigungen. 30 Prozent gaben an, schon mindestens einmal in ihrem Leben vergewaltigt worden zu sein. 51 Prozent haben der Studie zufolge mindestens einen Vergewaltigungsversuch erlebt, 27 Prozent davon mehrere. Die Täter:innen seien fast ausschließlich Männer gewesen, der Tatort meist das eigene Wohnumfeld, schreiben die Autor:innen. Sowohl bei den versuchten als auch bei den vollendeten Vergewaltigungen seien (Ex-)Partner:innen die meistgenannten Täter, gefolgt von Bekannten, Freund:innen und Familienmitgliedern.
Wie aus der Erhebung hervorgeht, hätten besonders viele der heute über 50-Jährigen sexualisierte Gewalt erlebt. Grund dafür seien den Autor:innen zufolge unter anderem Generationsunterschiede. Bereits in ihrer Kindheit und Jugend hätten die älteren Befragten häufiger Gewalt durch nahe Angehörige erfahren als die jüngeren.
Neben sexueller Belästigung und sexualisierter Gewalt fragten die Forscher:innen auch nach häuslicher Gewalt. Fast jede zweite Befragte gab an, schon mindestens einmal in ihrem eigenen Zuhause psychische Gewalt erlebt zu haben. Als Beispiele nannten die Betroffenen Einschüchterung, Bedrohung, Erpressung, Manipulation oder Isolation. Körperliche Gewalt wie Schlagen oder Schubsen erfuhr der Studie zufolge jede dritte Teilnehmerin.
Klammere man die partnerschaftliche Gewalt aus, sei die Mehrheit der Betroffenen häuslicher Gewalt zur Tatzeit minderjährig gewesen, schreiben die Autor:innen. Eine strenge Erziehung und Gewalterfahrungen zu Hause stünden in engem Zusammenhang. Darüber hinaus seien Befragte, die auf dem Dorf leben, häufiger von solcher Gewalt außerhalb der Partnerschaft betroffen als Städterinnen.
Viele erleben Gewalt in festen Beziehungen
In Bezug auf Gewalt in Partnerschaften fanden die Forscher:innen heraus, dass Frauen aus Großstädten wie Leipzig und Dresden ebenso häufig partnerschaftliche Gewalt erleben wie jene, die in einer Kleinstadt oder in ländlichen Regionen wohnen. Mehr als die Hälfte der Befragten mit Beziehungserfahrung gab an, im Laufe ihres Lebens schon mal psychische, körperliche oder sexuelle Gewalt in einer festen Beziehung erfahren zu haben. Hatten die Betroffenen Kinder, richte sich in 50 Prozent der Fälle Gewalt auch gegen diese, heißt es in der Studie. Die Täter seien auch bei dieser Gewaltform überwiegend männlich.
In der Studie heißt es weiter, dass Gewalt in der Partnerschaft oft mit Stalking einhergehe. 40 Prozent aller Befragten wurde schon gestalkt. In der Hälfte der Fälle sei der Stalker der aktuelle oder ehemalige Partner gewesen, heißt es. Mehr als die Hälfte der Betroffenen teilte mit, dass ihr Leben durch das Stalking „stark“ oder „sehr stark“ beeinflusst wurde.
Eine weitere Erkenntnis der Erhebung: Viele Gewaltopfer nehmen keine professionelle Hilfe in Anspruch. Als Gründe nannten sie Scham und die Sorge, dass das Erlebte nicht geglaubt werde. Nur ein Drittel der Betroffenen gab an, sich an Psychotherapeut:innen oder Fachberatungsstellen gewandt zu haben.
Nur wenige Betroffene erstatten Anzeige
Noch kleiner ist der Anteil der Betroffenen, die Anzeige erstattet haben. Je nach Tat liegt die Anzeigequote zwischen vier und 13 Prozent. Hauptgründe für eine Anzeige seien der Wunsch, die Gewalt zu beenden und den Täter zu bestrafen. Gründe gegen eine Anzeige seien Scham sowie die Befürchtung, die Anzeige bewirke nichts.
„Das ist genau der Punkt, wo wir ansetzen müssen“, teilte Gleichstellungsministerin Katja Meier (Grüne) am Donnerstag in Dresden mit. Es dürfe nicht sein, dass Betroffene keine Hilfe in Anspruch nähmen oder die Taten nicht anzeigten, weil sie sich schämten oder fürchteten, ihnen glaube niemand. Es sei die Aufgabe der Politik, dies zu ändern.
„Jedem Mädchen und jeder Frau muss klar sein, dass eben niemals ein Übergriff gerechtfertigt ist“, sagte Meier – und betonte, dass Gewalt nicht dadurch verursacht werde, dass man bestimmte Kleidung trage oder jemanden provoziert habe. „Wenn Gewalt als akzeptables Mittel gesehen wird, um eigene Interessen durchzusetzen, dann liegt da einfach eine falsche Rollenvorstellung zugrunde, und über genau die müssen wir reden.“
Zusätzlich zur quantitativen Befragung haben die Forscher:innen acht qualitative Interviews mit Frauen mit Fluchterfahrung sowie 13 Interviews mit Frauen mit Behinderungen geführt. Letztere berichteten, aktuell psychische Gewalt in Einrichtungen der Behindertenhilfe zu erleben.
Die Erfahrungen, die die Befragten in Kindheit und Jugend in Heimen gemacht hätten, seien „ausnahmslos negativ“ gewesen, heißt es in der Studie. Auch in Krankenhäusern und Psychiatrien hätten die befragten Frauen Gewalt erlebt, etwa Kneifen, Fixieren, Auslachen oder die Missachtung der Privatsphäre beim Toilettengang.
Die Frauen mit Fluchterfahrung berichteten laut der Studie von Zwang zur Prostitution, Menschenhandel, Kidnapping und „erpresserischem Zwang in mafiösen Strukturen“. Sie seien etwa unter der Androhung von Kindesentzug dazu gezwungen worden, Verbrechen zu begehen. Die geschilderte Gewalt habe meist in den Herkunftsländern der Frauen stattgefunden. Keine der befragten Frauen habe Anzeige erstattet.
Lucie Hammecke, gleichstellungspolitische Sprecherin der Grünenfraktion im sächsischen Landtag, teilte mit: „Die Zahlen zeichnen ein verheerendes Bild. Es ist erschreckend, dass fast alle befragten Frauen in ihrem Leben bereits sexuelle Belästigung erleiden mussten.“ Die Ergebnisse der Studie zeigten, wie wichtig es sei, „dass die sächsische Landespolitik bei geschlechtsspezifischer Gewalt nicht wegschaut, sondern aktiv handelt“.
Gleichstellungsministerin Katja Meier kündigte an, auf Basis der Studienergebnisse nun Maßnahmen zu entwickeln, um Betroffene von häuslicher oder sexualisierter Gewalt oder Stalking gezielt unterstützen zu können.
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