Sexualisierte Gewalt: #MeToo: Was hast du erlebt?
Unsere Gesellschaft hält nicht viel Platz bereit, um über Verwundung und Hilflosigkeit zu sprechen. Was wir brauchen, ist eine Kultur des Vertrauens.
Das Gemeine am gesellschaftlichen Fortschritt ist, dass man ihn nicht messen kann, wenn man mittendrin steckt. Die Formel all derer, die an Fortschritt glauben und noch Hoffnung haben, lautet: Da tut sich was.
Oder anders ausgedrückt: Insgesamt ist die Lage vielleicht beschissen, aber nicht mehr ganz so schlimm wie gerade eben noch. Wenn die Ehe für alle beschlossen wird, tut sich was. Wenn Frauen in Saudi-Arabien Auto fahren dürfen, tut sich was. Oder wenn Fremde auf Twitter miteinander über sexuelle Gewalt ins Gespräch kommen, dann tut sich auch was.
Der Aufschrei, den der Skandal um Hollywoodmogul Harvey Weinstein ausgelöst hat, ist noch nicht verklungen. Er wird sogar lauter. Und es lohnt sich zu hoffen. Weil den Frauen, die dem Produzenten sexuelle Belästigung und Vergewaltigung vorwerfen, zugehört und geglaubt wird.
Weil nach jahrelangem Geraune und Gerüchten nun doch große Medien recherchiert haben, dass Harvey Weinstein seit Jahrzehnten seine Macht benutzt, um Frauen zu erniedrigen, und sein Umfeld ihn dabei schützt. Und weil seit Sonntag die öffentliche Debatte um einen neuen Aspekt erweitert wurde.
Das Ausmaß des Problems
In den sozialen Netzwerken schreiben Tausende unbekannte Frauen von ihren alltäglichen Erfahrungen mit sexueller Gewalt unter dem Hashtag #MeToo (ich auch). Es geht nicht mehr um Weinstein, es geht um Situationen von Machtlosigkeit, denen Frauen tagtäglich ausgesetzt sind. Alles keine Neuigkeit und trotzdem eine Nachricht wert.
Die Schauspielerin Alyssa Milano, bekannt aus der Mysteryserie „Charmed – Zauberhafte Hexen“, hatte dazu aufgerufen. Am vergangenen Sonntag schrieb sie auf Twitter: „Wenn alle Frauen ‚Ich auch‘ schreiben würden, könnten wir den Menschen ein Gefühl für das Ausmaß des Problems geben.“
Dies sei die Idee eines Freundes und alle, die sich angesprochen fühlen, sollten auf diesen Tweet mit „Me too“ antworten. Mehr als 30.000 folgten und auch auf Facebook und Instagram wird seitdem unter #MeToo diskutiert. Darunter sind Berichte von vielen Frauen, aber auch Männern, die vergewaltigt, beschimpft und genötigt wurden. Oder die einfach nur #MeToo schreiben, ohne sich weiter erklären zu müssen.
Wer nicht so viel Hoffnung hat, denkt bestimmt: Schöne Idee, aber was soll’s bringen? Wie viel ist denn noch von der deutschen #Aufschrei-Debatte übrig? Egal wie steil die Erregungskurve ansteigt, sie fällt auch immer wieder, das ist ein Naturgesetz. Und es wird wieder einen Trump-Tweet geben oder ein neues Spielzeug, das die Welt bewegt.
Der Beginn eines Gesprächs
Optimistisch lässt sich dagegenhalten: Es geht darum, ein gesellschaftliches Bewusstsein zu schaffen und Machtstrukturen zu hinterfragen. Und das klappt heute besser als früher. Als es um die Vergewaltigungsvorwürfe an Bill Cosby ging, wurde noch nicht so viel und intensiv über sexuelle Gewalt als gesamtgesellschaftliches Problem gesprochen. Sind wir einen Schritt weiter? Vielleicht.
Die größten Veränderungen sind sowieso die, die man im eigenen Umfeld spürt. Deshalb ist #MeToo der viel schönere Hashtag als #Aufschrei: „Ich auch“ ist der Beginn eines Gesprächs.
Vor ein paar Wochen war ich bei Freunden eingeladen. Nach dem Essen ging es um das Erlebnis einer Bekannten in der Sauna. Ein Mann hatte sie dort angesprochen. Er war ganz außer sich. Plötzlich, kurz bevor er in die Sauna wollte, war ihm eingefallen, dass er als Kind im Schwimmbad vergewaltigt worden war, und er gestand dies der ersten Person, die er traf.
Wir sprachen daraufhin lange über die Frage, ob das nicht auch ein unzulässiger Übergriff sei, und über das Vergessen und Verdrängen, bis sich plötzlich eine Person am Tisch auch an etwas erinnerte: an eine frühe sexuelle Erfahrung und daran, dass diese nicht freiwillig war. Zum ersten Mal in ihrem Leben kam sie auf den Gedanken, dass es sich ja hierbei auch um sexuelle Gewalt handelte, und vertraute sich uns an. Genau darum muss es gehen: um eine neue Kultur des Vertrauens.
Sich anvertrauen
Unsere Gesellschaft hält nicht viel Platz bereit, um über Verwundung und Hilflosigkeit zu sprechen. Wie schwer muss es sein, sich anderen wegen der eigenen Vergewaltigung anzuvertrauen? Deshalb ist es beeindruckend, dass Menschen öffentlich und unter ihrem Namen auf Facebook und Twitter von ihren Gewalterfahrungen erzählen.
Aber mindestens genauso wichtig ist es, auch im eigenen Umfeld darüber ins Gespräch zu kommen, eine Sprache für das Erlebte zu finden und sich sichtbar zu machen. Um gemeinsam einzuüben, Gewalt zu erkennen und Macht zu verstehen. Wer damit anfängt, hört bestimmt als Antwort: Ich auch.
Das ist natürlich beschissen. Aber trotzdem ein Fortschritt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungerechtigkeit in Deutschland
Her mit dem schönen Leben!
Kompromiss oder Konfrontation?
Flexible Mehrheiten werden nötiger, das ist vielleicht gut
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Eine Chauffeurin erzählt
„Du überholst mich nicht“
Der Check
Verschärft Migration den Mangel an Fachkräften?
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“