Serie über Politiker-Entführung: Kein Gelato zum Nachtisch
Marco Bellocchio erzählt in der Serie „Und draußen die Nacht“ von der Entführung des Politikers Aldo Moro durch kommunistische Aktivisten.
Drei Männer stehen in einem Krankenhausflur eng beieinander. „Wer weiß, dass er lebt und freigelassen wurde?“, flüstert der erste. „Niemand. Nicht mal die Familie“, raunt der zweite. „Es darf auch niemand erfahren, dass er hier ist. Eins nach dem anderen“, sagt wieder der erste. „Auch nicht der Papst?“, will der dritte wissen. „Nein. Auch der erst mal nicht“, beharrt der erste.
Es ist Mai 1978. Die drei Männer sind der Reihe nach: der damalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti, Innenminister Francesco Cossig und Benigno Zaccagnini, Generalsekretär der Democrazia Christiana. Auch Aldo Moro, den sie gemeinsam im Krankenhaus besuchen, der also lebt und freigelassen wurde, ist Mitglied der Partei. In der realen Welt teilte Aldo Moro bekanntlich das Schicksal des weniger als ein Jahr zuvor von der RAF entführten und ermordeten Hanns Martin Schleyer. Handelt es sich hier etwa um einen weiteren Fall der in Mode gekommenen filmischen Alternativgeschichtserzählung? In „Once Upon a Time in Hollywood“ hatte Quentin Tarantino zuletzt Sharon Tate ihren Killern entkommen lassen.
Die Parallelen sind fürwahr beachtlich: Auch im Falle Moros überfielen Linksterroristen (von der Brigate Rosse) seine Autoeskorte und erschossen alle Personenschützer. Auch hier meißelte die Regierung die Staatsraison in Stein und verhandelte nicht mit den Entführern. Nach Wochen des Hoffens und Verzweifelns wurde die Leiche des Entführten schließlich im Kofferraum eines Autos gefunden.
Und wie der Deutsche Herbst ist auch der Moro-Mord wiederholt filmisch adaptiert worden. Nur lässt das bisherige Schaffen des „Teufel im Leib“-Regisseurs Marco Bellocchio eigentlich darauf schließen, dass er zwar einerseits einen eher künstlerischen Zugang zu seinem Gegenstand als ein Heinrich Breloer wählen, dass er andererseits aber sehr viel subtiler vorgehen würde als das Duo Bernd Eichinger/Uli Edel.
Hassfigur für rechte wie für linke Spalter
Genau so ist es gekommen. Der Sechsteiler „Und draußen die Nacht“ stiehlt deutschen Produktionen à la „Todesspiel“ und „Der Baader Meinhof Komplex“ in Sachen Kunstfertigkeit und Subtilität und überhaupt spielend die Show. Und natürlich hat Bellochio nicht einfach eine der Verschwörungstheorien ins Bild gesetzt, wie sie sich in großer Zahl um Moro ranken. Denn er war der maßgebliche Kopf hinter der als „Historischer Kompromiss“ bekannten Annäherung zwischen Konservativen und Kommunisten in Italien – und damit eine Hassfigur für rechte wie für linke Spalter.
Die Serie läuft auf arte.
Die rätselhafte Auftaktszene wird tatsächlich erst gegen Ende der sechsten Folge aufgelöst. Dazwischen entfaltet Bellocchio, unterstützt von Stars des italienischen Kinos wie Margherita Buy und Toni Servillo, seine meisterliche Erzählkunst, die den Zuschauer die Tage und Wochen nach Moros Entführung immer wieder aus neuer Perspektive erleben lässt.
Der von Papst Paul VI. (Servillo, Folge 3), der im Vatikan einen Berg aus Geldbündeln aufhäufen lässt, um seinen langjährigen Freund Moro damit freizukaufen. Der von der Terroristin Adriana Faranda (Folge 4), die zu zweifeln beginnt, als sie im Fernsehen die Särge der ermordeten Personenschützer sieht. Der von Moros tiefreligiöser Ehefrau Eleonora (Buy, Folge 5), die ihre Kinder ermahnt, ihre Feinde zu lieben: die Entführer zu verstehen und ihnen zu verzeihen. Oder der von Innenminister Cossiga (Folge 2), dessen Berater schon nach der Verhängung des Kriegszustandes und der Wiedereinführung der Todesstrafe lechzen.
Es ist eine der beeindruckendsten Sequenzen der Serie, wenn die Kamera langsam über die Gesichter der um einen Konferenztisch von Putinschen Ausmaßen versammelten Uniform- und Anzugträger gleitet, während Cossiga sie aus dem Off einsortiert, all diese: „Ex-Faschisten oder Noch-Faschisten, alte Haudegen. Und sie sollen Aldos Leben retten, dabei hassen sie ihn. Aber ich habe nur sie.“
Als kälteste, diabolischste Figur von allen erscheint – nach Paolo Sorrentinos „Il Divo“ – einmal mehr der siebenmalige italienische Ministerpräsident Giulio Andreotti. Seine Selbstgeißelung während der Moro-Entführung besteht darin, auf das Speiseeis zum Nachtisch zu verzichten.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Hype um Boris Pistorius
Fragwürdige Beliebtheit
James Bridle bekommt Preis aberkannt
Boykottieren und boykottiert werden
Russischer Angriff auf die Ukraine
Tausend Tage Krieg
Kanzlerkandidat-Debatte
In der SPD ist die Hölle los
Verfassungsklage von ARD und ZDF
Karlsruhe muss die unbeliebte Entscheidung treffen
BSW stimmt in Sachsen für AfD-Antrag
Es wächst zusammen, was zusammengehört