Serie „Verschwindende Dinge“ (3): Jetzt schlägt's 13!
Die Glocken einer Kirche in Prenzlauer Berg müssen nach einer Klage dezenter läuten. Dürfen Bimmelgeplagte neue Hoffnung schöpfen?
Lange Zeit bin ich früh wach geworden. Lange Zeit war das auch in Ordnung gewesen, denn um 8 Uhr gingen mein Radiowecker und zur selben Zeit auch der Wecker meines Handys. Dass die katholische Kirche, die sich in Weckerwurfweite von meinem Schlafzimmer befindet, dann auch den Tag einläutete, kam mir nur zupass.
Anders an freien Tagen, vor allem im Sommer, wenn die Fenster offen stehen: Da durchdringt das Läuten der bimmelfreudigen kleinen Gemeinde im Nachbarhof gern die gesamte Wohnung. Und es ist nicht nur die katholische Kirche – zu der ich eh ein besonderes Verhältnis habe –, die lärmt, sondern auch die etwas entfernter gelegene evangelische, die leicht zeitversetzt in das Läuten mit einfällt.
Schön ist es auch samstags, wenn um 17.45 Uhr die Abendmesse eingeläutet wird. Handgestoppte acht Minuten lang wird da gebimmelt – was sich ausnimmt, als ob man eine Doom-Metal-Platte auf höchster Lautstärke abspielt. Es dröhnt, hallt und echot markerschütternd. Vom „Verschwinden“ des heimeligen Kirchenglockenläutens kann – zumindest bei mir um die Ecke – keine Rede sein.
Gibt es in diesem Land nicht die Religionsfreiheit? Schon, aber die bedeutet nicht die Freiheit von Religion, was mir die liebere Freiheit wäre: keine Gottesdienstübertragungen im öffentlich-rechtlichen Radio, keine Wand- und Gipfelkreuze, kein Glockenläuten, wenn es nicht irgendwie zum Thema passt. An Weihnachten zum Beispiel, dem Fest der Liebe, der einzigen Zeit, in der das Läuten irgendwie romantisch wirkt. (Na gut, bei Besuchern von auswärts wirkt das heimische Läuten auch gelegentlich romantisch: Sie denken, sie seien wieder im Dorf. Das denke ich auch manchmal.)
Ein Anspruch besteht
Kann man da nicht was machen? Doch, kann man. Unter bestimmten Bedingungen. Schönes Juristendeutsch gefällig? Bitte sehr: „Das Zeitläuten einer Kirche unterfällt nicht dem Schutz der Religionsausübung. Daher kann, wenn das Zeitläuten eine wesentliche Lärmbelästigung darstellt, ein Unterlassungsanspruch bestehen. Dies geht aus einer Entscheidung des Amtsgerichts Aschaffenburg hervor“, schreibt eine Juristenseite. Zeitläuten bedeutet: Das Läuten um 8 Uhr. Das Messe-Einläuten um 17.45 Uhr fällt nicht darunter.
Eine andere Seite im Internet führt aus: „Wer sich gegen das sakrale Glockenläuten wenden möchte, muss zunächst einmal den Verwaltungsrechtsweg einschlagen […] Denn sowohl die evangelische als auch die katholische Kirche sind öffentlich-rechtliche Körperschaften […]. Daher gehören die Kirchenglocken, soweit sie zum Zwecke der Religionsausübung benutzt werden, zu den öffentlichen Sachen.“
Juristische Ausführung
Sachen? Verwaltungsrechtsweg? Vonnöten wäre erst einmal: ein Schallmessgerät. Habe ich nicht.
Aber der gute Christ wendet sich zuerst an seine Gemeinde. Gut, ein guter Christ bin ich seit mindestens 2002 nicht mehr, dem Jahr meines Kirchenaustritts. Gemeinde habe ich also auch nicht. Trotzdem probiere ich es mit einem Anruf, ganz á la „Süßer die Glocken nie klingeln“. Aber es ist ja Weihnachten. Die Gemeinde ist folglich schwer ausgelastet und telefonisch nicht zu erreichen.
Seltsame Tage zwischen Weihnachten und Neujahr sind das: nicht richtig Feiertage, nicht richtig Alltag. Irgendwie „dazwischen“ eben. Und auch eine Zeit des Abschieds: Das alte Jahr schwindet, man blickt zurück.
Es ist naheliegend, sich da mit Dingen zu beschäftigen, die im Verschwinden begriffen sind: Bis Januar verabschieden wir uns in dieser Serie von Alltagsphänomenen und Gebrauchsgegenständen, von denen manch einer gar nicht wusste, dass er sie schon vermisst hat. (taz)
In Prenzlauer Berg, genauer an der Immanuelkirche, ist der Klage eines Anwohners tatsächlich einmal stattgegeben worden. Die Kirche darf dort nur noch beschränkt zeitläuten. Aber in Prenzlauer Berg ticken die Uhren eh anders, da ist Stille oberste Bürgerinnenpflicht. Kein Wunder, dass Kirchenglockenläuten da schon wieder so dialektisch wie nostalgisch unter „verschwindende Dinge“ fallen, die mit einer Mischung aus Weihrauch und Wehmut betrauert werden. Die Christmetten dort sind völlig ausgebucht. Keine Tickets mehr zu haben. Auch sonst gehen die sonntäglichen Geschäfte für die Kirchen gut – der Kirchgang gehört für die inzwischen eingesessene Biedermeier-Boheme längst wieder zum guten Ton. Der Lärm, den das macht, ist ja bereits ausgeschaltet.
Im weltlicheren Neukölln wäre das Ordnungsamt die Instanz, an die man sich wenden könnte. Sozusagen der Dienstweg. Aber auch das ist telefonisch nicht zu erreichen. Klar, Feiertage! Oder auch Ferien!
Bliebe der andere klassisch neuköllsche Weg: die kriminelle Methode. Also in einer Sabotage-Aktion sich in den Kirchturm schmuggeln und den Schlegel entwenden. Den Klöppel. Das Ding da, das gegen die Glocke schlägt. Geht natürlich nur, wenn die große Glocke eine „Klöppelglocke“ ist, also den Klöppel innen hat, und keine „klöppellose Glocke“.
Auch andere logistische Probleme warten: wie den Klöppel lösen? Mit dem Bunsenbrenner? Und ist der Klöppel nicht gegebenenfalls zu schwer für einen allein? Wie ihn also abtransportieren? Muss man eine Bande organisieren? Fiele das noch unter Religionskritik oder wäre das schon wieder Terror gegen irgendeine Leitkultur?
Andererseits: Auf dem Schwarzmarkt für Altmetall dürfte der Klöppel hohe Preise erzielen. Aber wen da anrufen? Und, vor allen Dingen: wann?
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