Serbien besiegt die Angst: Das Volk gegen Vučić
Studierende besetzen Unis, marschieren durchs Land und entfachen einen Aufstand gegen das korrupte Regierungs-System. Vučićs Rückhalt im Land schwindet.

Seit dem Einsturz des Bahnhofsvordachs in Novi Sad am 1. November wird in Serbien protestiert. Die Demonstrant:innen üben scharfe Kritik an der Korruption der regierenden serbischen Fortschrittspartei SNS, die sie für den Tod von 15 Menschen verantwortlich machen. Sie fordern eine Veröffentlichung aller mit dem Bau in Zusammenhang stehenden Dokumente und eine strafrechtliche Verfolgung der Verantwortlichen.
Die Demos finden im ganzen Land statt. Tamara Branković sieht viel Hoffnung in den seit über vier Monaten anhaltenden Protesten, die von Studierenden initiiert wurden: „Die Proteste haben Serbiens politische Kultur neu belebt – eine engagierte Generation verändert, wie diese Gesellschaft Politik, Beteiligung und Rechtsstaatlichkeit begreift.“
CRTA führt repräsentative Studien durch, die Serbiens Präsidenten Aleksandar Vučić missfallen dürften. Sie fanden heraus, dass 80 Prozent der Bevölkerung die Forderungen der Studierenden unterstützen und zwei Drittel sich in irgendeiner Form an den Protesten beteiligen. Zudem betreibt CRTA die Faktencheckseite „Istinomer“, die Desinformation aufdeckt. Đurić nennt ein Beispiel: „Vučić wirft dem Rektor einer Universität vor, einen Militärputsch zu planen. Es gab viele Putsche in der Geschichte, aber nicht von Universitätsdirektoren.“
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„Die Angst hat die Seiten gewechselt“
Neben Einschüchterungen werden auch andere Methoden angewendet. So wurden gegen fünf Mitglieder der liberalen Partei PSG 30 Tage Untersuchungshaft verhängt, weil ihnen vorgeworfen wird, einen Umsturz vorbereitet zu haben. Gegenüber der taz erklärt die Partei: „Es gibt keine belastbaren Beweise. Diese Untersuchungshaft ist ein Beispiel für die fortgesetzte Repression des Regimes, das erneut skrupellos sowohl gesetzliche als auch verfassungsrechtliche Bestimmungen verletzt.“
Die Büros von CRTA liegen fußläufig entfernt vom Parlament und vom Präsidentensitz in Belgrad. Dort zeigt sich, wie Vučićs Strategien ins Leere laufen. Im Pionirski Park stand eine Zeltstadt mit angeblichen Studierenden, die zurück an die Unis wollten, doch viele entpuppten sich als SNS-Funktionäre. Schläger und für Exekutionen in den 1990ern bekannte Einheiten kamen zum Park, um die Demonstrierenden einzuschüchtern, doch die Studierenden machten sie zu Memes in den sozialen Medien.
Rund um den Park ließ die Regierung am Freitag Hunderte Traktoren aufstellen, um zu zeigen, dass sie Unterstützung von Bauern erhält. Nur, Bauern waren nicht zu sehen. Bei dem Massenprotest mit rund 300.000 Menschen war auf einem Schild zu lesen: „Die Angst hat die Seiten gewechselt“. In ihren Heimatorten wurden SNS-Funktionäre teils beschimpft, in der Kleinstadt Obrenovac mit Eiern beworfen. Auch in ländlichen Regionen wird ihnen offen Verachtung entgegengebracht.
Alles deutet darauf hin, dass die Proteste am vorigen Samstag durch eine Schallkanone aufgelöst wurden. Plötzlich rannten Menschen los, suchten Schutz in Seitengassen und Hauseingängen. Hunderte Zeug:innen berichten von einem lauten Knall. Viele litten danach unter Schlafstörungen und Benommenheit. Zunächst bestritten die Behörden, solche Waffen zu besitzen. Dann hieß es, die Waffe liege ungenutzt im Keller, doch Fotos belegen, dass sie draußen stand. Die Version des serbischen Innenministers Ivica Dačić lautet inzwischen, dass die Schallkanone zwar da war, aber nur als Lautsprecher genutzt wurde. Vučić erklärte, er werde zurücktreten, wenn bewiesen werde, dass eine Schallkanone eingesetzt worden sei. Laut Investigativnetzwerk BIRN hat die serbische Polizei die illegale Schallkanone im November 2023 gegen Geflüchtete eingesetzt. Ein Lehrbuchbeispiel, wie Repression, die zuerst gegen „Fremde“ gerichtet wird, später nach innen schlägt.
Markus Söder nahm einen Orden von Vučić entgegen
Während Vučićs Rückhalt im Land schwindet, erhält er internationale Unterstützung. Der chinesische Präsident Xi und Russlands Präsident Putin stehen auf seiner Seite. Donald Trump Jr. besuchte ihn jüngst in Belgrad – wohl auch wegen eines 500 Millionen Euro teuren Immobilienprojekts seines Schwagers Jared Kushner.
Von der EU gibt es bisher keinen öffentlichen Druck auf Vučić. Bundeskanzler Scholz sicherte sich Lithium für die deutsche Autoindustrie. Frankreichs Präsident Macron verkaufte Kampfjets. EU-Kommissionspräsidentin von der Leyen lobte Serbiens EU-Kurs und Rechtsstaatlichkeit. CSU-Chef Söder nahm in Belgrad einen Orden von Vučić entgegen. Das alles binnen weniger Monate.
Vučićs SNS bleibt weiter assoziiertes Mitglied der Europäischen Volkspartei EVP, der auch CDU und CSU angehören. Die EU stellt sich nicht hinter die Proteste für Rechtsstaat und Demokratie in Serbien, also stellen sich die Studierenden auch nicht hinter EU-Flaggen. Die Proteste unterlaufen Vučićs Strategien, weil sie basisdemokratisch in Plenen organisiert sind. Die Studierenden verhindern, dass sich Gesichter des Protests etablieren. Den Rücktritt von Premierminister Vučević im Januar ignorierten sie weitgehend. Sein Rücktritt habe nichts mit ihren Forderungen zu tun – einer Rückkehr zu Rechtsstaatlichkeit, Verfassung und funktionierenden Institutionen. Die Studierenden fordern Vučićs Rücktritt nicht explizit – weil sie seine Autorität nicht anerkennen. „Nije nadležen“ ist ihr Leitsatz: „Er ist nicht zuständig.“ Serbien ist laut Verfassung kein Präsidialsystem.
Die Studierenden ignorieren die Lügen regierungsnaher Medien und schaffen ihre eigene Sprache. Zentral ist das „Pumpanje“ – das Pumpen, inspiriert von einem Youtube-Video, das einen Turbofolksänger auf einer Hochzeit zeigt, der seinen Akkordeonspieler zum „Pumpen“ auffordert, während ein 100-Euro-Schein an seiner schweißnassen Stirn klebt. Häufig sind die „blutigen Hände“ zu sehen – als Anklage in Richtung derer, deren Korruption tötet.
Die Proteste sind extrem divers
Die regierungstreuen Fakestudenten werden „Ćaci“ genannt – eine fehlerhafte Schreibweise von „Đaci“ in einem regierungstreuen Graffiti. „Đaci“ heißt „Schüler“, „Ćaci“ heißt gar nichts, hat sich nun aber als Begriff etabliert. Bei den Protesten wird skandiert: „Wer nicht springt, ist ein Ćaci.“ Daraufhin springen alle.
Viele Studierende kommen aus Arbeiter-, Bauern- und Angestelltenfamilien. Sie haben ihre Eltern und Großeltern überzeugt, dass sie keine ausländischen Söldner sind, sondern gegen Korruption kämpfen. In Serbien zählt Loyalität zur SNS oft mehr als Leistung – die Partei hat laut eigenen Angaben 800.000 Mitglieder in einem Land mit 6,6 Millionen Einwohnern.
Die Proteste sind extrem divers. Die meisten Fakultäten sind besetzt, auch in Novi Pazar, wo die Studierenden mehrheitlich Bosniakinnen und Bosniaken sind. Ihre nationalen Symbole gehören zum Protest, wie die Flagge der Roma. Ein weit verbreiteter Slogan enthält eine homophobe Beleidigung gegen Vučić – angestimmt von den Ultras von Partizan Belgrad. Auch Rechtsextreme sind dabei, für die Vučić nicht rechts oder Putin-nah genug ist.
Wie sehr die Unterstützung für Vučić bröckelt, zeigt auch, dass jetzt viele behaupten, schon immer gegen ihn gewesen zu sein. Vučić wirkt hilflos. Hohe Polizeifunktionäre erklärten schon, dass sie nicht ihre eigenen Kinder schlagen werden. Ein gewaltsames Durchgreifen würde Vučić endgültig zum Diktator à la Lukaschenko machen.
Mit Neuwahlen, wie von Vučić in Aussicht gestellt, lässt sich nicht viel erreichen, solange sie von Regierungstreuen ausgezählt werden. Freie und faire Wahlen bräuchten demokratische Rahmenbedingungen. Dafür müsste eine Übergangsregierung her, doch Vučić weigert sich. Er erklärte in seiner typisch überdrehten Art, dass man ihn dafür erst töten müsse. Die Studierenden haben indes klargestellt, dass sie weiter pumpen werden.
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