Selbstoptimierung als Kulturphänomen: Im Gewitter der Singularitäten
Heutzutage braucht alles Bestätigung. Zwei Bücher untersuchen, was hinter den Phänomen der Selbstoptimierung steckt.
Die großen Krisen der Gegenwart betreffen uns als Gesellschaft, unterbrechen aber kaum die Gedankenschwere und den Eifer, mit der wir um uns als Einzelne kreisen. Krisen markieren die dynamische Verfassung des Kapitalismus, und wenn in der Krise des Allgemeinen, die Andreas Reckwitz der Spätmoderne attestiert, viele nicht einmal den Schritt zu elementaren Sozialtechniken – gerade etwa dem Impfen – schaffen, kann man das auch als oberflächliches Zeichen lesen.
Darunter liegt die Beharrlichkeit, mit der wir gelernt haben, uns auf uns selbst beziehen. Wenn wir nicht nur auf die Bräsigkeit der Antivax-Partisanen der Scholle schauen, sehen wir, dass gerade die, die sich ständig selbst verbessern wollen, ein zentrales Thema in den Händen halten: Selbstbezug und Optimierung sind Mechanismen, um mit der vorwärtsdrängenden Welt mitzuhalten.
Dafür heben wir Gewichte, laufen, feilen an unserem Eigensinn, nehmen Steroide, bimmeln zu Pause und Einkehr mit der Klangschale, damit die Gegenwart wirklich kickt. Freilich, vor lauter Achtsamkeit sehen wir kaum die Krise gesellschaftlicher Anerkennung. An die Stelle von gesellschaftlichem Fortschritt ist die Vorstellung von privatem Glück, Harmonie und Fortschritt getreten.
Wenn etwas stört, helfen Lebenstrainer und Body-Mind-Therapeuten, miese Laune grenzt fast an Depression. Ganze Ratgeber-Bibliotheken kennen Wege, „die beste Version deines Selbst“ zu werden, Millionen Menschen messen anhand von Uhren und Telefonen, wie viele Schritte sie heute taten, wie es um Schlafrhythmus und Blutsauerstoffgehalt bestellt steht.
Alles braucht Bestätigung
Alles bis hin zum banalsten Sport braucht Gefühl und Überbau – Anmutungen vom heroischen Kampf gegen uns selbst, Überwindungslosungen, Bestätigung: Ein Twitter-Account sammelt, was vom Bullshitbingo eines Sportgeräteverkäufers herunterfällt – Peloton liefert ein Symbol zur Pandemie gerne komplett mit Activewear bis an die Türschwelle, ein Fahrrad, Einstiegspreis von 1.495 Euro, mit dem wir zwar nirgends hinfahren können, aber auf dem wir in unseren Wohnungen weltweit vernetzten Anfeuerungsrufen hinterherasten.
Anja Röcke: „Soziolgie der Selbstoptimierung“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 257 Seiten, 20 Euro
„Lost in Perfection. Zur Optimierung von Gesellschaft und Psyche“. Hrsg. von Vera King, Benigna Gerisch und Hartmut Rosa. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021, 338 Seiten, 25 Euro
Die Peloton-Community schickt sämiges Zeug aufs Telefon: „You are allowed to be a masterpiece and a work in progress at the same time.“
Selbstoptimierungen sind ein Strauß von Kulturphänomenen, Steuerungsmechaniken, Formen der Vermarktlichung, Konditionierungsinstrumente. Sie haben eine paradoxe Wirkung: Selbst, Psyche und Körper werden mit dem immer neuen Geist des Kapitalismus im Kreislauf zu Märkten gleichzeitig kollektiv konditioniert, aber auch vereinzelt; diszipliniert, fit und aufmerksam gemacht, ästhetischen Regimen unterworfen und gleichzeitig auch zu Alleinstellungsmerkmalen ermuntert.
Wir sind uns längst Subjekt und Objekt zugleich, notiert Anja Röcke in ihrer grundlegenden „Soziologie der Selbstoptimierung“. Wir lesen von einer Technik der Moderne, Röcke untersucht institutionelle Ordnungen, an die sich Überlegungen und Praktiken knüpfen, durchmisst theoretische Ansätze von Wilhelm von Humboldt, Trotzki oder Weber, bevor sie über Foucault zum analytischen Kern vordringt.
Prinzipien der Perfektibilität, Überbietung und Optimierung
„In zeitlicher Hinsicht beinhaltet Selbstoptimierung einen Prozess der Verstetigung und damit der Entgrenzung; in sachlicher Hinsicht basiert Selbstoptimierung auf den Prinzipien der Perfektibilität, Überbietung und Optimierung; in sozialer Hinsicht ist Selbstoptimierung individualistisch ausgerichtet, fußt also auf einem Selbstbezug, der eigenen Interessen folgt.“ Ihr Blick auf die Spätmoderne ist relativ knapp.
Dazu zeichnet der Sammelband „Lost in Perfection“ ein buntes Bild einzelner Aspekte von Lebensführung und Subjektivierungsformen. Hier ahnen wir, warum all die Techniken ein Gespinst von genügend unklaren, aber bedeutungsklebrigen Begriffen wie Authentizität benötigen: Sie stehen fest auf der westlichen Vorstellung von „Handlungsautonomie und individueller Initiative“, schreibt der Soziologe Alain Ehrenberg.
Dafür sind Entwicklungen seit den 1970er Jahren verantwortlich – seit die auf Disziplin und Norm aufbauende Nachkriegsgesellschaft ihre Integrationskraft verlor. Seitdem rückt unsere Verantwortung für eigenes Tun in den Mittelpunkt, der Liberalismus wandelte seine Gestalt, gemeinsam haben wir Renditeprinzipien der Finanzialisierung übernommen und unsere Einstellung zu der vielen Zeit, die wir so haben, geändert: Nun sind wir angehalten, das Beste aus uns herausholen, das Glücklichste aller Leben zu führen.
Das nicht zu tun, wäre ein Manko. Der Druck, dem Idealbild des „unternehmerischen Selbst“ zu entsprechen, bedeutet auch, unsere Zeitvorstellungen zu merkantilisieren, ständig Entscheidungen zu treffen und Renditen abzuwägen – und das Ideal stets übertreffen zu müssen. Wir entwickeln uns „zum Kapitalisten unseres Selbst“, unterziehen Körper und Lebensführung unerbittlicher Valorisierung, treten als Intrapreneure auf, wie Ulrich Bröckling das nennt.
Nicht funktioniert im Gewitter der Singularitäten dies: Zurücklehnen, Muße, Fett ansetzen, darüber nachdenken, wie wir etwa der Klimakatastrophe beikommen könnten. Grade veröffentlicht die Umwelthilfe Zahlen, wir haben einen Rekord gebrochen: Deutschland, 19 Millionen Tonnen Verpackungsmüll, Spitzenreiter in Europa. In einigem davon waren die neuen Stehfahrräder eingepackt.
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