Selbstmord-Serie bei France Télécom: Sprung aus dem Bürofenster
Die Beschäftigten bei France Télécom arbeiten in einem Klima von Angst und Schrecken – 25 nahmen sich das Leben. Gewerkschafter sprechen von "strategischem Mobbing".
PARIS taz | "War er freundlich?" Kaum hat der Techniker von France Télécom sein Werkzeug eingepackt und den Ort seiner Intervention verlassen, kommt schon die telefonische Nachfrage beim Kunden. Dabei steht nicht etwa die Qualität der Reparatur im Mittelpunkt. Sondern das Benehmen des Technikers.
Kontrolle ist Alltag im sechstgrößten französischen Unternehmen. Die 102.000 Beschäftigten von France Télécom werden - auf der Baustelle, bei der Telefonberatung und beim Vertragsgespräch am Schalter der Boutique - vielfach überwacht. Mal hören ihre direkten Vorgesetzten, die "Manager", mit. Mal rufen Subunternehmen bei den Kunden an und kontrollieren mit "Zufriedenheitsumfragen" eine Arbeit, von der sie nicht das Geringste verstehen.
Nur wenn sich die Kunden "sehr" zufrieden zeigen, gibt es Prämien für die Beschäftigten. Andernfalls riskieren sie Kritik und Einträge in ihre Personalakten. Sämtliche Ergebnisse der Beschäftigten - die Internet-Abonnements und Handys, die sie verkaufen, die Reklamationen, die sie erhalten haben, sowie ihre Umgangsformen - werden erfasst. Wie in der Schule veröffentlichen die Manager die besten und schlechtesten Umsätze ihrer Mitarbeiter in Aushängen.
Gewerkschaft beklagt "strategisches Mobbing"
Gewerkschaften, Arbeitsmediziner und Psychiater prangern schon seit Jahren das "Klima von Angst und Stress" in dem Unternehmen an. Sie sprechen von "strategischem Mobbing" und von "Entmündigung". Aber die große Öffentlichkeit erfährt erst jetzt davon. Durch eine tragische Serie: 25 Beschäftigte von France Télécom haben sich in den vergangenen anderthalb Jahren das Leben genommen. Weitere haben eine Selbsttötung versucht. Manche haben ihre Geste schriftlich begründet. Es sind posthume Anklageschriften gegen ihr Unternehmen.
"Der einzige Grund ist die Arbeit", schreibt ein 51-jähriger Techniker von France Télécom Marseille im Juli in seinem Abschiedsbrief: "Der permanente Druck, die Überlastung, die fehlende Weiterbildung, die Desorganisation und das Management mit dem Terror." Wenig später springt in Paris eine 32-Jährige vor den Augen ihrer Kollegen aus dem Bürofenster in den Tod. Zuvor hat sie von der Umorganisation ihrer Dienststelle erfahren. Anfang September rammt sich in Troyes während einer Abteilungssitzung ein Techniker ein Messer in den Bauch.
Sprung aus dem Bürofenster
Er überlebt. Und erklärt im Krankenhaus, dass er seine zwangsweise Versetzung nicht ertragen hat. Ende September wirft sich ein 51-jähriger Callcenter-Mitarbeiter von einer Brücke auf die Autobahn A41 bei Annecy. "Leiden am Arbeitsplatz", begründet er seinen Selbstmord schriftlich. Im nationalen Vergleich sind die Zahlen nicht überraschend. Mit durchschnittlich 16 Selbstmorden pro 100.000 Einwohnern und Jahr steht Frankreich an zweiter Stelle in der europäischen Statistik - gleich nach Finnland. Ungewöhnlich sind jedoch Alter und Tätigkeit der Opfer bei France Télécom: Gewöhnlich sind Selbstmörder in Frankreich entweder jugendlich oder arbeitslos. Oder beides.
Die Leitung von France Télécom betrachtet die Selbstmorde lange als privates Problem ihrer Beschäftigten. Noch im September spricht Unternehmenschef Didier Lombard bei einer Pressekonferenz leichtfertig von einer "Selbstmordmode". Seine Bemerkung löst eine Welle der Empörung in dem Unternehmen aus. Einen Selbstmord später empfangen Kollegen des Toten den zu Beileidsbekundungen herbeigeeilten Unternehmenschef mit Pfiffen und dem Ruf: "Mörder". Dann kam eine Mahnung der Arbeitsinspektion in Paris hinzu. Arbeitsinspektorin Sylvie Catal drohte der Unternehmensleitung rechtliche Schritte an, falls sie nicht umgehend "Maßnahmen gegen das Selbstmordrisiko im Unternehmen" ergreife.
Mea Culpa des Bosses Lombard
Anfang Oktober legt der 67-jährige France-Télécom-Chef Lombard ein öffentliches Mea Culpa ab: "Ich habe das Leiden nicht ernst genug genommen." Noch wenige Monate zuvor hatte er angedroht, dass es mit der "Muschelsuche" - als Synonym für den Schlendrian bei der Arbeit - bei France Télécom endgültig vorbei sei. Nun gibt er die entgegengesetzte Parole von der "Entfaltung im Beruf" aus: "Ich will nicht mehr akzeptieren, dass gewisse Beschäftigte gestresst zur Arbeit kommen."
Die französische Wirtschaftsministerin weist jede "direkte Einmischung" in das Unternehmen weit von sich. Aber mit 26,7 Prozent der Anteile ist der Staat weiterhin Hauptaktionär. Während der letzten Wochen hat Ministern Christine Lagarde den Unternehmenschef mehrfach zum Rapport über die Selbstmordserie vorgeladen. Zugleich verlangt sie "Stressverhandlungen" in sämtlichen großen Unternehmen des Landes. Bis spätestens Februar sollen sich die Direktionen und Gewerkschaften zusammensetzen, um über Angst und Stress am Arbeitsplatz zu beraten. Denn vor France Télécom hat es auch bei den Autoherstellern Peugeot und Renault und bei dem Energiekonzern EDF Selbstmordserien gegeben.
Bei France Télécom arbeitet der Chef Lombard an einer Kurskorrektur. Er gibt eine externe Untersuchung über die Ursachen des Stress in Auftrag. Er stimmt den seit Jahren von den Gewerkschaften verlangten Verhandlungen zu. Er setzt die Zwangsversetzungen im Dreijahresrhythmus bis Ende Dezember aus. Und er lehnt zwar seinen eigenen - von der Opposition geforderten - Rücktritt ab. Opfert aber den zweitwichtigsten Mann an Bord.
Als Nachfolger engagiert er Stéphane Richard, den ehemaligen Kabinettchef der Wirschaftsministerin. Der geschasste Spitzenmanager Pierre-Louis Wenes war 2002 als "Cost-Killer" engagiert worden. Er sollte für France Télécom 3,5 Milliarden Euro einsparen und die Belegschaft reduzieren. Beides ist ihm gelungen. Mit dem Programm "Next" führte Wenes neue Managementmethoden ein. Und strich - allein in den vergangenen drei Jahren - 22.000 Arbeitsplätze.
"Menschen sind keine Maschinen" steht auf dem Transparent, das die lächelnde junge Frau trägt. Sie demonstriert vor dem Sitz des französischen Unternehmerverbandes Medef. Bei France Télécom hat sie die modernen Managementmethoden am eigenen Leib erlebt. Sie war technische Beraterin in einer Pariser Boutique von France Télécom. Sie verdiente 1.700 Euro - "plus Prämien, falls die Kunden zufrieden waren". Und geriet vor zweieinhalb Jahren in Konflikt mit ihrem Manager. "Er hat mir nie berufliche Fehler oder Verspätungen vorgeworfen", sagt sie: "Er hat mich einfach gemobbt. Und ich habe es mir nicht gefallen lassen."
Mal habe sie einem Kunden am Ende eines Gespräches nicht "Danke" gesagt. Mal sei sie im Ton "zu schnippisch" gewesen. Alles kam in ihre Personalakte. "Es war einfach kindisch", sagt Cécile, die jetzt vor einem Arbeitsgericht mit dem Unternehmen streitet. Die meisten Kollegen in der Boutique sahen dem Treiben untätig zu. "Niemand wollte zum Gegner des Managers werden", erklärt Cécile. Und fügt hinzu: "Wäre ich fragiler, hätte ich es nicht überlebt. Schließlich wohne ich in einer sechsten Etage."
"Niederlage gegen den Liberalismus"
Die Soziologin Danièle Linhart, die für das 2000 von zwei Gewerkschaften gegründete "Stress-Observatorium" von France Télécom arbeitet, spricht von einer "permanenten Unsicherheit" sowie von der "Fixierung schier unerreichbarer Ziele". Beides sei typisch in Unternehmen, die starker Konkurrenz ausgesetzt sind, sich schnell modernisieren und eine kurzfristige Rentabilität anstreben. Willy Pelletier, ebenfalls Soziologe und zugleich Chef der linken Pariser "Fondation Copernicus", stellt bitter fest: "Die Leute zahlen mit ihrem Leben für unsere Niederlagen gegen den Liberalismus. Es ist ein Wirtschaftskrieg. Der Kampfschauplatz ist das Innere von Unternehmen."
Und der auf Arbeitsmedizin spezialisierte Psychiater Christophe Dejours diagnostiziert eine "tiefe Verschlechterung des Miteinanderlebens im Betrieb". Das habe zu einer Sinnkrise geführt. Dejours: "Wenn Arbeit Sinn macht, dann als Qualität von gut erledigten Aufgaben. Nach den Regeln des Metiers."
Bei France Télécom haben sich sämtliche Regeln in den vergangenen zwei Jahrzehnten radikal verändert. Nachdem das staatliche Monopol für Telefon und Post - "PTT" - 1990 in verschiedene Teile zerlegt worden ist, folgte Mitte der 90er-Jahre die Kapitalöffnung, dann der Börsengang und der Konkurrenzkampf gegen zahlreiche andere Télécom-Anbieter. Die Zahl der Beschäftigten ist bei France Télécom seit den 90er-Jahren um ein Drittel reduziert worden. Der frühere Beamtenstatus ist eine aussterbende Gattung geworden.
4,1 Milliarden Gewinn
In den Boutiquen und Callcentern der neuen France Télécom sollen Leute zusammenarbeiten, von denen die Älteren noch Beamtenstatus haben, und die Jüngeren sich mit den verschiedensten Formen von prekären Arbeitsverträgen arrangieren müssen: von befristet bis zu Teilzeit. Dem Unternehmen geht es dabei nicht schlecht. Im vergangenen Jahr erwirtschaftete France Télécom 4,1 Milliarden Euro Gewinn.
Seit dem Mea Culpa von Unternehmenschef Lombard haben sich die Zungen der France-Télécom-Beschäftigten gelöst, meint CGT-Gewerkschafter Alain de Lecolle: "Die Stimmung ist besser geworden." Kürzlich stellten alle Gewerkschaften jedoch gemeinsam fest, die Direktion sei immer noch nicht zu der nötigen Transparenz und Umorganisation der Arbeit bereit.
Von einem Ende der Krise kann derweil gar nicht die Rede sein. Erst am vergangenen Donnerstag nahm sich ein 48-jähriger Ingenieur in Lannion in der Bretagne das Leben. In seinem Abschiedsbrief beschreibt er seine Enttäuschung über eine verpasste Beförderung. Und einen Tag später versuchte eine Kundenberaterin in Dijon sich mit Gas zu vergiften. Nachdem sie am Vortag einen Streit im Betrieb gehabt hatte, rettete ihr ein Kollege das Leben. Er machte sich Sorgen, als sie nicht im Büro auftauchte, und suchte sie in ihrem Haus auf.
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