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Sein Klo, sein Kaffee, sein Teig

■ Kino der Krise (oder der Nähe): „Nénette et Boni“ von Claire Denis

Es ist eng in Claire Denis' Film „Nénette et Boni“. Eng sind die Räume, in denen die Helden des Films leben, irgendwie zugeschnürt scheint auch die Gefühlswelt von Nénette (Alice Houri) und Boni (Grégoire Colin) zu sein: Lachen jedenfalls sieht man sie nie. Oft hat man das Gefühl, die Kamera möchte ihnen auch noch den letzten Atem nehmen, so nah sind die Einstellungen, so sehr wird der Eindruck vermittelt, die Szenen seien mit einer Handkamera aufgenommen worden. Auch vom Schauplatz des Films, von Marseille, bekommt man nicht viel mit, weder der Hafen noch das Meer sind zu sehen, nur die Straße, in der Boni lebt, seine Wohnung, von deren Größe man sich kein rechtes Bild machen kann.

Denis geht es vielmehr um die Dinge, die Bonis Umgebung ausmachen: sein Klo, sein Kaninchen, seine Kaffeemaschine, den Teig, den er knetet und genauso wie Kaninchen und Kaffeemaschine als Ersatzobjekt für seine Liebesphantasien gebraucht.

Boni ist 18 Jahre alt, einen Schulabschluß hat er nicht, er ist Pizzabäcker. Nénette ist seine jüngere Schwester, sie geht in ein Internat und ist schwanger von einem Mann, „der für mich nicht existiert“. Das Kind will sie zur Adoption freigeben. Die Mutter von Nénette und Boni ist tot, der Vater ist in kriminelle Machenschaften verwickelt, sie nennen ihn nur den „Lampenheini“ und wollen nichts mit ihm zu tun haben: Nénette versteckt sich bei Boni bis zur Geburt des Kindes, und der ist alles andere als erbaut darüber.

All dies ahnt man mehr, als daß davon erzählt wird; gesprochen wird in diesem Film nur das Allernötigste. Claire Denis möchte keine stringente Geschichte erzählen, sondern den Alltag von Boni und Nénette anscheinend komplett abbilden, und so montiert sie in den Film auch Szenen, die mit den beiden und ihrer latent inszestuösen Verbindung direkt nichts zu tun haben: eine asiatische Einwanderin in einer Telefonzelle, Kinder, unter deren Bett Hehlerware versteckt wird, einen Telefonkartenfälscher bei der Arbeit.

„Kino der Krise“ oder wahlweise auch „Kino der Nähe“ nennt man das in Frankreich, Filme wie „Haben (oder nicht)“, „Western“, „Marius et Jeanette“ oder eben „Ich kann nicht schlafen“ und „Nénette et Boni“ von Claire Denis. Filme, in denen es nicht um philosophische Spiegelfechtereien oder um Pop geht, sondern um das Leben von Pizzabäckern, Fabrikarbeitern, kleinkriminellen Arbeitslosen usw. Doch immer beinhaltet dieses Kino auch Momente der Schönheit und Poesie, geht es einer Regisseurin wie Denis darum, etwas von „einem Stolz zu vermitteln, ein menschliches Wesen zu sein“, egal, wie deprimierend die Lebensbedingungen sein mögen: Wenn in „Nénette et Boni“ etwa der Bäcker und seine Frau zu „God Only Knows“ von den Beach Boys tanzen oder Boni ganz hingegeben seinen Kopf auf Nénettes Bauch bettet.

So lockert sich ganz allmählich auch Bonis Verhalten gegenüber Nénette, weicht sein Ärger, daß sie in seine Traumwelt – der imaginierten Beziehung zu der Bäckersfrau – eingebrochen ist, einer sehr zurückhaltenden Zuneigung. Und die führt am Ende dann zu einer genauso gewalttätigen wie auch zärtlichen Verantwortung für ihr Kind. Gerrit Bartels

„Nénette et Boni“. Regie: Claire Denis, Frankreich 1996, 103 Min.

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