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„Sehr gut für seine Moral“

Seit bald acht Jahren sitzt Osman Kavala im berüchtigten Gefängnis in Silivri bei Istanbul. Ein Gespräch mit seiner Ehefrau Ayşe Buğra, die für ihn die Goethe-Medaille in Empfang nehmen wird

Nach der Erklärung am 28. Mai 2022, dem neunten Jahrestag der Gezi-Park-Proteste, wurden rote Luftballons mit Forderungen nach Gerechtigkeit, Demokratie und Freiheit steigen gelassen Foto: Serra Akcan/NarPhotos/laif

Interview Jürgen Gottschlich

taz: Frau Professor Buğra, wie ist die Situation für Ihren Mann Osman Kavala, im Moment? Wie geht es ihm nach so vielen Jahren im Gefängnis in Silivri?

Ayşe Buğra: Wie Sie wissen, ist mein Mann seit dem 7. Oktober 2017 im Gefängnis, trotz zweier Entscheidungen des Menschenrechtsgerichtshofes in Straßburg, dass es keinen hinreichenden Grund für eine Inhaftierung gibt und das Gericht deshalb seine sofortige Freilassung fordert. Das Urteil des Menschenrechtsgerichtshofes wurde vom Ministerrat des Europarates unterstützt, der wiederholt die Türkei aufgefordert hat, die Urteile aus Straßburg umzusetzen. Obwohl mein Mann trotzdem immer noch im Gefängnis ist, ist er in einer guten Verfassung.

taz: Wie oft können Sie ihn besuchen?

Buğra: Ich kann ihn nur zweimal im Monat sehen. Ich habe jeden Monat zwei Besuche bei ihm. Einmal hinter einer Glasscheibe, wo wir uns über ein Telefon verständigen müssen, das andere Mal können wir beide unter Bewachung ohne Glasscheibe in einem Raum sein.

taz: Wie ist die mentale Verfassung Ihres Mannes? Kann er lesen und schreiben oder andere Aktivitäten machen? Bekommt er die Bücher, die er lesen will?

Buğra: Es ist natürlich eine schmerzliche Erfahrung, jahrelang im Gefängnis festgehalten zu werden, ohne dass ein Ende abzusehen ist, insbesondere für jemanden, der nicht mehr jung ist. Aber er schafft es, sich nicht demoralisieren zu lassen. Das Wichtigste für ihn ist, dass er lesen kann. Er liest viel, sowohl zeitgenössische Literatur als auch Klassiker. Er liest viele Romane, aber auch Sachbücher. Er hält sich auf dem Laufenden, er ist intellektuell völlig auf der Höhe.

taz: Haben Sie die Hoffnung, dass Ihr Mann das Gefängnis in absehbarer Zeit verlassen kann? Hilft ihm die nationale und internationale Solidarität, die er erfährt?

Foto: Izan Kose/afp

Ayşe Buğra, geboren 1951, ist emeritierte Professorin für politische Ökonomie am Institut für moderne türkische Geschichte der Istanbuler Bosporus-Universität.

Buğra: Die Solidaritätsadressen von Freunden und selbst von vielen Leuten, die wir persönlich gar nicht kennen, helfen ihm sehr. Die öffentliche Unterstützung und die Besuche türkischer Oppositionspolitiker im Gefängnis sind ebenfalls sehr hilfreich. Er ist sehr glücklich darüber, dass dank der Arbeit vieler Leute der von ihm gegründete Verein „Anadolu Kültür“ auch in seiner Abwesenheit sehr gut weiterarbeitet. Außerdem sind natürlich die vielen Auszeichnungen, die er während seiner Zeit im Gefängnis bekommen hat, sehr gut für seine Moral. Er hat für die Aktivitäten von Anadolu Kültür den Europäischen Archäologen-Preis bekommen, für seine Menschenrechtsarbeit den Hrant-Dink-Preis und den Václav-Havel-Preis des Europarates, den Preis für den Dialog der Kulturen vom Deutschen Institut für Auslandsbeziehungen und den Düsseldorfer Tonhalle-Menschenrechtspreis. Alle diese Auszeichnungen geben ihm die Courage, nicht aufzugeben.

taz: Trotz all dieser Auszeichnungen sitzt er weiterhin in Haft. Denken Sie, dass die europäischen Politiker vielleicht mehr tun könnten, damit er freikommt?

Buğra: Es ist etwas enttäuschend, dass der Europarat, zu dem die Türkei ja seit 1949 gehört, nicht effektiver darin ist, die türkische Regierung dazu zu bringen, die Entscheidungen des europäischen Menschenrechtsgerichts umzusetzen. Ich tendiere dazu zu glauben, dass geopolitische Erwägungen dabei eine Rolle spielen. Es ist traurig, dass diese Erwägungen möglicherweise wichtiger sind als die Bedenken über die Verletzung der Menschenrechte.

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