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Sehnsuchtsort ChinaEs ist aus mit der Romantisierung

Was ist, wenn sich das eigene Sehnsuchtsland nicht mehr romantisieren lässt? Unsere Autorin reflektiert über ihre Beziehung zu China.

Geröstete Wassermelonenkerne können westliche Schneidezähne nicht knacken, heißt es Foto: Unsplash

I ch habe ein komisches Gefühl. Ich habe es schon so lange, dass ich manchmal glaube, es sei normal. Vielleicht ein bisschen so, wie wenn man seit Monaten im Ausnahmezustand einer Pandemie lebt, aber man versucht eben weiterzumachen, weil das Leben ja auch weitermacht, zum Glück.

Mein komisches Gefühl ist schwer zu beschreiben, und das ärgert mich, weil ich für die Dinge gern Worte finde. Es fühlt sich an wie Beklemmung, irgendwo über Brust und Magen, manchmal zieht sie hoch bis in den Hals.

Mein komisches Gefühl hat mit dem Land zu tun, in dem Ma geboren wurde und das sie verließ, weil es sich wie ein Kontrollfreak in ihr Leben einmischte, immer wieder. Das war eine Beziehung, die man heute als toxisch beschreiben könnte, und wäre es ein Mensch gewesen, der sie so behandelt hätte wie dieser Staat, dann hätte ich auch gesagt: Du musst ihn verlassen.

Ich und China hingegen haben eine andere Beziehung, sie war schon immer romantisiert. China war der Ort meiner Sommerferien, der Ort, an dem Ayi und ich uns mit nackten Oberschenkeln auf das mit Bambusmatten belegte Ledersofa setzten und uns wortlos unterhielten.

Der Ort, an dem ich später noch einmal sprechen lernte und Antworten auf die Frage „Woher kommst du eigentlich?“ unter den harten Schalen gerösteter Wassermelonenkerne fand, über die mein Jiujiu sagt, westliche Schneidezähne könnten sie nicht knacken. Diesen Ort beschütze ich, mit allem, was ich habe, manchmal rosarot.

Zwischen Wettervorhersage und Katastrophengeilheit

Aber dieser Ort gehört in die Zeit, in der Gerhard Schröder Bundeskanzler war und Hu Jintao Präsident. Eine Zeit, in der es mich wenig kümmerte, was diese Männer taten oder nicht, solange sie eine gute Beziehung pflegten und mein Pass sich wie selbstverständlich mit roten Stempeln füllte. Einreise, Ausreise, youcannottakethatawayfromme.

Heute ist eine andere Zeit, eine Gegenwart, in der mir nicht mehr egal ist, was mächtige Männer tun. Auf Titelseiten schreiben sie von einem neuen Kalten Krieg, der Begriff liegt irgendwo zwischen Wettervorhersage und Katastrophengeilheit, als trüge er keinen Horror in sich.

Sie inszenieren die Köpfe von Trump und Xi wie bei einem Boxkampf, dabei ist es höchstens Schach. Und ich muss an die Millionen Köpfe denken, die mächtige Männer über Bretter schieben. Diese Köpfe üben das Gegenteil von Inszenierung, sie haben ihre Gesichter im Familienchat durch Blumen ersetzt.

Was ich beschützen will, überschneidet sich immer mehr mit einem Staat, den ich nicht beschützen will, weil der Staat sich ausbreitet, vielleicht sogar durch die Schalen von Wassermelonenkernen hindurch, er hat schließlich chinesische Schneidezähne.

Also sage ich nichts, Diagnose Sprachlosigkeit. Ich hoffe auf den nächsten roten Stempel, ich habe bald keine Vorräte mehr, die ich noch romantisieren kann, ja, youcantakethatawayfromme. Vor zehn Jahren habe ich noch einmal sprechen gelernt, jetzt bleiben Worte stecken und ich habe ein komisches Gefühl.

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Lin Hierse
taz-Redakteurin
Lin Hierse ist Redakteurin der wochentaz und Schriftstellerin. Nach ihrem Debüt "Wovon wir träumen" (2022) erschien im August ihr zweiter Roman "Das Verschwinden der Welt" im Piper Verlag. Foto: Amelie Kahn-Ackermann
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4 Kommentare

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  • Ich fühle mich nirgends so wohl wie in China.



    Auch ganz persönlich: Wir nutzen die Corona-Zeit, um unsere Wohnung von Grund auf neu zu renovieren, eine erhebliche Investition, ein Commitment für die Zukunft.



    Nach 30+ Jahren China planen wir für die nächsten 30 Jahre.

    • @Blauer Apfel:

      Schön, wenn Sie ihren Platz auf der Welt gefunden haben.

      Es gab auch Deutsche, die lebten gern in der Sowjetunion zu Zeiten Stalins.

      Alles eine Frage der Romantisierung. (Und das meine ich nicht abwertend. Jeder macht das, auch ich. Das ist sehr menschlich.)

      Das Schöne ist, dass Sie mit dem richtigen Pass privilegiert sind und ausreisen können, wenn es hart wird. Sollte es Probleme geben, setzt sich sogar eine Botschaft für sie ein.

      Ich habe den Eindruck, der Autorin ist bewusst, dass ein Großteil ihrer Verwandten und Bekannten dieses Privileg nicht genießt.

      • @rero:

        Ich habe mich weder 1987 abgesetzt beim Aufruhr, noch dieses Jahr bei COVID.



        Und bei der Botschaft habe ich mich nicht angemeldet, die brauchen nicht zu wissen wo man steckt.



        Wenn man Haus und Familie hat ist Ausreise keine Option, soviel Verantwortungsbewustsein muss sein.

  • Schön , dass die Autorin reflektieren kann. Sie lebt bewusstseinsmäßig in zwei Kulturen jetzt. Das ist auch gut und soll so bleiben. Beide bestimmen ihre Identität.

    Ich selber bin gebürtiger Deutscher und habe lange in Südost-Asien gelebt, gearbeitet und werde nach meinem selbst gewählten vorzeitigen Ruhestand in Zukunft wieder vielmehr Zeit in Asien verbringen.

    Auch für mich gibt es diesen oben beschriebenen Wandel, wie ich VR China erlebe und empfinde. Auch für mich stellte sich der Wandel in den Nuller-Jahren ein. Lokale chin. Freundschaften haben sich aufgelöst. Der Nationalismus, das großkotzige "Uns gehört bald die Welt!" gerade der Jüngeren ist abstoßend. Ältere Chines*innen, die die harten Zeiten der eigenen Eltern während der Kulturrevolution mitbekommen haben, beurteilen das "neue China" wesentlich zurückhaltender.

    Die Kinder von "Wechat&Alibaba" können nur noch hohlen Dauerkonsum, nationalistisches, zum Teil rassistisch unterlegtes einen auf "Dicke-Hose-machen". Social-Credit-Mass-Surveillance? Xi Dada (JinPing) ist Dauerchef der dynastischen Partei. Wir haben Spaß. So what?!

    Ich habe über die Jahre hinweg die liebenswerte Alternative kennen und schätzen gelernt. Die heißt Taiwan, das mittlerweile liberalste Land Ostasiens (noch vor Japan & Südkorea!). Dieses Land wird das nächste Ziel chinesischer Aggression sein. Es verdient unsere Aufmerksamkeit und unsere Solidarität. Fahrt mal hin, es lohnt sich.

    Gilt auch für Redakteure (links-grün-liberaler) Zeitungen übrigens.