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Türkisch-KurdistanSehnsucht nach einem echten Frieden

Die PKK will sich entwaffnen, die türkische Regierung redet mit der pro-kurdischen DEM-Partei. In deren Hochburg Diyarbakır wächst Hoffnung.

Historisches Viertel Sur in Diyarbakır im Mai: Kommt nun der Wandel für die kurdische Bevölkerung? Foto: Ilyas Akengin/afp

Diyarbakır taz | Eine Traube von Menschen hat sich im alten Stadtteil Sur um einen jungen Mann versammelt. Er spielt Gitarre und singt auf Kurdisch, die Leute klatschen, singen mit. Wenige Straßen weiter erklingen Trommeln und die scharfen Töne der Zurna, einer Art Flöte. Einige tanzen Halay – den kurdischen Reihentanz, bei dem man sich an den Fingern fasst und im Takt wiegt.

Pralles Leben in Diyarbakır, und es wird Kurdisch gesprochen. Auf einem Schild im Stadtteil Dağkapı steht geschrieben: „Li Amedê bi xêr hatin – Willkommen in Amed.“ Amed, so nennen viele Kurden die Stadt, die als inoffi­zielle Hauptstadt der kurdischen Region gilt. „So offen war es lange nicht“, sagt eine ältere Passantin.

Es gibt einen Grund für diese Euphorie: Anfang Mai kündigte die Unter­grundorganisation PKK auf ihrem Kongress an, ihre bewaffneten Strukturen aufzugeben und sich politisch neu aufzustellen. Die vollständige Entwaffnung soll bis Oktober erfolgen, rechtzeitig zur neuen Sitzungsperiode des türkischen Parlaments. Parallel dazu zeigen sich auch auf den Straßen Zeichen eines vorsichtigen Aufbruchs. In Dağkapı läuft derzeit eine kurdische Buchmesse, die noch bis zum 1. Juni geöffnet ist. Diese kulturelle Initiative fällt mit dem kurdischen Sprachfest Mitte Mai zusammen und symbolisiert eine neue Phase der Sichtbarkeit und Anerkennung der kurdischen Sprache und Literatur in der Öffentlichkeit.

In einem Land, in dem kurdische Sprachrechte lange Zeit unterdrückt wurden, herrscht auf der Buchmesse vorsichtiger Optimismus. „Wir hatten schon einmal sehr große Hoffnung – 2013 bis 2015. Dann war alles kaputt“, sagt ein Buchhändler.

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Friedensversuche gibt es schon lange

Der jetzige Friedensprozess ist aber nicht der erste. Bereits in den 1990er Jahren gab es Versuche, die kurdische Frage politisch zu lösen – etwa unter Präsident Turgut Özal 1993, später unter den Regierungen von Süleyman Demirel, Necmettin Erbakan oder Mesut Yılmaz. Doch alle Initiativen blieben episodisch, waren geheim oder wurden durch Militärinterventionen abgewürgt.

Schon 2013 bis 2015 galt ein Friedensprozess als „historisch“. Zum kurdischen Neujahrsfest Newroz im Jahr 2013, damals am 21. März, ließ der inhaftierte PKK-Führer Abdullah Öcalan in Diyarbakır eine Botschaft verlesen, in der die PKK zu einem Waffenstillstand aufrief. „Es ist Zeit, dass die Waffen schweigen und die Gedanken sprechen“, hieß es. Kurz darauf begannen erste PKK-Einheiten mit dem Rückzug in den Nordirak. Es war der sichtbarste Versuch einer zivilen Lösung – und wurde von der Halkların Demokratik Partisi (HDP), der Demokratischen Partei der Völker, als politischem Vermittler begleitet.

Vahap Coşkun, Verfassungsrechtler an der Dicle-Universität, erinnert sich: „Was den Prozess von 2013 bis 2015 besonders machte, war die Öffentlichkeit. Erstmals erklärte der Staat offen, dass er mit der PKK verhandelte.“ Damit wurde die Bevölkerung eingebunden, und dies machte den Friedensprozess zu einem historischen. Doch nach den Parlamentswahlen 2015, bei denen die HDP erstmals die Zehn-Prozent-Hürde überwand und der regierenden AKP die absolute Mehrheit kostete, kippte der Prozess.

Als Favorit und Hoffnungsträger der kurdischen Bewegung galt damals der Co-Vorsitzende Selahattin Demirtaş. Doch im November 2016 wurde er zusammen mit mehreren HDP-Abgeordneten verhaftet – unter dem Vorwurf der Mitgliedschaft in einer terroristischen Organisation und der Unterstützung der PKK. Seitdem sitzt er in Untersuchungshaft im Hochsicherheitsgefängnis von Edirne im Nordwesten der Türkei.

Was fordern Kur­d:in­nen heute?

Verfassungsrechtler Coşkun beobachtet, dass die Menschen jetzt voller Hoffnung seien, wenn auch nicht so euphorisch und begeistert wie zwischen 2013 bis 2015. Sie verfolgten die aktuellen Entwicklungen mit vorsichtigem Optimismus, stünden aber dahinter. „Dass der Friedensprozess eher still verläuft, bedeutet nicht, dass ihm die gesellschaftliche Unterstützung fehlt,“ erklärt Coşkun.

Was fordern kurdische Po­li­ti­ke­r:in­nen heute? Coşkun sieht vier zentrale Anliegen, die mit einer möglichen Verfassungsänderung verknüpft sind: die verfassungsrechtliche Anerkennung der kurdischen Identität, das Recht auf muttersprachlichen Unterricht, die Stärkung der kommunalen Selbstverwaltung und eine Staatsbürgerschaft, in der niemand sich „minderwertig“ fühlen müsse.

Diese Punkte könnten im Interesse von Präsident Recep Tayyip Erdoğan liegen, der ebenfalls auf eine neue Verfassung drängt. Er möchte unter anderem das Amt des Präsidenten weiter stärken und langfristig absichern. Kritiker sehen darin den Versuch, seine eigene Macht zu zementieren und sich weitere Amtszeiten zu sichern. Für die Umsetzung bräuchte Erdoğan eine Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament – ohne die Stimmen der pro-kurdischen DEM-Partei ist das kaum realistisch. Türkische Medien berichten, dass es vor wenigen Tagen Gespräche zwischen der DEM-Partei, Erdoğans AKP und der ultranationalistischen MHP gegeben habe. Was dabei konkret besprochen wurde, ist bislang nicht bekannt.

Ein Zeitfenster von drei bis vier Monaten sei nun entscheidend. Würden in dieser Phase keine konkreten Fortschritte sichtbar – etwa durch politische Initiativen oder verfassungsrechtliche Schritte – verliere der Friedensprozess an Glaubwürdigkeit. Auf die Frage, ob eine Einigung zwischen der DEM-Partei und Erdoğan nicht ein gefährlicher Deal sei, vor allem mit Blick auf die Opposition, winkt Coşkun ab. „Nein“, sagt er. „Das wäre ganz normale Politik. Ein Kompromiss in einer bestimmten Frage bedeutet nicht, dass man in allem übereinstimmt.“

„Ich habe meinen Sohn in diesem Kampf verloren“

Emine ist 79 Jahre alt, ihren richtigen Namen möchte sie nicht nennen. Sie bezeichnet sich selbst als eine gebrochene Frau. Ihr ältester Sohn sei in den 1990er Jahren in die Berge gegangen, erzählt sie – und seitdem habe sie ihn nicht wieder gesehen. Sie ist überzeugt, dass er tot ist. Und doch: Auch nach mehr als 30 Jahren horcht sie jedes Mal auf, wenn es an der Tür klopft – für einen kurzen Moment glaubt sie, es könnte er sein.

Nichts wünscht sie sich mehr, als ihn zu umarmen. „Ich habe meinen Sohn in diesem Kampf verloren. Wenn dieser Kampf endlich aufhört, muss keine Mutter mehr leiden“, sagt sie. Ihr bleibe nichts anderes als zu hoffen und zu beten für all die Kinder, die gefallen sind. Für diesen sogenannten Frieden, sagt sie, habe sie bereits genug gezahlt.

Sedat Yurtdaş, ehemaliger Abgeordneter der pro-kurdischen Demokratiepartei (DEP), erlebte die Repressionen der 1990er Jahre am eigenen Leib. 1991 ins Parlament gewählt, verlor er 1994 mit anderen Abgeordneten seine Immunität und wurde verhaftet, weil seine Partei der PKK nahegestanden haben soll. Heute blickt er nachdenklich auf die Geschichte – und auf das, was gerade entsteht. Die Gründung der PKK, ihre Radikalisierung, die verlorenen Jahre und die jetzige Ankündigung zur Auflösung: Für Yurtdaş ist es mehr als nur ein politischer Moment. „Wir sind ein Volk, das sich nach einem großen Frieden sehnt. Jede Familie hat Tote.“

Wenn wir in der Verfassung nicht vorkommen, bleiben wir Bürger zweiter Klasse. Wir brauchen ein Grundgesetz, das nicht nur für eine Mehrheit, sondern für alle geschrieben wird

Sedat Yurtdaş, ehemaliger Abgeordneter der pro-kurdischen Demokratiepartei

Doch Frieden allein reiche nicht, sagt er. Es gehe jetzt darum, diese Entwicklung zu verankern – strukturell, rechtlich, gesellschaftlich. Die zentrale Frage sei, ob der Staat wirklich bereit ist, die kurdische Sprache, Identität und Geschichte als gleichberechtigt anzuerkennen. „Wenn wir in der Verfassung nicht vorkommen, bleiben wir Bürger zweiter Klasse.“ Yurtdaş fordert ein Grundgesetz, das „nicht nur für eine Mehrheit, sondern für alle geschrieben wird“. Und er ist überzeugt: „Es wird sich bald ein Verfassungskomitee bilden – alles andere wäre ein Rückfall.“

Zum ersten Mal ist echter Wandel zum Greifen nah

Ali ist Taxifahrer und sieht das Ganze differenzierter. „Natürlich bin ich für Menschenrechte. Schau doch, wie viele Leute im Gefängnis sitzen. Vor allem Politiker, seit Jahren“, sagt Ali, der seinen vollen Namen nicht veröffentlicht sehen will. Er ist überzeugt, dass es keinen besseren Präsidenten als Erdoğan geben kann. Und wenn es um eine neue Verfassung geht? „Wir reden doch längst überall Kurdisch. Warum muss das denn überhaupt irgendwo drinstehen?“ Für ihn ist die Gleichzeitigkeit von Repression und Öffnung schwer einzuordnen. Und doch sagt auch er: „Der Frieden muss endlich kommen. Wir sind schon genug trauma­tisiert.“

Eines ist sicher: Der Wunsch nach Frieden ist überall spürbar. Zum ersten Mal ist ein echter Wandel zum Greifen nah. Vielleicht ist dies der Beginn einer Geschichte, in der niemand mehr Bürger zweiter Klasse sein muss.

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4 Kommentare

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  • Ob das langfristig gut geht und vor allem ob das politisch gewollt ist ist die wichtige Frage. Es kann genauso wie 2013 und 2015 im vorherigen Friedensprozess scheitern. Besonders misstrauisch macht das die "Initiative" zu diesem Prozess von der MHP kommt. Man fragt sich: Würde die wirklich eine Friedensprozess zustimmen wenn sie sich nicht eigene Vorteile und den Machterhalt davon verspricht? Es wäre schön, wenn die MHP und die Regierung Frieden schließen würden. Aber nach der weiteren Verhaftungswelle in Istanbul ist eher weitere Repression zu erwarten. Wobei die Führung der CHP durch gemäßigte Leute wie Imamoglu und Özel zu begrüßen ist. Allerdings reicht die Aufarbeitung über die "Kurdenfrage" hinaus, wie nicht zuletzt der Artikel zu Dersim und weiteren Problemen und Missständen aus den Zeiten der Republikgründung und Atatürks Wirken zeigt. Und hier ist auch die CHP gefragt sich an der Aufarbeitung von Dersim und an einer Lösung der Kurdenfrage zu beteiligen.

  • Ob das langfristig gut geht, wenn zwei Völker parallel und kulturell nicht gemeinsam leben, frage ich mich schon. Führt das nicht unweigerlich dazu, dass vielleicht in 20 - 30 Jahren die ersten, die von der Geschichte nichts persönlich mitbekommen haben, wieder für einen Aufbruch sind?

  • Däumchendrück!



    Ich weiß, ist zu wenig.

  • Mein 🚖 fahrer drückte das vor paar im türkisch Sektor etwas anders als Replik aus:



    “Der Lange - ja ok. Aber heute kannst du in Ruhe dort Urlaub machen und in den Krankenhäusern wird der Reihe nach behandelt - bahşiş!“

    unterm—-



    Bakschisch im Türkischen wird mit "bahşiş" (bahşiş) übersetzt. Es bezeichnet Trinkgeld, wohltätige Spenden und in einigen Fällen auch Bestechung in islamischen Kulturen. Der Begriff stammt aus dem Persischen (bakhshesh) und ist auch in anderen Regionen des Nahen Ostens und Südasien verbreitet.



    Egal - drücke die Daumen



    & wie anders noch die Autorin



    taz.de/PKK-Klage-g...&s=Miriam%2BMeyer/



    & => dazu Lovando bei aller Skepsis. Newahr



    Normal