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Science Fiction aus LützerathZermalmt, zermahlen und zerkaut

Sehnsucht nach Utopie nach der Räumung von Lützerath? Das hat unsere Autorin heute nicht im Angebot. Sie versucht literarisch, Trauer und Wut zuzulassen.

Abriss des Dorfes Lützerath nach der Räumung am 18. Januar Foto: Henning Kaiser/dpa

D ie Sonne steigt im blassgrauen Dunst über den Horizont. Ein paar Lichtstrahlen verfangen sich im morgendlichen Tau. Es ist das einzige Leuchten in dieser Einöde. Abgehackte Schatten springen über Furchen und Gräben in der aufgeworfenen Erde.

Du kannst die regelmäßigen Formen erkennen, die dem Boden aufgedrückt wurden; Spuren schwerer Kettenfahrzeuge. An einer Stelle ragen die Spitzen einer abgebrochenen Holzfassade aus dem Morast. Zusammengenagelte Bretter mit Stickern und Schriftzügen. Parolen oder Liebeserklärungen. Daneben Glassplitter wie zerbrochene Träume. Sie blitzen kurz auf, wenn du den Blick schweifen lässt, knirschen unter deinen Füßen, als du vorbeigehst.

wochentaz

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Du musst vorsichtig sein, denn der Boden ist trügerisch. Überall könnten sich Löcher auftun oder Nägel deine Sohlen durchstoßen. Im Schlamm weitere Bruchstücke vergangener Zeiten wie Treibgut: ein Topf so groß wie eine Kinderbadewanne, ein verbogener Klappstuhl, ein selbstgenähter Teppich, schon fast wieder eins geworden mit dem Untergrund. Das Gerippe eines Regenschirms, von dem nur noch wenige Fetzen gelber Stoff herabhängen. Und je weiter du gehst, desto mehr erkennst du, dass der Schlick nur eine dünne Schicht ist, die über die Dinge gewalzt wurde.

Du bewegst dich auf einem reichhaltigen Teig, einer Masse wie gemacht für saftiges Gebäck. Doch statt Mandeln und Schokoladenstückchen reichern hier die Überreste der Vergangenheit den Boden an. Dinge menschlichen Lebens, die diesen Ort seit Jahrhunderten zu einer Heimat gemacht haben und die vor der Zeit der Erde zurückgegeben wurden.

Erinnerungen werden untergehoben

Die Natur altert nicht. Sie sieht auch in tausend Jahren noch genauso frisch aus wie heute. Doch menschengemachte Orte haben eine Geschichte, weil es Menschen gibt, die sie mit Leben füllen und durch Erinnerungen zusammenhalten.

Bild: privat
Theresa Hannig

38, ist Science-Fiction-Autorin. In ihrer Kolumne untersucht sie jeden Monat ein Stück Zukunft. Ihr Abschied von Lützerath ist ein fiktionaler Text.

Die Erinnerungen wurden von Baggern und Schaufeln untergehoben, wurden knirschend und klirrend und knisternd zermalmt und zermahlen, zerkaut, wieder ausgespien und umgewälzt. Zu den alten Schätzen unter der Erde wurden neue, neueste gemischt. Nicht achtlos weggeworfen, sondern verloren im Kampf. In dieser Masse finden sich jetzt auch Absperrbänder, Klebestreifen, gelbe Holzkreuze und Barrikaden, Kleidung in allen Größen, Stirnlampen, Schals und Handschuhe voller Blut und Tränen.

Wenn du lauschst, kannst du sie hören, die Stimmen, die aus der Vergangenheit sprechen: Dies war unsere Heimat, dies war unser Land, dies war unsere Zukunft. Und ihnen antwortet das Grollen der Maschinen, das Schnaufen der Bagger, die sich mit Titanzähnen in die Erde verbeißen und ihr Innerstes nach außen kehren. In ihrem Gefolge die Staatsgewalt, als gepanzerte Infanterie ohne Gesicht und Namen. Du hörst ihre blechernen Stimmen durch Megafone dröhnen, hörst das Zischen des Pfeffersprays, das dumpfe Pochen von Schlagstöcken auf gekrümmten Körpern, den Aufprall verspiegelter Visiere auf brechende Nasen. Du hörst Schreie, Verzweiflung, Wut. Du hörst, wie Menschen in Autos gezerrt werden, die Sirenen, die Befehle, deren Echo endlich auch von den Maschinen verschluckt wird.

Das Land wird gefressen. Der Boden wird verbrannt. Alles stürzt an der Abbruchkante ins Nichts. Und doch ist es kein Albtraum, keine Dystopie aus Hollywood. Das hier ist – das hier war Lützerath.

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2 Kommentare

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  • Das letzte Jahr der großen Linde ist uns eingeschrieben, in die Linien unserer Handflächen, in den Gesten, die wir uns zuwerfen, in den Worten, die wir wählen, wenn wir uns Nachrichten zusenden, in den Liedern, die wir aus dem unendlichen Strom der Musik auswählen, in die Art, wie unsere Hände ineinander greifen und unsere Lippen sich im Kuss berühren. Wir erkennen uns in den Blicken, die das Frühlingsgrün des mächtigen Baumes widerspiegeln, an den braunen Flecken auf unseren Hosenbeinen, an dem getrockneten Schlamm auf den Fahrradreifen, an den von Faustschlägen blau gelaufenen Gesichtern.

    Das letzte Jahr der großen Linde ist in unsere Gedanken hineingewoben in allen Farben, die der Lauf des Jahres hervorbringt, und spiegelt sich in der Sprache, die sich bunt gesättigt entfaltet. Jedes Blatt ein Wort, jeder Zweig ein Satz, jeder Ast ein Absatz. Diese große Linde wächst weiter. Jeden Tag, an dem wir davon schreiben, reden, singen, tanzen und träumen.

    zeitraumschleife.eu/?p=858

  • Sehr schwer zu verdauen…