Schwimmen können und das Überleben: Die Untergeher
Droht Deutschland zum Land der Nichtschwimmer zu werden? Dieses Szenario beschäftigt jetzt sogar den Bundestag.
Im bleichen Sommer, wenn die Winde oben / Nur in dem Laub der großen Bäume sausen / Muß man in Flüssen liegen oder Teichen / Wie die Gewächse, worin Hechte hausen. (Bertold Brecht)
Wiese träumt davon, dass ein Volk krault, taucht, gefahrlos im Wasser tollt. Alle sollen schwimmen können. Einhundert Prozent. Niemand soll untergehen. Wiese ist ein Demokrat des Sich-über-Wasser-Haltens, auch ein Idealist, denn die Deutschen können nicht mehr so wie Wiese will. Sie schwimmen schlechter. Wiese kann das belegen. Das Zahlenwerk, das er und Detlev Mohr, der Vizepräsident der Lebensretter, in diesen Tagen präsentieren, ist eindrucksvoll. Mit ihren Zahlen betreiben die beiden einen Alarmismus der guten Tat.
Der schrille Alarmton ist bis nach Berlin gedrungen, bis in den Bundestag. Der Sportausschuss hat Wiese, den Schweren, und Mohr, den Drahtigen, in den Sportausschuss geladen. Die Parlamentarier wollen sich anhören, warum im vergangenen Jahr 61 Kinder ertrunken sind, dreimal so viele wie im Jahr 2014, und auch, warum im letzten Sommer 64 Flüchtlinge in deutschen Gewässern gestorben sind. Das ist eine, gemessen am Bevölkerungsanteil, extrem hohe Zahl von Ertrunkenen.
Die Flüchtlinge überschätzen sich maßlos, sagen die Funktionäre, „aus ihrer Heimat kennen sie halt diesen Badebetrieb wie in Deutschland nicht, und sie kennen auch nicht so etwas wie einen Baggersee. Da kommt plötzlich die nächste Baggerstufe, und weg sind sie.“
Sprung vom Beckenrand
Noch prägnanter hat es Deutschlands Bäderchef, Berthold Schmitt, in einem Interview formuliert: „Da kommen Hünen von Männern und gehen zum Beckenrand. Sie sehen den Beckenboden und denken, sie könnten darin stehen, und springen rein. Zwei Sekunden später springen meine Mitarbeiter hinterher. Es waren nicht alle kurz vorm Ertrinken, aber sie brauchten Hilfe, um an den Beckenrand zu kommen.“
Die Definition: Als „schwimmfähig“ gilt nach Ansicht der Deutschen Lebens-Rettungs-Gesellschaft (DLRG) derjenige, der „den Antrieb für das Fortbewegen erzeugen, den bremsenden Widerstand des Wassers überwinden und gleichzeitig den zum Atmen notwendigen Auftrieb sichern kann“. Mit einem „Seepferdchen“ gilt ein Kind demnach noch nicht als schwimmfähig, dazu müsste es das Schwimmabzeichen in Bronze haben, so die DLRG.
Die Zahlen: Im Vorjahr sind in Deutschland 537 Menschen ertrunken, davon 377 in Flüssen, Seen oder Teichen und 19 im Schwimmbad. Nach Zahlen des Robert Koch-Instituts aus dem Jahr 2016 können 14,5 Prozent der 5- bis 17-jährigen Kinder und Jugendlichen nicht schwimmen. Das hängt sehr stark von der sozialen Herkunft ab. Kinder mit beidseitigem Migrationshintergrund der Eltern weisen eine 2,4-fach erhöhte Chance auf, Nichtschwimmer zu sein.
Die Städte organisieren nun oft Schwimmkurse für Flüchtlinge, aber manchmal erlaubt man sich mit ihnen auch einen derben Spaß wie ein paar Mitglieder des Vereins der Bundespressekonferenz, der den Bundespresseball organisiert. „Neue Schwimmkurse im Mittelmeer für Flüchtlinge, festhalten an Treibgut, tauchen bei hohem Wellengang, springen vom Schlauchbootrand und Atemtechniken bei Nacht und Kälte“; diese Kurse biete angeblich eine „Bundesbade-Agentur“ an, war auf Broschüren zu lesen, die beim Presseball verteilt worden waren.
Eine Satire, sicherlich, aber das Schwimmenkönnen ist nicht nur bei riskanten Transfers übers Mittelmeer von Vorteil, es ist auch eine nicht unwichtige Integrationsleistung. Und zwar eine, die mitunter über Leben oder Tod entscheiden kann. Nichtschwimmer tragen in den hoch entwickelten Ländern Europas ohnehin ein soziales Stigma, sie leiden, wenn man so will, an einem Analphabetismus des Körpers: Die einen schwimmen, die anderen kommen ins Schwimmen.
Aber Schwimmen kann noch mehr sein, viel mehr als nur reine Bewegung und ein motorischer Algorithmus. Für den britischen Dichter Lord Byron war es eine ebenso wichtige Körpererfahrung wie die Sexualität. Schwimmen gehört also auch zum Erwachsenwerden dazu wie die Abnabelung von den Eltern. Wer es nicht kann, fühlt sich zeitlebens unvollkommen, ist nicht selten gezwungen, diesen Makel mit blöden Ausreden zu kaschieren.
Tiefes Wasser meiden
Darunter leiden viele. Wiese und Mohr sagen, dass fast die Hälfte der Deutschen nicht richtig schwimmen kann, das heißt sie sind entweder Nichtschwimmer oder unsichere Schwimmer. Das hat jetzt eine Forsa-Umfrage ergeben. Jeder Zweite sollte also eher nicht ins tiefe Wasser gehen, ist das nicht ein bisschen übertrieben?
„Nein“, sagt Wiese, „die Zahlen stimmen.“ Die Deutschen, ein Volk von Untergehern? 2004 stand es noch ein bisschen besser um die Deutschen, wenn man einer Umfrage von Emnid Glauben schenkt. Da waren es nur 23 Prozent der Bevölkerung, die wie bleierne Enten schwammen. Aber es war jetzt eher die hohe Zahl der schwimmfaulen Kinder, die medial großes Aufsehen erregte. Die Hälfte der 10-jährigen Kinder sind Nichtschwimmer, lautet der traurige Befund, den Wiese und Mohr in ihrer Präsentation vor den Bundestagsabgeordneten mit der dystopischen Frage garnieren: „Droht Deutschland ein Land der Nichtschwimmer zu werden?“
„Es geht zumindest langsam aber stetig bergab“, findet Detlev Mohr, der im Gegensatz zu Wiese noch relativ viel schwimmt und in der Ostsee sogar nach Schiffswracks schnorchelt. „Es muss etwas getan werden, damit der Trend gestoppt wird.“ Das ist schwierig, wenn allein zwischen Juli 2007 und September 2015 sage und schreibe 371 Bäder in Deutschland geschlossen wurden und in den Schwimmbädern, die noch auf haben, der Sanierungsbedarf hoch ist.
Die Schuldfrage
In ländlichen Regionen ist oft nur ein Spaßbad in der Nähe. Dort wird nicht geschwommen, sondern nur geplanscht. Und auch die Schulen schieben die Verantwortung fürs Schwimmenlernen immer mehr an die Eltern ab. Die DLRG-Funktionäre winden sich zwar etwas, aber sie finden schon, dass es sich hier um ein Versagen der deutschen Bildungspolitiker handelt.
Am liebsten würde Alina Lanisch ihre Mutter niemals wiedersehen, zu oft wurde sie verletzt. Ihre Mutter ist manisch-depressiv. In der taz.am wochenende vom 24./25. Juni schreibt sie über die Hilflosigkeit einer Tochter, die nie eine Tochter sein konnte. Außerdem: Ein Ex-SED-Funktionär gibt sich als jordanischer Honorarkonsul aus und lebt viele Jahre in einem Schloss. Und: Neil Harbisson ist der erste anerkannte Cyborg der Welt. Im Gespräch erzählt der Brite, wie der Himmel klingt. Am Kiosk, eKiosk oder im praktischen Wochenendabo.
So ein Versagen will sich Linken-Politiker Jan Korte offenbar nicht vorwerfen lassen, weswegen seine Fraktion am vergangenen Mittwoch kurzfristig eine Aktuelle Stunde „zu den Auswirkungen von Privatisierungen und Schwimmbadschließungen“ im Plenum des Bundestages beantragt hat. Die Sitzung des Sportausschusses muss deswegen unterbrochen werden, weil beides gleichzeitig nicht erlaubt ist: Ausschusssitzung und sportive Parlamentsdebatte. Für Wiese und Mohr, die Schwimmlobbyisten, ist das ein großer Erfolg. Jetzt wird nicht nur im Sportausschuss unter Ausschluss der Öffentlichkeit das Thema „Schwimmfähigkeit“ besprochen, sondern auch auf der großen parlamentarischen Bühne.
Den Regierungsparteien schmeckt diese Aktuelle Stunde nicht. Die paar Hinterbänkler, die sich zum Thema äußern müssen, finden dieses Schwimmgedöns irgendwie zu popelig, zu klein für den großen parlamentarischen Alltag. Josef Rief von der CDU will das Thema erst mal von der wirtschaftsliberalen Seite angehen: „Wir brauchen Wachstum, um diese Probleme zu lösen, wir kommen nicht mit Trockenübungen im Bundestag weiter.“ Er erfreut die Zuhörer mit der bahnbrechenden Erkenntnis, dass „Technik und Kondition für das Schwimmen essentiell“ seien. Oha.
Vereinfachung von Zusammenhängen
Erich Irlstorfer (CSU) wirft Jan Korte eine „gewisse Verteufelung“ vor. Wen oder was er damit genau meint, bleibt unklar. Ja, sogar die Grünen-Politikerin Britta Haßelmann gibt Korte und den Schwimmfreunden von den Linken eine mit: „Das nervt mich, mit welch platter Art das hier aufgemacht wird.“ Ihr geht wohl die parteipolitische Instrumentalisierung gegen den Strich und auch die Vereinfachung von Kausalzusammenhängen.
„Mehr Schwimmbäder führen nicht automatisch zu mehr Schwimmkompetenz“, sagt denn auch Josef Rief, und Jeannine Pflugradt (SPD) rät zu mehr Privatinitiative: „Ja, es war eine nervenaufreibende Sache, meinem Sohn das Schwimmen beizubringen, ich habe so manches graue Haar verloren.“ Aber hat es sich auch gelohnt? Tja, auf diesem kümmerlichen Niveau bewegt sich die Debatte. Wir erfahren immerhin, dass Eckhard Pols von der CDU fünf Kinder hat, denen er allen schon vor der Grundschule das Schwimmen beigebracht hat. Respekt. „Das ist zeitraubend, aber finanziell machbar.“
Fazit: Liebe Bürger, macht halt mal. Wer will, kriegt’s schon irgendwie hin. Oder wie der schwimmende Schriftsteller John von Düffel sagt: „Ein Satz ist fürs Schwimmen immer zutreffend: Die Überwindung mag noch so groß sein, hinterher ist man entweder tot oder man fühlt sich besser.“
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